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Siebzehntes Kapitel.
Bei den Schlachtopfern der Schreckensherrschaft

Obschon der Auflauf des Pöbels sich durch alle Gassen verbreitet hatte, obschon die Aufmerksamkeit der ganzen ungeheuren Stadt auf den Streit hin gerichtet worden, der im Konvent wütete, so hatte sich doch eine Menge Volks, wie gewöhnlich, vor den Pforten der Conciergerie eingefunden, um die Abfahrt der zum Tode Verurteilten mitanzusehen.

Dem Gitter gegenüber lehnte an einer Mauer, gleichsam in sich selbst versunken und verloren, der unglückliche Sans-Regret, mit entstellten Zügen und konvulsivisch erschütterten Gliedern. Alle seine Bemühungen, in den Kerker zu dringen, um seinen Freund vor der Todesstunde noch zu sehen, waren vergebens gewesen. Umsonst hatte er seine Bitten verschwendet, umsonst Geld geboten. Man hatte eine Karte mit Fouquiers Unterschrift von ihm verlangt, aber Fouquier saß ja bei Tisch und ließ dem Flehenden sagen, er werde seinen Freund früh genug auf dem Karren zu sehen bekommen. So war ihm denn nun nichts anderes übrig geblieben, als diesen Augenblick zu erwarten; den schrecklichsten, den, den er vor allen fürchtete.

Mit einer Seelenangst, als ob ihn selbst das Beil bedrohe, harrte er der unheilbringenden Stunde; da bemerkte er einen Kommissionär, der just mit traurigem Gesicht aus dem Gefängnis trat, näherte sich demselben unvermerkt und redete ihn plötzlich also an: »Guten Tag. Thomas. Wie geht dir's? Kennst du mich nicht mehr! Hast manchen Sou von mir erhalten, als du im Invalidenhotel den Auslaufer machtest.«

»Alle Wetter, Bürger, freilich kenn' ich dich! Du bist der lustige Sans-Regret; hast dich aber verteufelt verändert.«

»Ei, die Zeiten haben sich auch geändert. Wo gehst du hm? Beliebt dir ein Gläschen zu trinken?«

»Behüte. Heut ist allenthalben der Teufel in Paris los; wer wird da ans Zechen denken? Ich habe ein trauriges Geschäft vor mir. Da soll ich einen Brief bestellen, den ein Mann, welcher in einer halben Stunde guillotioniert werden soll, als Lebewohl an seine Frau schrieb. Mir blutet das Herz, denn ich war stets mitleidig wie einer. Doch darf man sich's heutzutage nicht merken lassen.«

»Freilich nicht. Wenn es aber wahr ist, was die Leute sagen, nämlich, daß man den Robespierre festgenommen, so sollten ja doch die Hinrichtungen aufhören.«

»Bewahre. Man hört ja, daß Robespierre wieder frei ist. Da bleibt alles beim Alten. Seht, dort kommen bereits die Karren und die Huissiers mit den Todesurteilen und die Gendarmerie samt den Henkern.«

Sans-Regrets Zähne schlugen fürchterlich klappernd zusammen und er raunte dem guten Thomas stammelnd in das Ohr, daß auch er einen Verwandten unter den Unglücklichen zähle, die man jetzt zum Tod abhole, und daß ihm nichts schmerzlicher sei, als nicht wenigstens einige Augenblicke vorher seinen Vetter zum letzten Male umarmen zu können.

Dem Kommissionär trat eine Träne ins Auge und er flüsterte: »Ich weiß, wie das ist. Vor zwei Monaten haben sie mir einen Onkel guillotiniert und es ging mir beinahe ebenso wie dir. Seit ich jedoch für dieses Trauerhaus die Kommissionen machen darf, habe ich meinen freien Eintritt, wann ich nur will. Du sollst heute davon profitieren. Im Grunde kommt's nicht darauf an, ob dieser Brief eine Stunde früher oder später bestellt werde. Er dürfte der Empfängerin immer noch zu früh kommen. Aber du hast keine Zeit zu verlieren. Sind die Büttel einmal da, so geht es geschwind. Folge mir daher ohne langes Besinnen; wir sind jetzt alle Verurteilten in der unteren Halle beisammen, wo ihnen die Haare abgeschnitten und die Hände gebunden werden. Da es immer sehr unordentlich zugeht, so trifft sich schon eine Minute, die dir erlaubt, mit deinem Vetter das letzte Lebewohl zu wechseln.«

Somit zog er den Invaliden mit sich fort, gerade hinein in die dunkeln Schluchten des Gefängnisses, an mehreren Schildwachen und Schließern vorüber, denen er seinen Begleiter als einen Gehilfen vorstellte, der für einen Augenblick hier zu tun habe.

Mit wankenden Knien betrat Sans-Regret an der Hand seines Begleiters das dunkle Gewölbe.

Die dem Tode geweihte Schar war schon darin versammelt; einzeln entweder oder in Gruppen von zwei oder drei Personen saßen und lehnten sie umher. Fassung sprach aus allen ihren Zügen; sogar der sechzehnjährige Knabe schien zum mutigsten Mann gereift. Alle diese Schlachtopfer waren nur mit sich selbst beschäftigt und achteten kaum der vielen Leute, die zwischen ihnen hindurchgingen, gleichgültig, als ob sie sich zu einer gewöhnlichen Tagsverrichtung vorbereiteten.

Hier verließ der Kommissionär den Invaliden und bedeutete ihm, er könne nun warten, bis der ganze Zug sich in Marsch setze und in dessen Gefolge dem Kerker den Rücken kehren.

Noch hatte Sans-Regret den Freund nicht gefunden. Sein Gesicht wurde nicht unter den übrigen sichtbar, und schon trat die Horde der Gerichtsdiener, Gendarmen und Henker herein und Viktor war nicht zugegen.

Unmöglich ist es, die Empfindungen zu beschreiben, die sich in des Invaliden Brust und Gehirn kreuzten; aber noch unmöglicher, sein Entsetzen zu schildern, als er, dem eintretenden Grabgeleite ausweichend, hinter einem Pfeiler des Gewölbes, in einer dunkeln Ecke, seinen Viktor erblickte, der, auf dem Boden ausgestreckt, ruhig schlummerte, um sich vorzubereiten auf den ewigen Schlaf. Ein gräßliches Gewicht fiel hier auf Sans-Regrets Seele. Sollte er den jungen Mann erwecken, um ihn an sein Herz zu drücken? Dann mußte er aber auch so grausam sein, selbst einen Herold seines Todes zu machen. Dann mußte er ihm auch sagen: »Sieh'! hier bin ich, um dir Lebewohl zu sagen, und dort steht schon dein Schafott!«

Er vermochte es nicht über sich, den Freund emporzurütteln; im Gegenteil: unwillkürlich öffnete seine Hand den Reif um einen Strohbund, der an dem Pfeiler lehnte und ließ sanft die Halme wie eine schützende Decke über den fest Schlafenden herniedergleiten.

Soeben hörte er, daß ein Huissier den namentlichen Aufruf der Verurteilten machte; hörte das Klirren. der Scheren, womit die Henker augenblicklich die Toilette eines jeden machten, der sich auf seines Namens Ruf hin gemeldet.

Wie ein Blitz schnitt der Name »Dammartin« durch seinen Busen. – Niemand antwortete.

Mit eingehaltenem Atem stand Sans-Regret vor seinem schlafenden Freund, und an seiner Seele ging die Möglichkeit vorüber, daß in dem heutigen Konventskampf, dessen Sturmglocken wieder an sein Ohr schlugen, dennoch die bessere Partei siegen, daß der heutige Bluttag wohl der letzte sein könne, daß ein Aufschub von wenig Stunden vielleicht ein Leben zu retten vermöchte, dessen Schutz er sich von ganzer Seele geweiht.

Da drehte sich der Huissier, der ein paar Sekunden lang vergebens auf das »Hier«. des aufgerufenen Dammartin gewartet hatte, phlegmatisch gegen den Invaliden hin und fragte: »Nun, wird's bald?«

Und Sans-Regret, ohne sich genau dessen bewußt zu sein, was er tat, trat schweigend vor den Huissier hin, und Samsons Helfershelfer ergriffen ihn, zogen ihn auf die Bank, wo im Nu seine Haare fielen und seine Hände gebunden waren. Das Verlesen ging aber ohne weitern Aufenthalt seinen Gang fort.

Als der Invalide so dasaß, wie durch einen Zauber in den Kreis des Todes hineingezogen, ohne daß man in der gräßlichen Sorglosigkeit jener Zeit den Mißgriff bemerkt, ohne daß einer der Mitverurteilten noch Anteil genug am Leben genommen hätte, um die Gesichter seiner Nachbarn noch einmal anzusehen und sich vielleicht zu erinnern, daß der Offizier fehle, der am Morgen eine Art von Zwischenspiel vor dem Tribunal veranlaßt hatte, – da zog sich sein Herz krampfhaft zusammen; – er dachte jetzt erst an Suzon und sein Kind; – zugleich verzog sich sein Mund zu einem halb wahnsinnigen Lächeln, indem er an die tolle und so fürchterliche Maskerade dachte, die ihn heute auf das Schafott zerrte.

Mit trockenem Auge, aber ängstlich hinschielend nach dem Winkel, wo derjenige schlief, für den er sich opferte, ließ Sans-Regret alle Erscheinungen dieser furchtbaren Stunde an sich vorübergehen. »Erwache nur nicht!« flüsterte sein Herz dem Freunde zu, während im nächsten Augenblick es wieder leise pochte: »Wenn er erwachte, wärest du frei und gehörtest wieder deinen Lieben!«

So groß ist die Anhänglichkeit des Menschen an das Dasein, daß auch der mutigste Mann in solcher Lage ähnlicher Gedanken sich nicht erwehren mag; so groß aber auch wirkt die Macht der Idee in der Menschenbrust, daß er das Teuerste kaltblütig verläßt, um einer edelmütigen Wallung zu genügen, und sich etwa noch vollends, wie heute Sans-Regret, damit tröstet, daß noch neununddreißig ebenso Unschuldige sein Geschick teilen, den Tod, das Werk eines Augenblicks.

Einer der Gehilfen des Scharfrichters, der bei den Todeskandidaten die Runde machte, um sich zu versichern, ob ihre Hände auch fest und gut gebunden, sagte leise zu Sans-Regret, indem er dieselbe Pflicht bei ihm zu erfüllen schien: »Beruhige dich, mein Alter. Du wirst heute schwerlich sterben, denn ich meine, die Leute in der Vorstadt werden das ganze Schauspiel zu Wasser machen. Wie man hört, haben sie den Robespierre außer dem Gesetz erklärt, und in mehreren Gegenden der Stadt soll es schon zum Handgemenge gekommen sein. Ich bin auch Soldat gewesen, mein Alter, und will dir gern, im Fall es einen Spektakel setzt, aushelfen; mußt mir aber dafür auch einen Zufluchtsort gegen die Steinwürfe des Volks verschaffen wie gegen die Arrestbefehle der neuen Machthaber, weil es doch einmal herkömmlich ist, daß die Werkzeuge für den Urheber leiden.«

Während dieser in voller Hast geflüsterten Worte hatte der Büttel seinen Klienten am Strick zu dem Ort gezogen, wo alle Verurteilte in Reih und Glied standen, um noch einmal überzählt und dann auf die Karren geladen zu werden. Zwei Schritte davon lag der schlummernde Viktor, und in Todesangst klopften Sans-Regrets Pulse. Noch konnte alles verraten werden. Aber Samson eilte. Ohne sich ferner um einen Namen zu bekümmern, zählte er die ihm verfallenen vierzig Köpfe ab und gab den Befehl zum Aufbruch.

Mit fünf anderen Unglücksgefährten bestieg der Invalide einen von den am Gitter haltenden Wagen. Das zuschauende Volk war heute ganz still. Das wütende Gebrüll: »Es lebe die Nation, nieder mit den Aristokraten!« wurde heute nur von einigen Gassenjungen und bezahlten Agenten gehört. Die Wagen rollten langsam über das Pflaster hin, über Brücken und durch Straßen, wo sich hin und wieder Gruppen von Soldaten und Bürgern jagten, alle Läden geschlossen standen und in ungewöhnlicher Aufregung das Volk durcheinanderströmte.

Endlich geriet der Zug in die wildflutende Menge hinein. Vom Rathaus her donnerte Lärm und Geschrei; jenseits der Seine wurden die Lärmkanonen gelöst. Je näher der Grabeszug der Vorstadt St. Antoine rückte, je mehr der Hoffnung mußte in den Herzen der armen Verurteilten aufsteigen, da man ihnen allenthalben mit den Beweisen des unzweideutigsten Mitleidens entgegenkam.

Scharen von Weibern standen auf Türschwellen und an den Fenstern, rangen die Hände und schrien: »Ach, die armen Leute! Verdammt seien die Schurken, die sie zum Tode schicken! Mut, Mut, ihr Unglücklichen! Wenn der Himmel mit euch ist, so werdet ihr heute nicht sterben!«

Aus den Häusern wie auf den Straßen schimpften und fluchten die Männer mit wilden Drohungen: »Zum Teufel mit der Schreckensherrschaft dieser Blutmenschen! Französische Bürger dulden das nicht länger!«

Und schon flogen hin und wieder Steine auf die Eskorte und der Troß von mitlaufenden Buben höhnte die Gendarmen, wie er sonst die Verurteilten zu höhnen Pflegte.

Zweimal schon hatte der Zug halten müssen, weil drohende Volkshaufen ihm den Weg versperrten. Mit der Hilfe von benachbarten Wachtposten war die Straße wieder geöffnet worden; aber in der Mitte der Vorstadt schien die Katastrophe vor sich gehen zu wollen. Ein entsetzlicher Schwall von Pöbel, untermischt von einer bedeutenden Anzahl ehrsamer Bürger, stürzte sich wie eine Lawine in den Zug, mit solcher Gewalt, daß die Reihe der Karren durchbrochen wurde und die Eskorte gesprengt.

Sans-Regrets Wagen fuhr in der Mitte und stand plötzlich, einer Insel zu vergleichen, in dem wilden Ozean des Volks.

Die Gendarmen wurden vereinzelt hinweggerissen; starke Hände hielten ihre Pferde am Zügel auf oder schlugen die Reiter, die sich unbesonnen wehrten, zu Boden. Die Gerichtsdiener wurden mißhandelt; die Henker flüchteten sich vor den Steinwürfen unter die Karre, und mit dem tausendstimmigen Ruf: »Freiheit den Gefangenen! Tod den Tyrannen!« schlugen die Bürger die Schergen in die Flucht.

Die Verurteilten, die nicht wußten, wie ihnen geschah, blieben regungslos auf ihren Bänken sitzen; so auch Sans-Regret. Da erhielt er einen empfindlichen Schlag auf die Schulter und gewahrte, sich schnell umdrehend, den Büttel, der vor kurzem so freundlich mit ihm gesprochen und nun, auf einem Rad des Karrens stehend, mit einem scharfen Messer des Invaliden Bande zerschnitt.

»Wirf dich doch zum Teufel von dem Wagen herunter,« sagte der Mensch halb zornig, »willst auch du den glücklichen Augenblick verpassen, wie deine übrigen Kameraden? Geschwind oder du bist verloren. Dort kommt der Kommandant Henriot mit seinen Reitern und gewiß hat das Volk für heute alles verspielt.«

Schon hatte sich Sans-Regret vom Karren geworfen, fast unbemerkt von seinen Leidensgefährten, und das Glück wollte, daß er in die Arme zweier Leute fiel, die genügend Verstand hatten, seine gefährliche Lage zu begreifen, und zugleich Barmherzigkeit genug, auf der Stelle zu helfen.

Der eine, ein Weber, warf, dem Flüchtigen seine graue Jacke um, der andere, ein Metzger, drückte ihm seine Mütze auf den Kopf und seine Schürze in den Arm. Darauf riß er ihn so schnell als möglich in das allerdickste Gedränge, zwanzig oder dreißig Schritt weit, gab ihm einen Schlag auf die Schulter und rief: »Komm' gut nach Hause, Landsmann! Schau dich nicht lang um und laufe, was du kannst.«

Wirklich war es auch die höchste Zeit gewesen. Robespierres Faktion und der Gemeinderat unter Maximilians Befehlen hatten wieder für einen Augenblick die Oberhand.

Der Kommandant der Nationalgarden, Henriot, Robespierres Kreatur, raste betrunken und fluchend mit seinem Stab und einer Schwadron berittener Nationalmiliz regellos durch alle Straßen und kam unglücklicherweise zu dem Tumult in der Vorstadt. Er und seine Leute, betrunken gleich ihm, zerstreuten mit Säbelhieben das Volk, trieben die Schergen und Gendarmen wieder zusammen und befahlen mit den gräßlichsten Flüchen, daß man den Weg zum Richtplatz im Galopp zurücklege und ohne Säumen die Exekution vollziehe.

So starben sie auch, die armen Verurteilten, weil sie nicht Mut genug und nicht genug Geschick gehabt, die vorüberrollende Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. So starben sie am Vorabend eines Tages, der den fürchterlichsten Schlund des Schreckenssystems schließen sollte.


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