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Viertes Kapitel.
Das Hotel der Invaliden

Die große Messe war vorüber; die Bewohner des Hotels standen, reihenweise abgeteilt, in ihrer Uniform, in sonntäglicher Haltung, im Hofe aufgestellt. Der Gouverneur endigte soeben die Inspektion, und nach kurzem Trommelschlag wurden die Veteranen aus Reih und Glied entlassen und zerstreuten sich im Hof und Gebäude, bis die Tafel gerichtet sein würde. Viktor, der soeben in den Hof getreten war, spähte vergebens nach seinem Freunde. Er fragte den ersten, der ihm begegnete, nach Sans-Regret. Der Invalide, der durch den Luftdruck einer feindlichen Kanonenkugel die Sprache verloren hatte, zeigte nach einer Seitentür des Hauses und nach einer Treppe, welche innerhalb derselben in den ersten Stock führte. Viktor eilte nach der bezeichneten Stelle. Die Wohnung des Gouverneurs befand sich in jener Etage. Die schönen Vorhänge und die großen Fensterscheiben verrieten das Logis des Kommandierenden; die wohlgeordneten Blumenstöcke vor den Fenstern, in seltenem Glanz prangend, trotz der herbstlichen Jahreszeit, ließen eine zarte, weibliche, im Innern des Hauses waltende Hand vermuten. Darum stutzte Viktor, als er, die Treppe hinauffliegend, Waffengeklirr hörte, und erstaunte noch mehr, als er den Auftritt sah, der sich ihm bei Öffnung der Tür eines Korridors darstellte. Sein Freund, Sans-Regret, in der heroischen Positur eines ausgelernten Fechtmeisters, machte mit Rappieren einen Gang mit dem liebenswürdigsten Mädchen, das Viktor je gesehen hatte. Bei seinem Eintritt schwieg das Geräusch der Waffen freilich; Sans-Regret, seine Position verlassend, schwenkte grüßend sein Rappier; die liebliche Gegnerin stützte sich atemholend und lachend auf das ihrige. Viktor wußte nicht, wie er die Szene zu deuten hatte. Da schritt Sans-Regret auf ihn zu und sagte ihm mit der geläufigen Zungenfertigkeit, die ein Provençale von der Natur erhält: »Ehe ich Sie so recht von Herzen begrüße, Herr Vicomte, erlauben Sie mir, Sie dem Fräulein von Sombreuil vorzustellen. Der Tochter unseres wackeren Gouverneurs mangelt nur das Geschlecht, um der Tapferkeit ihres Vaters und ihrer Brüder würdig zur Seite zu stehen.«

Nachdem er Viktors Namen und Grad dem Mädchen ebenso lakonisch und schnell genannt und Dammartin die gewöhnlichen Begrüßungen, die ein Kavalier einer Dame schuldig ist, gemacht, nahm dieser, wie spielend, das Rappier aus den Händen der schönen Emilie und bemerkte dabei: »In diese schönen Finger gehört nicht das mörderische Eisen, mein Fräulein. Wenn Sie, wie ich nicht zweifle, die zarte Pflegerin jener Blumen sind, die vor Ihren Fenstern blühen, so fasse ich nicht, wie Sie die Neigungen des Friedens und des Krieges in Ihrem weiblichen Gemüt vereinigen können.«

Das Fräulein von Sombreuil entgegnete mit der Bescheidenheit seines Geschlechts, aber mit fester Entschlossenheit, ohne Scherz zu machen: »Ich glaube, Herr Vicomte, daß den Weibern ebensogut Waffen gehören wie dem Manne, wenn die Zeit gebietet, sich gegen Ungeheuer zur Wehr zu stellen, die unser Heiligstes schänden, unsere Lieben erwürgen wollen. Hat man je eine Löwin getadelt, welche die Ihrigen verteidigte mit Blut und Leben? Die Hyder, die sich in unseren Tagen aufbäumt, will unser Glück, unsere Ruhe und den Thron verschlingen, in dessen Schatten wir friedlich schlummerten. Die Zeit der Amazonen dürfte gekommen sein.«

Viktor betrachtete mit steigender Verwunderung das kühne Mädchen, dessen Gesicht in einem Ausdruck strahlte, welcher gar wohl wahrzumachen versprach, was der Mund äußerte. Ihre volle, kräftige Gestalt, nicht entweiht durch den Tand und den lächerlichen Modeflitter jener Zeit, war schön zu nennen und zeichnete sich in dem kurzen, glatt anliegenden Gewand, das sie trug, vorteilhaft aus. Ihre Augen, dunkelblau und groß, bildeten das pikanteste Widerspiel zu den kastanienbraunen Locken, die in reicher Fülle über ihren Hals fielen. Der etwas aufgeworfene Mund, ein Zeuge des Muts und der Entschlossenheit, schien dennoch ebensowohl geeignet, einen Schwur der Liebe auszusprechen, wie zu befehlen.

Leider dauerte das Vergnügen, welches Viktor in dem Anschauen des herrlichen Mädchens empfand, nicht lange. Emilie erklärte ihre Lehrstunde geschlossen und entfernte sich mit einer flüchtigen Verbeugung. Sans-Regret nahm hierauf seine Rappiere unter den linken Arm, umschlang mit dem rechten den jungen Garde du Corps und führte ihn über den Hof hinüber nach dem Bibliothekzimmer, wo sie gewöhnlich ihre Unterredungen hielten.

»Ich lasse Sie einen Augenblick allein,« sagte Sans-Regret, »um die Waffen wegzulegen und mich herauszuputzen, wie es sich wohl schickt, wenn man einen lieben Gast hat. Mein Sergeant Leblanc, der noch immer das Privilegium eines eigenen Kabinetts hat, wird mir's abtreten, damit ich darin mit Ihnen das Mittagsmahl eines alten Soldaten teilen kann. Ich habe schon die Erlaubnis, von der allgemeinen Tafel wegbleiben zu dürfen, und es wird mir eine Freude sein, Ihnen gegenüber Ihre Gesundheit trinken zu können.«

Er kam wirklich nach ein paar Minuten zurück, um seinen adeligen Freund nach dem Kabinett abzuholen. Er hatte das kurze, enge Kamisol, worin er seine Fechtstunden gab, mit dem langen Rock vertauscht, die Schöße desselben zurückgeschlagen, den Hut aufgesetzt und ein grünes Band in ein Knopfloch befestigt, auf welches er niederschaute, wie ein Ordensritter so stolz. »Sie kennen dieses Band,« sagte er zu Viktor, »es fiel aus der Brieftasche Washingtons, als ich einst unfern von ihm stand; ich hob es auf und bewahre es als eine Reliquie jenes denkwürdigen Krieges und jenes Helden, der wohl verdient hätte, ein Franzose zu sein. Der Herr Gouverneur hat nichts dawider, wenn ich es trage und nennt mich manchmal bei guter Laune seinen Ritter Cincinnatus. Um die Kameraden kümmere ich mich nicht. Die Royalisten unter ihnen glauben, ich trage das Band zu Ehren des Grafen von Artois, dessen Farbe grün ist; die Liberalen wissen schon, wie ich denke. – Lassen Sie uns niedersitzen. Es ist gut, daß Sie nicht gestern kamen. Sie hätten mich etwas verstört gefunden. Mein guter Beautemps, mein kleines Kind von dreiunddreißig Jahren, ist am verwichenen Donnerstag gestorben. Wir haben ihn gestern begraben und über seiner Ruhestätte drei Salven gegeben, deren Knall gewiß von einem guten Engel bis nach Amerika getragen wurde, wo die beiden Arme des Unglücklichen schon längst eingescharrt liegen.«

Bei diesen Worten zitterte die Stimme des guten Sans-Regret; eine Träne schlich unter seinen schwarzen Wimpern hervor, und er trocknete sie langsam mit dem blaugestreiften Schnupftuch, das er aus seiner Tasche zog und eine Weile vor seine Stirne hielt, als wollte er sich den Schweiß abwischen. Hierauf fuhr er, dem Vicomte die Hand reichend, fort: »Sehen Sie, Herr Vicomte, ich habe jetzt nur noch ein Band, das mich mit der Welt zusammenhält. Das sind Sie, Sohn meines guten Herrn Dammartin. Wenn es wahr ist, daß alles drunter und drüber gehen wird, daß die vornehmen Leute drunten liegen und die geringen oben stehen müssen, so findet sich vielleicht noch Gelegenheit, daß ich, wenn nicht der Welt, doch Ihnen nützlich werden darf. Seitdem der liebe Beautemps heimgegangen, bin ich der Jüngste hier im Hause und schäme mich doch manchmal vor mir selbst, daß ich des Königs Gnadenbrot esse, wie es im Grunde nur einem Sechziger oder Siebenziger zusteht. Was fehlt mir den eigentlich! Hab' ich nicht meine geraden Glieder? Die Sehnen meines Arms sind noch so stark wie zu der Zeit, als ich den armen Lefebre zum lieben Gott spedierte. Es war just ein Oktobertag wie heute. Wir waren auf dem Strand, unfern von Marseille. Von der Bastide des Hafenintendanten konnte man den ganzen Spektakel mit ansehen, aber wir kümmerten uns darum nicht, denn wir waren junge Leute, unbesonnen und auf unser Blut so begierig, daß wir uns schon einmal in der Stadt angefallen hatten, beim Herausgehen aus dem Schauspiel, bei stockfinsterer Nacht, unter einem Reverbere, neben welchem Hunderte von Menschen vorbeigingen und sogar ein Muttergottesbild stand. Also, wie gesagt, wir machten uns nichts daraus: Lefebre stieß her, ich gab den Stoß zurück, er wollte mich desarmieren, aber ich war geschickter als er ... eins, zwei, drei! im Sande lag er und mit ihm mein Degen, der ihm mitten durch die Lunge gegangen war. Ich sehe ihn manchmal noch vor mir, wie er so hilflos dahingestreckt war, gleichsam angebohrt an den Strand, und wie er noch mit sterbender Hand seinen Degen hob, mir stumm drohte und, Rache in den Zügen, verschied. Es hat mich beruhigt, daß er voll Wut starb. Wär' er's nicht gewesen, hätte ich's sein müssen. Er hätte mir kein Quartier gegeben, und lieber seh ich meinen Feind feindlich sterben, als seinem Mörder vergeben.«

»Laßt doch die Geschichte, Sans-Regret,« versetzte Viktor, »so oft Ihr sie erzählt, greift Euch die Erinnerung an. Sprecht von anderem.«

Sans-Regret strich sich über seine Haare, welche, schwarz und dick, in die militärische Frisur gezwängt waren, aber trotz Kammstich und Locken sich immer wieder kurz kräuselten, wie die dichten, schwarzen Augenbrauen, welche über die brennenden Augen verwirrt hernieder hingen. Dann nahm Sans-Regret eine Prise aus der hölzernen Dose, die er in seiner Westentasche trug und fuhr fort: »Nach Ihrem Befehle, Herr Offizier. Was wollt' ich aber sagen? Daß mein Arm noch die alte Kraft hat? Richtig, das war's. Was tu' ich also im Invalidenhause? Der gute Herzog, der mich hereinbrachte, hat sich geflüchtet: der König wird bald nichts mehr für uns tun können, und aufrichtig gesagt, ich liebe den König nicht genug, um länger an seinem Tische müßig zu gehen.«

»Vergissest du aber,« sagte Viktor mit zartem Mitleiden, »daß deine Blessuren dir hin und wieder den freien Gebrauch deines Kopfes rauben? Sieh' nur in den Spiegel, die ungeheure Narbe, die quer über deine Stirne geht, gibt dir Ansprüche auf Versorgung. Du bist ja nur durch ein Wunder dem Tod entgangen, der dich unter den Barbaren bedrohte.«

Sans-Regret lächelte bitter und entgegnete: »Ach, daß ich nicht gerettet worden wäre! Ich hätte dann meinen Dammartin nicht sterben gesehen. Was wohl der Hund macht, der mich skalpieren wollte? Ein roter Kerl von gräßlichen Gesichtszügen, triefend von Blut. Außer dem Burschen, der vor ein paar Monaten den Kopf des Bastillegouverneurs in Paris herumschleppte, hab' ich nichts Greulicheres gesehen als jenen Wilden. Er hatte vielleicht ein Dutzend Kopfhäute an seinem Gürtel hängen, und mein reicher Schopf führte ihn in Versuchung. Er mußte mir ihn jedoch lassen, und wenn er auch vielleicht statt desselben ein bißchen von meinem Verstand genommen hat, so tut das nichts zur Sache. Als ich den Lefebre totstach, begab ich mich ja aller Hoffnung, jemals einen eigenen Verstand zu haben und zu behaupten. Ich habe mich zur Maschine gemacht, habe mich links und rechts gedreht nach dem guten Vergnügen meines Korporals und könnte dieses noch füglich jetzt tun, ohne einen starken Kopf zu haben. Ach, mein armer Beautemps war doch noch eine schlechtere Maschine als ich! Ich habe ihn gefüttert, wie man einen Kanarienvogel ätzt. Ich habe ihm seine Pfeife gestopft, ich habe ihm seine Prise gegeben, ich habe ihn ins Bett gelegt und aus dem Bett gehoben. Trotz seiner körperlichen Hilflosigkeit war sein Geist doch nicht besser bestellt. Ich fühle doch noch: ich werde begeistert, ich liebe doch noch etwas auf der Welt: den jungen Dammartin und die Freiheit.«

»Die Freiheit?« fragte Viktor lächelnd, »die Freiheit, in diesem Hotel, wo ihr konsigniert seid wie im Arrest?«

Sans-Regret schüttelte den Kopf und entgegnete lächelnd: »Der Gouverneur kann unsern Geist nicht konsignieren. Hinter meinen Büchern in der Bibliothek bin ich frei wie ein Vogel. Die Vergangenheit ist mein mit all ihren Großtaten und die Zukunft mit all ihren Hoffnungen. Ich wittere in der Ferne Begebenheiten, die keine gemeinen genannt zu werden verdienen. Je schlechter unsere Gegenwart war, je bedeutender muß die Folge werden. Und auch wir, wir armen Invaliden, werden frei sein. Das Volk hat uns in den Bastilletagen bereits entwaffnet; es wird uns bald erwürgen oder freilassen müssen, weil es uns nicht wird ernähren wollen.«

»Was wolltest du beginnen, wenn deine Weissagung einträfe und euer Hotel aufgehoben würde?«

»Ich würde versuchen, ob meine Hand dem allgemeinen Wohl dienen könnte. Dieses Band im Knopfloch, würde ich zu denjenigen Landsleuten, die mich anhören wollten, reden und sie für die Rechte der Menschheit in den Kampf führen.«

»Welche Pläne! Sans-Regret, du Ritter der Freiheit, bäte dich, daß der Gouverneur nicht deine Anschläge erfährt.«

Sans-Regret runzelte die Stirn und erwiderte: »Nur dieses Wort nicht! Ich kann das Wort ›Ritter‹ nicht leiden. Es erinnert uns täglich, wie wir mit der Bestialität verwandt sind. Aller Adel kommt ja nur vom Pferde. Wer einst ein Pferd hatte, durfte befehlen, war frei und erhielt Wappen und Lehen. Selbst die ältesten Völker haben ihren Adel nach dem Roß genannt, und wir tun es zur Schande der Vernunft heute noch. Jeder Ritter sollte eigentlich eine Schabracke über den Rücken hängen statt eines Mantels. Es wird auch nicht besser werden in Frankreich, als bis völlig ausgeführt ist, was die Nationalversammlung in der Nacht des vierten August angefangen hat.«

»Denkst du denn nicht daran,« fragte Viktor erstaunt, »daß auch ich aus einem Rittergeschlecht stamme, und daß ich die Ehre habe, den König zu bewachen, der von Rechts wegen der erste Ritter im Königreich ist?«

»Lassen Sie das gut sein,« versetzte Sans-Regret spöttisch, »der König kann vielleicht Sporen machen, aber keine mit Ehren tragen. Was Sie betrifft, Herr Vicomte, so weiß ich wohl, daß seit Du Guesclins Zeiten Ihr Geschlecht ritterlich geblüht hat; die Zeiten sind aber vorüber, und es wird Ihnen leichter werden als vielen anderen, Ihren Namen aufzugeben, weil Sie gerade nur den Titel haben. Die Adelszeit ließ Ihre Vorfahren und Sie in Dürftigkeit; die Freiheit wird Ihnen mehr Segen bringen.«

»Es ist wahrlich lustig,« bemerkte Viktor, verlegen lächelnd, »daß ein revolutionärer Invalide es wagt, einem adeligen Garde du Corps des Königs solche Dinge zu sagen.«

»Der revolutionäre Invalide liebt den Garde du Corps, obgleich der Körper, den er bewacht, ihm gleichgültig ist,« antwortete Sans-Regret kaltblütig. »Beiläufig gesagt indessen, es wird Ihnen zuträglich sein, sich in Ihrer Uniform nicht sehen zu lassen. Stehen doch wir, in unseren langen Kitteln, beinahe im Verdacht, es mit dem Hofe gegen das Volk zu halten; um wieviel mehr Sie und Ihre Kameraden? Das Volk ist wütend, seit Ihr Korps seine Kokarde mit Füßen getreten hat, und es ist häufig die Rede davon, daß mit dem Massakre der Leibwache der Haupttumult beginnen werde. Gehen Sie nicht nach Versailles zurück. Geben Sie eine Sache auf, die schon jetzt verloren ist. Die Dinge wollen ihren Umschwung haben, und wenn das Mühlrad einmal in Gang gekommen ist, wer will es denn aufhalten, ehe es seinen Kreislauf vollendet hat? Die Verfechter des Thrones desertieren ja einer nach dem andern. Nun, beim Himmel! wer soll denn für den König etwas wagen, wenn die es nicht tun, die von ihm leben? Wer soll den Wolf hindern, Schaf und Schäfer wegzutragen, wenn die Hunde diesen feig im Stiche lassen?«

Viktor erhob sich unmutig von seinem Stuhl und sagte befehlend: »Schweige, Sans-Regret, deine letzten Worte sagen mir gerade, was ich zu tun habe. Ich habe keine Ursache, den Hof besonders zu lieben, aber ein braver Edelmann hält auf seinem Posten aus. Keine Silbe also, keinen Antrag wie der vorige war. Woher weißt du jedoch, was in den Köpfen des Volkes vorgeht? Wer unterrichtet dich denn in dem abgeschlossenen Invalidenhaus?«

Sans-Regret lachte. Dann erhob er sich, nahm eine würdige Haltung an und erwiderte mit geheimnisvollem Ton: »Ich hätte schon meine Rolle spielen können, Herr Vicomte. Der Metzger Legendre, der Lieferant der Gebrüder Lameth, ist mein Bekannter; eine rohe Seele, mit vielem Mutterwitz begabt. Er ist, wie es heißt, ein Hauptagent des Herzogs von Orleans, ein Werkzeug des Grafen Mirabeau. Er hat mich dem letzteren vorgeschlagen als denjenigen, der das Invalidenhotel zu revolutionieren vermöchte. Ich sollte mit den Lameths zusammenkommen; ich habe mich geweigert. Die Herren handeln undankbar und verräterisch an dem König, und wenn ich gleich die Freiheit dem Könige vorziehe, so will ich doch kein Verräter sein.«

»Hast du nicht dem Gouverneur dieses alles mitgeteilt? Du hast, es unterlassend, eine Pflicht verletzt.«

»Nicht doch. Der Hof ist schläfrig und hat auf wichtigere Entdeckungen nichts Entscheidendes verfügt. Wozu sich also unnütz in Gefahr bringen? Die Begebenheiten werden reden, wenn es Zeit ist. Nur versäumen Sie den Augenblick nicht, Herr Vicomte, das Volk ist ein widersinnig launiges Tier. Wer ihm nicht zur rechten Zeit die Hand reicht, wird von ihm verschlungen.«

»Schweige. Nie werde ich dem Volk meine Dienste anbieten, als wenn ich demselben eine Gunst zu danken haben würde. Da ich nun zu dem der Nation, wie sie es nennen, verhaßtesten Korps gehöre, so weiß ich wahrlich nicht, wie sich die Verhältnisse wenden müßten, um mich zu nötigen, dem Volk dankbar zu sein.«

In diesem Augenblick wurde großes Getümmel in dem Hof des Invalidenhauses hörbar. Von den Bewohnern des Hotels wurden die Gänge, die Fenster, der Hofraum angefüllt. Die Gittertore des letzteren waren offen und ein ziemlicher Haufe Volks drängte sich durch dieselben herein. An der Spitze der Bürger war der sogenannte Präsident des Distrikts, ein reicher Weinhändler von stupidem Äußeren, dem aber ein paar Agenten der populären Faktion zur Seite standen, um ihn mit Worten und Blicken zu leiten.

»Wo ist der Gouverneur?« fragte der Anführer, und im selbigen Augenblick trat der Herr von Sombreuil, ein Mann von siebenzig Jahren, mit weißen Haaren und soldatischem Anstande, furchtlos und besonnen in das Getümmel.

»Was wollen Sie?« fragte Sombreuil.

Der Weinhändler stutzte ein wenig, aber auf eine Gebärde seiner Begleiter hin entgegnete er keck und unverschämt: »Wir sind von dem Maire abgeschickt, um in dem Hotel nach Waffen zu suchen. Es bereiten sich große Ereignisse vor. Das Volk darf nicht unbewaffnet seinem Schicksal entgegengehen. Unsere Distrikte diesseits der Seine sind zu schlecht mit Munition versehen, im Vergleich mit den jenseitigen Distrikten. Ich fordere Sie also auf, im Namen der Nation und des Gesetzes, meinen Untersuchungen keinen Widerstand in den Weg zu legen und dem Volk die Türen des Hauses zu öffnen.«

Sombreuil sah den Sprecher finster an und erwiderte mit verachtender Strenge: »Es scheint, als ob Sie die Szenen vom vierzehnten Juli erneuern wollten. Sie kommen umsonst. Man hat uns an jenem Tage einige Tausend Flinten weggenommen, die unser einziger Vorrat waren. Sogar die Wachen an unserem Hause sind unbewaffnet, weil es den Parisern beliebt hat, Mißtrauen in die Gesinnungen ehrlicher Veteranen zu setzen. Ersparen Sie also sich und mir jede fruchtlose Mühe.«

Das Volk murrte, mehrere Stimmen riefen: »Keine Ausflüchte! Wenn das Volk befiehlt, müssen die Soldaten gehorchen!«

Sombreuil fuhr krampfhaft mit der Linken an den Degen, faßte sich jedoch alsobald und sagte mit kaltblütiger Verachtung: »Wir sind seit ein paar Monaten der verschiedenartigsten Mißhandlungen so gewohnt worden, daß ich mich auch noch dieser unterziehen will, wenn man so gefällig sein mag, mir Baillys Order vorzuweisen.«

Stille erfolgte; die Leute hatten kein solches Papier vorzuweisen. Ein vierschrötiger Mann mit aufgestreiften Hemdärmeln sprang aus dem Haufen hervor und schrie: »Wozu eine Order? Bailly ist ein tugendhafter Mann, dessen Wort allein genügt. Braucht man etwa viele Umstände zu machen mit Leuten, die das Brot der Nation essen? Mit einem Invalidengouverneur, der es mit den Österreichern hält und nicht einmal die Kokarde trägt, welche die Nation gewählt hat?«

Sombreuil maß den Sprecher mit ernstem, kaltem Blick und drehte sich mit den Worten: »Noch einmal, ohne Befehl öffne ich das Hotel nicht,« von dem Volk ab, um in sein Haus hineinzugehen.

Der Kerl, der zuletzt gesprochen hatte, sprang auf den Gouverneur los und holte mit einem Knüppel zu einem Streich gegen das Haupt des alten Mannes aus. Niemand hätte ihn zurückgehalten, wenn nicht Viktor, von Mitleid und Ehrgefühl getrieben, den Schlag aufgefangen hätte. Mit zürnender Stimme befahl er dem Haufen, umzukehren und den Hof zu verlassen. Die Menge stand jedoch unbeweglich, und sowohl aus den Reihen der Invaliden wie aus denen des Volkes schallten die Worte: »Wer ist der Mensch? Was stellt er vor? Mit welchem Rechte mischt er sich hier ein?« Auch Sombreuil, der den jungen Mann noch nicht gesehen, schien, obgleich ihm dankend, dieselben Fragen zu wiederholen.

Die Aufwallung Viktors war größer als seine Klugheit. Er entgegnete mit der ungeheucheltsten Freimütigkeit: »Schon als Mensch war ich schuldig, den Mörderstreich aufzuhalten, der von der Hand eines tierischen Ungeheuers gegen einen Menschen geführt wurde; aber ich bin auch Edelmann wie Herr von Sombreuil, Offizier wie er und Garde du Corps Seiner Majestät des Königs, unter dessen treueste Diener der Herr Gouverneur mit Recht gezählt wird.«

Der Gouverneur reichte bei diesen Worten dem jungen Manne seine Hand, und die Offiziere der Invaliden, die sich bis jetzt in Entfernung gehalten hatten, traten an ihn heran.

Unter dem Volke jedoch war ein Wutschrei: »Ein Garde du Corps! Ein Bandit des Königs! Einer von denen, die unsere Kokarde mit Füßen getreten haben! Die Paris stürmen wollen! Er ist ein Spion! Hängt ihn auf! Nieder mit ihm!«

Der Weinhändler ging gravitätisch, im Bewußtsein seiner Präsidentenwürde auf Viktor zu und sagte: »Was machen Sie hier? Was ist Ihr Geschäft in Paris? Wie kommen Sie in dieses Hotel, wenn es nicht eine Konspiration gilt? Haben Sie Papiere bei sich?«

»Die Leibwache des Königs hat keinem Bürger von ihrem Tun Rechenschaft abzulegen,« versetzte Viktor trotzig und stieß mit voller Gewalt einige zurück, die ihn ergreifen und in den Haufen ziehen wollten.

»Das wollen wir ihn lehren! An die Laterne mit ihm!« schrie der grobe Kerl von vorhin.

»So nehmt doch nur Vernunft an, Legendre,« mischte sich Sans-Regret in das Gespräch, indem er den Metzger freundschaftlich bei der Brust packte und etwas zur Seite schob. »Der Herr erzeigt mir die Ehre, mich manchmal zu besuchen, und man kann gegen seine jetzige Hitze nicht schelten, weil es doch nicht schön war, daß Ihr gegen unsern Herrn Gouverneur eine so metzgerhafte Finte ausführen wolltet. Ich rate Euch, daß Ihr ihn gehen laßt.«

»Ich rate dir, deine Hände von mir weg zu tun,« rief Legendre dazwischen, »wenn ich nicht wüßte, daß du ein Narr bist, so würde ich dich an die Laterne hängen lassen, weil du die Livree des Artois trägst. Es lebe die Nation! Es lebe Lafayette! Verflucht seien alle Gardes du Corps!«

Das Volk jubelte die Worte nach, und wie durch den Drang einer Welle wurde Viktor mitten unter die brüllenden Schreier gerissen. Sans-Regret war aber bei ihm. Der lange, hagere Mensch, in seinem langen Rocke und seinen engen Gamaschen, ließ von dem wohlgenährten Fleischer nicht ab und rief ihm ins Ohr: »Ihr seid wahrhaftig betrunken, Gevatter. Der Vater dieses jungen Mannes war Lafayettes Kriegsgefährte, und wenn ich nicht irre, so ist er Mirabeaus leibhaftiger Vetter!« Er winkte dem wütenden Viktor zu, diese Aussage zu bestätigen.

»Wenn das wäre!« meinte Legendre. »Vivat Mirabeau! Ehre seinen Verwandten, wenn sie auch Hunde von Aristokraten sind! Aber das muß verifiziert werden, Herr Präsident!«

»Ja freilich, das muß verifiziert werden!« antwortete der Weinhändler phlegmatisch.

»Ich will euch einen teuren Eid darauf ablegen!« sagte Sans-Regret mit einer unbeschreiblichen Keckheit.

»Nein, nein! keinen Eid! Der Hof und die Pfaffen haben uns immer mit Eiden angeführt!« johlte das Volk.

Legendre klopfte mit pfiffiger Miene dem Invaliden auf die Achsel und sagte: »Was ein verbranntes Marseillergesicht schwatzt und beteuert, ist nicht ein Quentchen Speck wert. Ihr seid Narren von Natur, und deinen Verstand hat zudem der Menschenfresser in Amerika völlig aufgespeist. Wir haben gültigere Zeugen in der Nähe. Mirabeau ist in Paris und sitzt wenige Schritte von hier bei einem splendiden Mittagessen, das ihm seine Freundin gibt und wozu ich meinen besten Ochsen geliefert habe. Kommt mit uns dahin! Der Deputierte soll selbst entscheiden, ob der Knecht des Königs ihm angehört; aber ich will mich in hundert Stücke zerhauen lassen, daß der Garde du Corps nicht davonkommt, wenn deine Aussage erlogen ist, Sans-Regret.«

Viktor, der sich in Verwünschungen gegen den Pöbel ergoß, sah, vom Schwalle fortgerissen, nach Sombreuil und seinem Invalidenstab zurück und bemerke mit einigem Schauder, daß während des Geschreis und Tobens der Volkshaufen sich wieder zum Gitter des Hotels hinausgewälzt und der Gouverneur dasselbe hatte eiligst verschließen lassen. Es war nichts anderes zu tun, als der stürmischen Volksbewegung zu folgen und sich, wenngleich knirschend, an das Haus der Dame Arroy führen zu lassen, wo Mirabeau zu finden sein sollte. Mehrere aus dem Pöbel drehten sich nach dem Invalidenhause um und fragten lärmend den Präsidenten des Distrikts, wie es denn nun komme, daß sie keine Waffen erhalten hätten und was nun gegen die verschlossenen Pforten des Hauses zu beginnen sei.

Der Weinhändler zuckte verlegen die Achseln, aber Legendre erwiderte an seiner Statt: »Gebt euch zufrieden. Wir kommen morgen wieder. Die Invaliden laufen uns nicht davon, wohl möchte es aber der Aristokrat hier tun, wenn wir ihm nicht schleunigst den Prozeß machen. Da sind wir unter den Fenstern der Dame Arroy. Preis und Ehre den Volksrepräsentanten! Schreit, ihr Lumpenhunde, daß euch die Kehlen bersten: Hoch lebe Mirabeau! Lameth lebe, und hoch das Haus Orleans!«


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