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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Vincennes

Beinahe vierzehn Tage waren verstrichen. Es war ein trüber Märzmorgen. Babet trat soeben aus dem Gemach ihrer Gebieterin, und ihr trauriges Antlitz erheiterte sich, als sie im Vorzimmer den Sergeanten Sans-Regret gewahrte, welcher ihr freundlich grüßend zunickte und mit seinen kaum am Kamin aufgetauten Finger die Dose hinhielt, um eine Prise zu nehmen. Babet verweigerte seufzend und sagte: »Danke schönstens, Herr Sans-Regret. Es kommt mir ohnedies das Wasser in die Augen, ohne daß ich des Tabaks bedürfte. Ach, Herr Sergeant, wir haben seit fast zwei Wochen das Unmögliche durchgemacht. Seitdem wir nicht die Ehre hatten, Sie bei uns zu sehen, ist Madame Dammartin fast täglich am Verscheiden gewesen.«

Sans-Regret erwiderte mit bekümmerter Miene: »Ich dachte mir's wohl. Die paar Worte, die mir der Herr Bataillonschef zu sagen die Freundschaft hatte, haben mich wie ein Blitz getroffen. Ich habe mich gescheut, hierher zu kommen. Sie wissen, meine Gute, daß Madame mich nicht wohl leiden kann; ich hatte außerdem noch meine Gründe, mich fern von hier zu halten. Aber heute konnte ich doch nicht die Qual der Ungewißheit mehr ertragen und bin gekommen, um zu wissen, wie es eigentlich hier steht.«

»Ach, mein lieber Herr Sans-Regret!« seufzte Babet wehmütig, »was hab' ich alles erleben müssen, und noch ist keine Hoffnung vorhanden, daß das große Unglück, welches uns betraf, wieder gutgemacht werden könnte. Ach, wie ich an jenem Abend nach Haus kam und das liebe, liebe Kind fort war und ich mir sagen mußte, daß alles durch meine Schuld so geschehen, – ich meinte, ich müsse mich gerade in die Seine stürzen. Es ist kein Zweifel, daß die Frau von St. Alban die arme kleine Susanne gestohlen hat. Ich jammerte also und schrie, und Louise schrie und weinte mit mir, bis der Herr heimkam und die ganze Bescherung erfuhr. Sehen Sie, der Herr Bataillonschef ist ein Mann wie ein Lamm, aber demungeachtet wurde er da so wütend, daß er nach seiner Pistole griff und mich unfehlbar erschossen hätte, wenn nicht Madame dazugekommen und ihm in den Arm gefallen wäre. Da hatte es nun freilich mit dem Erschießen ein Ende, aber der Jammer der guten Frau ging erst los, da sie erfuhr, warum der Herr Bataillonschef mich hatte umbringen wollen. Zuerst fiel sie nach ganzer Länge auf den Boden in eine tiefe Ohnmacht; dann erwachte sie wie eine Verzweifelte und schlug und wütete dergestalt um sich herum, daß man ihr die Hände festbinden mußte. Sie stieß alle von sich, die sich ihr näherten, und vor allem ihren Mann, den sie anklagte, alle Schuld zu tragen. Dann brach sie wieder in die herzzerreißendsten Klagen aus und schrie mit gellender Stimme nach ihrem Kind. Der Herr machte sich in finsterer Nacht auf und streifte, weiß Gott wo, überall herum, ohne das Kind, noch die Entführerin zu finden. Endlich – am Morgen erzählte mir der Bediente, daß der Herr erfahren habe, daß die nichtswürdige St. Alban aller Wahrscheinlichkeit nach durch die Barriere D'Enfer nach Orleans gereist sei, und daß er ihr nun nachsetzen wolle. Bis aber nun der Herr seinen Urlaub vom Konsul erhielt und alles in Bereitschaft war, verging beinahe der ganze Vormittag. Endlich – nach einer langen Unterredung, die unser Herr mit seiner Frau hatte, als sie gerade etwas ruhiger war, in deren Folge ich auch befragt wurde wegen des Pakets, das der Gendarm an jenem verhängnisvollen Abend gebracht hatte, reiste Herr Dammartin ab. Madame hatte sehr viel in jener Unterredung geweint, und ihr Schluchzen war bis zu mir in das Vorzimmer gedrungen. Nach der Abreise des Herrn wurde sie aufs neue fieberkrank und phantasierte beinahe ununterbrochen fort bis auf den gestrigen Tag. Gestern wurde sie mit einem Male ruhiger und lag still wie ein Marmorbild. Während der Nacht hat sich, wie es scheint, ihre Krankheit gebrochen, und sie ist jetzt gerade wie ein Engel anzuschauen. Sie ist so mild, so geduldig, wie sie noch nie gewesen, und ich habe es gewagt, ihr einen Brief vorzulesen, den Herr Dammartin mir zu schreiben so gütig war und welchen ich gestern erhielt. Er meldete mir darin, daß er, obgleich viel zu spät kommend, dennoch die Spur unseres lieben Kindes aufgefunden, aber dieselbe unweit der spanischen Grenze verloren. Er wisse ferner keinen Rat, um so weniger, als sein Urlaub heute ablaufe und er daher um jeden Preis zurück sein müsse.«

»Großer Gott! Alles denn vergebens?« murmelte Sans-Regret erschüttert vor sich hin.

Die Wärterin fuhr fort: »Die arme Frau hörte die Nachricht mit einer bewundernswürdigen Fassung an, faltete die Hände und sagte wie eine verklärte Heilige zu mir: ›Nun wohl, Babet. Gott hat mir das liebe Kind gegeben, und er hat es auch nun wieder genommen. Ich murre nicht gegen seine Fügungen!‹ – Als ich nun anfing zu weinen, weil mir wieder heiß einfiel, daß meine strafbare Nachlässigkeit im Dienst die Ursache dieses Elends gewesen, so tröstete sie mich obendrein, statt mir Vorwürfe zu machen, indem sie sprach: ›Quäle dich nicht, gute Babet. Der Himmel hat sich deiner nur als eines Werkzeugs bedient, um mich wegen meiner verletzten Gattenpflicht zu bestrafen. O, erinnere dich, wenn du jemals dich verheiratest, daß die Pflichten eines Weibes gegen die Ihrigen nicht verletzt werden können, ohne die himmlische Gerechtigkeit gegen die Verbrecherin zu bewaffnen. Ich Unglückliche, ich wollte mein Haus, meinen Gatten verlassen und gab eben dadurch dem Verhängnis die Waffen in die Hände! Mein armes Kind! Mein unglücklicher, verkannter Gatte!‹ – Ich begreife zwar von allen diesen Dingen nichts, wie auch nicht, was von der Flucht oder besser, von dem rätselhaften Verschwinden der St. Alban zu halten sei. die alle ihre Effekten zurückließ und dabei nicht eine einzige Zeile, welche ihre schnelle Abreise hätte erklären können; aber mir wird ewig diese Begebenheit ein Stachel in der Seele sein, und ich werde gewiß nicht in diesem Hause bleiben können, worin meine unverzeihliche Versäumnis so viel Unheil anrichtete.«

Sans-Regret erwiderte düster: »Gute Babet, es gibt Leute, die noch strafbarer sind als Sie. Sie haben indessen recht, wenn Sie glauben, daß Ihres Bleibens hier nicht ist. Wird einem doch die Welt sogar zu eng, wenn man sich darin schwere Vorwürfe zu machen hat. Ich weiß nun, wie die Sachen stehen und habe ferner hier nichts zu tun. Grüßen Sie den Herrn Bataillonschef von mir und sagen Sie ihm, daß er von mir hören werde. Bitten Sie zugleich in meinem Namen seine Gemahlin um Verzeihung für alles Herzeleid, welches ich ihr, ohne es zu wissen, angetan haben dürfte. Wissentlich ist dieses nie geschehen, so schlimm sie auch von mir denken mag. Nicht wahr, Sie versprechen mir das?«

Sans-Regrets schwarze Augen hefteten sich so stier und dringend auf Babets Gesicht, – seine Hand drückte die ihrige so krampfhaft, daß dem armen Mädchen etwas angst wurde und es mit Besorgnis fragte: »Sie sind ja so ernsthaft, Herr Sergeant, gilt es denn einen Abschied? Sind Sie zum Marschieren beordert? Gibt es vielleicht Krieg mit den Engländern?«

Der Sergeant lächelte mit einer Art von verzweifeltem Humor und versetzte: »Den Krieg mit den englischen Hunden haben wir schon lange, meine Gute, doch bin ich nicht auf die platten Boote kommandiert. Ich habe im Gegenteil nicht übel Lust, meine Kampagnen zu beschließen und meine Retraite zu nehmen.«

Bei diesen Worten grüßte er sie noch einmal so würdevoll als möglich und ging auf die Gasse hinunter.

Seinen Gedanken nachhängend, schritt Sans-Regret gegen die Kais zu und flüsterte, seine Rechnung mit sich abschließend, in sich hinein: »Du weißt nun recht eigentlich, Alter, daß du zum Unglück geboren bist und, nicht zufrieden, selbst ein armer Teufel zu sein, trägst du das Unglück auf Leute über, die dich gar nichts angehen. Arme Adele, bin ich denn dazu bestimmt, dir alles zu entreißen, was dein Leben mit Reizen schmücken konnte? Zuerst habe ich deinen Vater erstochen, und endlich trage ich die größte Schuld, daß dein Kind verloren ging. Ich hätte das abscheuliche Weib in jener Nacht aufhalten sollen. Aber mußte ich nicht glauben, daß Viktor, mich auf jenem Posten wissend, eine List gebraucht, um sich seines gefährlichen Gastes zu entledigen? Ich dachte, ihm zu dienen. Warum zeigte mir nicht ein guter Geist meines Freundes Kind in den Armen der Unseligen? Dann wäre das Blendwerk zerrissen, dann wäre alles gut gewesen. Unbegreiflicher Zufall, du regierst die Welt. Der Paß, den sich Adele zu verschaffen wußte, um ihrem Gatten und seiner eingebildeten Untreue zu entfliehen, wurde ihr Scheidebrief von dem Kind, das sie über alles liebte. Und ich mußte wieder um die Wege sein, ich, dessen Aufgabe es ist, immerdar die Unglückliche wider Willen zu verfolgen! Ich begreife nur zu sehr den Haß, den Adele wie einen dunkeln Instinkt gegen mich empfindet und sehe ein, daß es an der Zeit ist, an diese Kette von üblen Vorherbestimmungen das letzte Glied zu fügen. Ich will meinen Abschied von dieser Welt nehmen. Was soll ich auch ferner in diesem elenden Biwak?

Sans Regret machte eine Bewegung mit den Schultern, als ob er sich den Tornister zurecht richte, klopfte mit einer Art von frohem Mut auf den Säbel an seiner Seite und richtete seinen Pfad nach dem Platz des Chatelet, um einen Waffenschmied, seinen Bekannten, zu besuchen und eine Pistole bei ihm zu kaufen. Schon hatte er den Laden des Büchsenmachers im Gesicht, als aus einer benachbarten Haustür einige wohlbekannte Stimmen ihm zuriefen. Er blickte hin und gewahrte zwei Unteroffiziere von seinem Bataillon, die, an dem Kontortisch eines Weinschenken stehend, ihr Gläschen tranken.

»Herein, du alter Troupier!« schrie der eine dem Sergeanten lustig zu, und her andere schwenkte einladend die Flasche.

Sans-Regret trat in die Kneipe, wünschte den Kameraden einen guten Tag und fragte nach ihrem Begehr.

»Sieh' doch, Lefeu,« sprach der ältere von den Unteroffizieren zu dem jüngeren, »sieh' doch, wie der Alte so unwissend und geizig tut! Aber: Achtung, Sergeant! Du trägst schon seit ein paar Wochen die Galons auf deinem Arm und es ist dir noch nicht eingefallen, sie zu begießen, wie es einem ordentlichen Kerl geziemt. Heute wäre die beste Gelegenheit dazu. Wir haben einen kleinen Schmaus in Vincennes, weil der alte André, der Inspektor des Hangars, seinen Geburtstag feiert. Du kennst ihn ja auch, alter Lapin, und wirst dich hoffentlich nicht weigern, den Marsch mit anzutreten. Das abgerechnet, was der Geburtstagsmann selbst hergeben wird, ist das Übrige deine Sache. Du mußt ordentlich aufgehen lassen. Sacrebleu, ein Grenadier muß sich sehen lassen; es ist nicht einmal ein Gemeiner so geizig, daß er den Sou von der Grenade auf die Seite legte. Das gehört alles brüderlich der Kesselkameradschaft.«

Sans-Regret stieß lächelnd mit dem schnurrbärtigen Gaillard an und versetzte nach einigem Besinnen: »Ich dachte zwar heute nicht daran, nach Vincennes zu gehen, obschon ich einen großen Spaziergang zu machen beabsichtigte. Den kann ich aber auch von jenem Schlosse antreten. Es soll nicht gesagt sein, daß ich mich geizig gegen euch benehme, wie ein betrügerischer Etapier oder ein hungriger Gamaschenmacher: ich will meinen Einstand bezahlen, daß ihr euch freuen sollt und mein Andenken bei euch in Wert erhalten, wenn ich auch vielleicht in kurzem die Fahnen verlasse.«

»Pah, pah!« lachten die beiden Unteroffiziere. »Ein Braver wie du wird nicht ans Desertieren denken, und zur Retraite ist noch nicht die Zeit da. Der Teufel soll uns holen, wenn du in zwanzig Jahren schon marschfertig für das Himmelreich bist.«

Sans-Regret zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf und entgegnete: »Sehr verbunden für diese gute Meinung, doch glaube ich nicht, daß ich allzu viel Chevrons mehr auf den Ärmel meiner Uniform setzen lassen werde. Vorderhand wollen wir lustig sein, unsere Gewehre auf gut grenadiermäßig über die Schulter hängen, den Säbel in die Faust nehmen und zum Sturm abgehen – nach Vincennes.«

Kaum hatte der Sergeant sein »Vorwärts« kommandiert, so setzten sich die drei Waffengefährten in Bewegung und hielten sich in der Richtung zur Barriere du Trone. Das Gespräch wurde, wie man leicht denken kann, sehr lebhaft, besonders weil hie und da noch eingekehrt wurde, um sich auf dem weiten Weg zu restaurieren. Am heftigsten wurde das Wortgefecht in der Nähe des Bastillenplatzes, wo man kaum mehr eine Spur des ehemaligen Staatsgefängnisses bemerken konnte. Neue Häuser waren hingebaut, jedes Überbleibsel der Zwingfeste vernichtet worden, aber das Volk kannte noch diese Stelle, und die Erinnerungen der vorbeigehenden Soldaten flammten siegreich empor.

Gaillards Augen glänzten; er streckte den Arm verwegen in die Luft und rief: »Hier bin ich erst getauft worden! Hier ward ich erst ein Mensch. Das war meine erste Waffentat, als ich, damals noch ein gemeiner Schilderhausoffizier unter den französischen Garden, eine Kanone gegen das verdammte Schloß führen half. Meiner Treu', solch' ein Tag kehrt nimmer wieder. Solch' eine Begeisterung habe ich nie gesehen. Wie es da einschlug von allen Seiten, wie endlich das Volk den Sieg errang! Da hat unser Kommandant auch das erste Pulver gerochen.«

»Ja, der General Hullin ist ein wackerer Mann,« versetzte Sans-Regret, behaglich seinen Schnurrbart streichend. »Er verdient es recht wohl, die Grenadiere der Konsulargarde zu kommandieren, das erste Truppenkorps der ganzen Welt.«

»So wie Bonaparte der erste Mann von der ganzen Welt,« setzte mit vielem Feuer Lefeu, der jüngste unter den Dreien, hinzu.

Gaillard nickte teilnehmend mit dem Kopf, aber Sans-Regret schwieg trotzig still.

Gaillard sprach darauf weiter: »Gesetzt, es wäre dem auch nicht so und der Konsul nicht mehr wert als eine verschossene Patrone, so wollten wir's doch den Hunden von Engländern in die Zähne hinein beweisen, daß er der größte Mann auf Erden ist, der größte Held aller Jahrhunderte. – Wann geht es denn nur einmal los mit der Expedition über den Kanal?«

»Das weiß der Himmel und der Konsul,« sagte Sans-Regret verdrießlich.

Lefeu versetzte mit geheimnisvoller Miene: »Der Konsul tut nichts aus sich allein. Man sagt, daß von Zeit zu Zeit ein rätselhaftes Wesen ihn besuche und ihm vorschreibe, was er zu beginnen habe. Glaubt mir, er hat seinen Stern, seinen Glücksstern, und er verläßt sich nur auf diesen. Er wird's noch weit bringen; es ist einmal seiner Frau prophezeit worden, daß sie einen großen Herrn heiraten würde. – Nun« – setzte der Sprecher mit leichtfertigem Lächeln hinzu – »der General Beauharnais war's nicht und der Direktor Barras ...«

»Schweig', Lästermaul!« unterbrach ihn Gaillard heftig, obwohl nicht ohne Laune, »schweig' oder ich gebe dir die Savatte. Auf dieses liebenswürdige Weib laß ich nichts kommen. Wie artig sie beständig mit den Soldaten ist, die im Schloß auf die Wache ziehen! Und in Malmaison hat sie einmal über eine halbe Stunde sich mit mir unterhalten, wie ich hinausgegangen war, um meine Gratifikation zu reklamieren.«

Die drei Waffengenossen wurden, als sie just an der Barriere ankamen, durch die Dazwischenkunft eines Chirurgen von ihrem Korps unterbrochen, der sich zu ihnen gesellte, und zu ihnen sprach:

»Etwas Neues, meine Freunde. Die Vorsehung macht doch alle Pläne unserer Feinde zuschanden. Georges und seine vierzig Mitschuldigen an dem Komplott sitzen schon in der Haft wie ihr wißt. Nun, ich wette darauf, daß man heute wieder einen großen Verbrecher erwischt hat. Es ist euch bekannt, daß ich von dem Kapitän Ragot wohlgelitten bin und er mir dann und wann sein Pferd vertraut, um mich und dasselbe spazieren zu reiten. So auch heute; ich reite von der Gendarmeriekaserne aus, gelange im kleinen Trott an die Barriere Pantin und sehe da um den Wachtposten eine ziemliche Menge Menschen versammelt. Die Leute waren alle beschäftigt, eine Kutsche anzustarren, die vor dem Zollhaus hielt, von einigen Gendarmen umgeben und fest zugemacht. Ich kenne einen der Kommis von der Douane und lasse mich mit ihm in ein Gespräch ein, worin ich erfahre, daß diese Kutsche schon seit zehn Uhr morgens – also fünf volle Stunden, meine Herren – denn wir hatten dazumal beinahe drei Uhr – an dem Tor halte, ohne daß man wisse, was damit vorzunehmen sei. Ich versuchte, mich auf eine glimpfliche Weise dem Wagen zu nähern, trotzte den Abmahnungen der Gendarmerie, schaute in die Kutsche, als gerade ein darin sitzender Offizier von der Marnechaussee den Kopf herausstreckte, und erblickte einen jungen Mann im Fond, der nicht zum besten aufgelegt zu sein schien und ein langes, blasses Gesicht präsentierte. Mehr zu bemerken war mir leider nicht vergönnt; ich ritt daher von Barriere zu Barriere in Gedanken weiter und bin erst vor jenem Wirtshaus abgestiegen, um mich und das Pferd zu restaurieren, als ich die Ehre hatte, Sie zu sehen, und – doch – schauen Sie dorthin: da kommt der geheimnisvolle Wagen und fährt in vollem Trab daher!«

Von einer leicht verzeihlichen Neugierde getrieben, näherten sich die Unteroffiziere der Kutsche, die nicht nur im Trab, sondern im vollen Galopp dahersauste, umgeben von reitenden Gendarmen. Das Aussehen des Fuhrwerks zeugte von einer weiten Reise und die Eskorte von der Wichtigkeit der Person, die darin transportiert wurde. Die Hoffnung indessen, jene Person zu erblicken, war umsonst. Die Kutsche war hermetisch verschlossen und fuhr obendrein weder durch die Barriere nach Paris hinein, noch gegen die Barriere von St. Mondé zu, sondern bog rasch in die Straße nach Lagny ein. Nach einigem Bedauern wegen Fehlschlagung so gerechter Hoffnung trennten sich die Unteroffiziere von dem Feldscher und setzten ihren Weg mit verdoppelten Schritten nach Vincennes fort, weil es bereits düster zu werden und völlig zu regnen anfing und die fünfte Stunde nahe war, wo das Gastmahl zu Ehren des alten André beginnen sollte.

Die fünfzehn Minuten bis zu dem Schlosse waren bald zurückgelegt. Der hohe, altertümliche Donjon von Vincennes stand in dunkler Masse vor ihnen, und bald schritten sie über die Brücke, standen im Hof und klopften an die Tür des Inspektors. Der alte André kam ihnen freundlich entgegen, aber auf seinem Gesicht lag eine gewisse Unruhe, eine gewisse Besorgnis, welche sehr mit der Freimütigkeit kontrastierte, die er sonst in seine Bewillkommnung zu legen pflegte.

Sans-Regret gewahrte diese Veränderung am ersten und fragte: »Was fehlt Euch, alter Freund? Ist das ein Geburtstagsgesicht? oder ist ein Hindernis zwischen unsere Wünsche und ihre Erfüllung gefahren? oder findet es der Herr Kommandant vielleicht nicht zulässig, daß wir unsern Schmaus halten? Es wäre ungalant, uns den weiten Weg machen zu lassen, um uns alsdann auszusperren, und dennoch möchte ich dieses fürchten, teils wegen des scharfen Befragens der Wachen am Tor, teils wegen Eures traurigen Gesichts.«

»Unnütze Besorgnis,« äußerte Andrä; »der Kommandant hat alles erlaubt und die Erlaubnis nicht zurückgenommen. Nur ließ er mich vor einigen Minuten ersuchen, mein Traktement so ruhig als möglich abzuhalten, welches wohl keinem Zweifel unterliegt, denn meine Wohnung hat die Aussicht nach dem Dorf, und der Gesellschaft wird nicht allzuviel werden, indem gewiß in einer halben Stunde niemand mehr hier eingelassen wird.«

»Was Teufels!« fragten die Unteroffiziere einstimmig; »keine Freikarte?«

Der Inspektor zuckte die Achseln, faltete sein Gesicht ganz ernsthaft, zog seine Gäste in einen Winkel und flüsterte: »Hier wird sich heute noch manches begeben. Es ist vor ganz kurzem ein Wagen mit einem Staatsgefangenen angekommen, mit dem es eine eigene Bewandtnis haben muß. Man beobachtet das größte Geheimnis über ihn und er wurde zum Kommandanten hinaufgebracht. Zugleich aber ist, wie ich aus guter Quelle erfahren habe, von unserm Gouverneur Murat der Befehl eingetroffen, um zehn Uhr das Tor für Truppen zu öffnen, die zu einem gewissen Zweck hier einrücken sollen, und nach sechs Uhr niemand mehr, welcher nicht in die Festung gehört, hereinzulassen. Reime sich das zusammen wer kann, aber gewiß ist, daß etwas Ungewöhnliches hier vorgehen wird.«

»Bravo!« meinte Gaillard; »so werden wir doch auch einmal wieder etwas Besonderes zu sehen kriegen; ich bin ohnehin schon das Alltagleben müde.«

Während dieses Gespräches hatte sich Sans-Regret der Wand genähert, wo des Inspektors Waffen hingen, und eine Pistole von gutem Aussehen zur Hand genommen.

»Sie ist geladen!« rief ihm der sorgliche Wirt zu, und er versetzte: »Wohl, mein Alter. Ist aber auch die Pistole gut? Hat sie nicht die Untugenden eines leichtsinnigen Schießgewehrs? Versagt sie nicht und brennt sie nicht hintennach?«

André antwortete: »Nicht doch, sie ist ein Muster von allen Pistolen. Als ich noch unter Westermann stand, habe ich über ein Dutzend von Brigands und Chouans damit erlegt. Sie verträgt eine starke Ladung und fehlt nie.«

»Desto besser,« entgegnete Sans-Regret ruhig und hing die Pistole vorläufig wieder an ihren Platz. Dann forderte er Papier und Schreibzeug von dem Wirt und einen einsamen Winkel, wo er ungestört etwas niederschreiben könne. André wies ihn an sein kleines Bureau in dem Kabinett, und Lefeu fragte neugierig: »Ei, Sergeant, was zum Wetter fällt dir ein? Du willst schreiben, während wir tafeln?«

»Was willst du denn beginnen?« fragte Gaillard, nicht minder neugierig.

Sans-Regret versetzte lachend: »Ich will mein Testament machen. Man denkt am besten hinter klingenden Gläsern an das Ende.«

Die Kameraden lachten wieder überlaut und riefen: »Geh' nur hin, du alter Schäker: mach' uns ein schönes Tischliedchen nach einer leichten Melodie. Bei dem Refrain wollen wir alle vor den Maschen unser Testament machen und nicht ruhen, bis wir uns den süßen Tod in dem Wein getrunken, den, du zum Einstand herbeischaffen wirst.«

Scherz auf dem Gesicht und schwarzen Ernst im Busen ging Sans-Regret in das Kabinett, um an Viktor, an seinen Schwiegervater und seinen Sohn zu schreiben. Währenddessen kamen noch mehrere der geladenen Gäste an und brachten auch die Kunde, daß sie die letzten seien, indem von Stund an der Ein- und Austritt in und aus der Festung verboten sei bis auf weitere Ordre. Die Tafel wurde gerüstet, kalte Speisen wurden aufgesetzt und Wein in Menge herbeigetragen, worauf die Gesellschaft Platz nahm. Ein Domestik des Kommandanten rief kurz darnach den Inspektor hinaus und dieser sagte, da er wieder zurückkam, mit Rührung im Gesichte: »Laßt uns in der Freude der Unglücklichen nicht vergessen. Der Kommandant läßt uns ersuchen, von unserer Mahlzeit dem Gefangenen, der sich oben bei ihm befindet und Hunger und Durst leidet, etwas mitzuteilen. Die Frau des Kommandanten ist krank und seine Küche schlecht bestellt. Ich halte dafür, daß es anständig sein würde, dem armen Gefangenen ein Hühnchen und eine gute Kompotte von unserem Überfluß zu verabfolgen.«

»Wer ist der Gefangene? wie heißt er? woher?« fragten alle Stimmen, und der Inspektor antwortete: »Ach, meine Freunde, das weiß ich nicht und mag nicht ein Gerücht wiederholen, welches sich soeben im Schlosse verbreitet. Aber der unglückliche junge Mann ist ein Franzose und somit unserer Teilnahme wert, welchen Namen er übrigens führe.«

Alle Anwesenden stimmten damit überein mit dem Rufe: »Ehre dem Unglück! Ein Franzose soll auch in Ketten nicht darben, wenn Landsleute von seinen Bedürfnissen unterrichtet sind.«

Somit wurde ein guter Vorrat von Speise durch den Domestiken abgefertigt, und die Mahlzeit ging fröhlich ihren Gang weiter fort, obschon man erfuhr, daß der Hof der Festung von Gendarmerie wimmele und Anstalten getroffen würden, eine Truppenabteilung einzulassen, die von Paris heranziehe.

Die Fröhlichkeit, obgleich in den Grenzen des Anstands verbleibend, mehrte sich mit den Stunden der Nacht und war auf dem Gipfel, als es zwölf Uhr schlug. Man weiß, welchen Eindruck hin und wieder gewisse Stunden auf den Geist eines Menschen machen, der sich bereits über die Grenzen des Lebens hinausgeschwungen. Symbolische Zeichen allein mahnen ihn noch an seinen irdischen Ursprung, und die Glocke, wenn sie zwölf Schläge in der Nacht tut, scheint ihm mit eherner Zunge zuzurufen, das mühsame Tagewerk sei wieder im Begriff anzuheben und daher die höchste Zeit, von ihm zu scheiden, wenn man das Joch nicht ferner tragen wolle. Einen ähnlichen Eindruck machten die Schläge der Turmuhr von der gotischen Kapelle des Schlosses auf Sans-Regrets Gemüt, obgleich er seit einer Stunde wieder unter den lustigen Gästen saß. Er erhob sich unbemerkt von seinen Kameraden, die der Wein und das Gespräch beschäftigte, bemächtigte sich der Pistole, auf die er sein Augenmerk gerichtet, wie des daneben hängenden Pulverhorns, um die Zündpfanne mit Vorrat zu versehen, und schlich hinaus mit dem festen Vorsatz, einen passenden Ort zu suchen, wo er sein Leben so ungestört als möglich enden könne. Die Briefe, die er geschrieben, lagen alle auf Andrés Bureau, und sein Herz fühlte sich aller Beschwerden enthoben und freudig gerüstet zum Übergang nach dem Jenseits. Aber – wie zerriß plötzlich der Faden seiner Ideen, wie zerfloß im Nu der Gedankenzug, der aus seinem Gehirn vor ihm herzugehen schien wie ein abgeschlossenes Trauergeleite zum nahen Grabe, – als er in den Hof trat und hier ein Schauspiel fand, das er nicht erwartete! Pechpfannen brannten hie und da, zahlreiche Posten von Elitegendarmerie standen allenthalben verteilt; eine starke Abteilung Linieninfanterie rückte gerade im Doppelschritt durch das Tor der Festung ein. Der regelmäßige Takt des Marsches, nicht begleitet von Trommellärm oder fröhlicher Musik, hallte schauerlich von dem Pflaster wieder. Die Rotten stellten sich auf, ein dumpfes Kommandowort erschallte, und mit einem Schlage rasselten alle Gewehre, bei Fuß gestellt, auf den dröhnenden Boden nieder. Unbeweglich und lautlos standen die Truppen, während nach einer kurzen Pause mehrere Wagen durch das Torgewölbe rollten und der Kommandant Harel den Ankömmlingen, von Lichterträgern begleitet, entgegenging. Sans-Regret stand nicht weit davon, weil ihm die Truppenlinien den Durchgang durch den Hof verwehrten, und sah mehrere Stabsoffiziere aus der Kutsche steigen; unter ihnen den Kommandanten der Gardegrenadiere, den General Hullin.

»Was gibt es denn hier?« fragte der Sergeant den Gendarmen, der ihm nahe war, und derselbe erwiderte leise: »Eine Militärkommission wird unverzüglich über einen Verschwörer richten, der dem Konsul nach dem Leben gestrebt hat.«

In demselben Augenblick kamen einige Kapitäne, von Wache begleitet, aus dem Innern des Kommandantenhauses und präsentierten dem General Hullin eine Schrift, die er mit den Worten: »Wir wollen das untersuchen und unverzüglich ans Werk gehen« zu sich nahm, den übrigen Offizieren, lauter Obersten, winkte, und mit ihnen in das Innere des Schlosses trat.

Das Geheimnisvolle dieser Handlungen übte einen mächtigen Zauber auf Sans-Regret, der kein Provençale gewesen wäre, wenn nicht seine Neugierde hätte rege werden sollen. Obschon im Begriff, selbst unwiderruflich mit dem Leben abzuschließen, wünschte er doch nicht, an einem Erdenrätsel vorüber nach der großen Rätselpforte zu wandern. Er wollte noch sehen, was in der letzten Stunde seines Daseins um ihn her vorging, und versuchte, in das Kommandantengebäude zu dringen, um sich Aufschluß zu verschaffen. Das Verhängnis schien seinen Wünschen zuvorzukommen. Der Hauptmann Vaudancourt, ein Offizier, der Sans-Regret längst bekannt war, erschien auf der Treppenstufe, sah forschend in den Haufen von Soldaten aller Waffengattungen, der sich zufällig da zusammengefunden, bemerkte Sans-Regret und winkte ihn zu sich.

»Was macht Ihr hier, Sergeant? Kommandiert?« Sans-Regret verneinte und zeigte in ein paar Worten die Ursache seines Hierseins an.

Der Kapitän fuhr fort: »Gut. Ich weiß, daß Ihr mit der Feder umzugehen versteht. Ihr könnt die Stelle eines Greffiers versehen und einen Offizier vertreten, der in diesem Augenblick unpäßlich geworden ist, nachdem er schon in obiger Eigenschaft das Verhör des Angeklagten zu Protokoll gebracht. Folgt mir, ich werde Euch schon diktieren und das Ganze ist beinahe nur leere Form.«

Da war keine Widerrede statthaft und Sans-Regret gehorchte ohne weitere Bemerkung. Er folgte dem Hauptmann in das Ratszimmer des Schlosses und fand hier ein militärisches Tribunal versammelt, welchem sein eigener Kommandant präsidierte.

O, wie verschwand vor seinem Geist das Gedächtnis an eigene Leiden bei dem traurigen Schauspiele, welches sich nun vor ihm entfaltete! Ein Prinz voll Mut und Seelengröße, der letzte Erbe des Ruhms einer Heldenfamilie wie auch das ausersehene Opfer, welches ein unerbittliches Verhängnis verlangte, wider alles Völkerrecht dem gastfreundlichen Boden eines fremden Landes entrissen, wider jedes natürliche Recht vor ein Gericht gestellt, das nicht befugt war, über ihn zu urteilen, erschien, um beim Scheine weniger Todeskerzen, im Angesicht einer neugierigen Soldateska, des einzigen Zeugen dieses großen Verbrechens, über sein Haupt das Todeslos werfen zu sehen. Die Feder erbebte in Sans-Regrets Hand, als er den Namen des letzten Condé niederschreiben mußte, und sein Herz, obwohl dem Stamme der Bourbonen nicht hold, blutete während der heftigen Verteidigungsrede, die der Herzog am Schlusse der sogenannten Debatten hielt. Der Unglückliche erriet, welches Schicksal ihm bereitet war, aber, durch seine trotzigen Eingeständnisse rückte er selbst unerbittlich das Grab sich näher, welches schon am Nachmittag für ihn gegraben worden war. Vergebens drückten Hullins edle Züge das tiefste Mitleid aus; vergebens schien eine menschliche Regung durch die Brust aller Richter zu gehen. An den Schranken stand ein Beklagter, der sich hier nicht verteidigen wollte, sondern vom Konsul allein Gerechtigkeit erwartete, und hinter dem Sessel des Präsidenten ein Adjutant desselben Konsuls, der den zögernden Urteilsspruch durch sein Drängen herbeizog und ungeduldig auf das Blut des Schlachtopfers harrte.

Das entsetzliche Drama endigte sich bald; die Rollen waren im voraus verteilt und die Katastrophe war unausbleiblich. Von Müdigkeit erschöpft, schlaftrunken, wurde der Prinz hinweggebracht, und während er schlummerte, sprachen seine Richter den Tod über ihn. Sans-Regret war dabei, als man ihm sein Urteil vorlas, nachdem man ihn unerbittlich aus der Ruhe emporgeschreckt, die in solch' entsetzlichem Augenblick nur eine Frucht der völligsten Schuldlosigkeit sein kann.


Der Zeiger der Schloßuhr wies beinahe auf die sechste Stunde des Morgens, als ein Reiter auf ungeduldig schnaubendem Rosse im gestreckten Galopp in Vincennes einjagte, sich atemlos vom Pferde warf und den Kommandanten, der mit bekümmertem Gesicht ihm entgegentrat, nach dem General Savary befragte. Der Kommandant führte den Boten des Konsuls dorthin, wo der Turm der Königin in den Schloßgraben vorspringt und wo auf der Brustwehr Savary, von ein paar Offizieren und Gendarmen umgeben, weilte. Es war ein trüber, nebliger Morgen und nur schwach zu erkennen waren die von Duft ungefüllten Gräben, der Schein einer vor dem Tageslicht verlöschenden Laterne und der Schimmer blinkender Gewehre. Der Kommandant rief Savary, der Kurier übergab demselben rasch einen Brief.

In dem Graben wurden just die Gewehre angeschlagen.

Savary öffnete zögernd das Schreiben, und als er es entfaltet, donnerte unten die Todessalve los, worauf Savary, die Achsel zuckend, zu dem Boten sagte: »Es tut mir leid, mein lieber Dammartin, Sie kommen zu spät. Soeben ist geschehen, was nicht mehr in meiner Macht zu verhüten stand. Steigen Sie in den Graben hinab und überzeugen Sie sich selbst. Noch heute vormittag werde ich dem Konsul Rapport erstatten.«

Viktor, noch ohne zu wissen, was sich hier begeben, ließ sich wie ein Träumender die schmale Treppe hinunterführen und kam dazu, als eben das Peloton von Gendarmen, welches geschossen, den getöteten Herzog vom Boden aufhob, um ihn, bekleidet wie er war, in die Grube zu legen. Ein heller Strahl des Tages zerriß den Morgennebel und Viktor erkannte mit sträubendem Haar das wenn auch vom Blut entstellte Gesicht seines Jugendgefährten, des einzigen Sohnes seines Wohltäters. Mit einem dumpfen Schrei, wie vor dem Anblick des Todes selbst, fuhr er zurück; aber ein starker Arm hielt den Zusammensinkenden fest und Sans-Regrets Stimme flüsterte ihm ins Ohr: »Keine Schwäche, mein Offizier. Gönnen Sie dem Gesindel hier nicht die Freude an Ihrem Schmerz. Kommen Sie vielmehr, daß wir uns von diesem Ort des Schreckens entfernen.«

Mechanisch folgte Viktor dem Freund und stammelte nur wie vor sich hin: »Das mußt' ich erleben? Diese greuliche Tat muß den Mann, den ich wie einen Gott verehrte, auf ewig von meinem Herzen reißen! Mußte er seinen Purpur in dem Blut dieses Unschuldigen färben? Und ich, kaum zurückgekehrt im heftigsten Schmerze, mußte von ihm mit der fürchterlichen Sendung bedacht werden, die zu spät kam, wie der Grausame es voraussah?«

Sans-Regret aber stieß den Bataillonschef an und sagte ihm leise: »Nicht so laut, mein Freund. Bezwingen Sie sich. Sehen Sie, wie ruhig ich bin, ob ich gleich gewissermaßen an dem Morde Teil habe. Freilich liebe ich die Bourbonen nicht mehr als den gleichgültigsten Menschen, aber der Thron, der sich auf jenen Gebeinen erbaut, ist mir ein Greuel und ich könnte schier vor Verdruß sterben, wie ich aus Melancholie sterben wollte. Nun aber muß ich ja am Leben bleiben; erstens, weil Sie jetzt wieder eines Freundes bedürfen, der Sie tröstet, und zweitens, weil es jetzt so herauskäme, als hätt' ich mich aus Verzweiflung über den Tod dieses Enghien erschossen. Ich weiß, wie die Müßiggänger von Paris über solche Zufälligkeiten schwatzen und die Maulaffen sollen mir die Leichenrede nicht halten.«

So geleitete er den Bataillonschef zu seinem Pferde, legte dann bei André, wo die größte Bestürzung herrschte, die Pistole wieder hin und nahm seine Briefe, die noch niemand eröffnet, wieder an sich; hierauf aber schrieb er unter Vaudancourts Aufsicht das zweite, nach der Hinrichtung verfaßte Bluturteil ins Reine, während Dammartin mit zerrissenem Herzen nach Paris zurückkehrte.


Nachwort.

Wenn der Herausgeber dieser Sammlung bei der Auswahl der zu veröffentlichenden Bücher Wert darauf legt, Meisterwerke der Romanliteratur zu veröffentlichen, die zu Unrecht übersehen und vergessen worden sind, so gilt das im besonderen Maße von dem vorliegenden Band. Karl Spindler (geboren am 16. Oktober 1796 in Breslau, gestorben am 12. Juli 1855 in Bad Freiersbach) ist ein unterschätzter Meister des historischen Romans in Deutschland; ein deutscher Walter Scott, der es mit seinem weit berühmter gewordenen Zeitgenossen Willibald Alexis an Begabung voll aufnimmt. Ist Alexis Meister der anekdotenhaften, mit der heimatlichen Scholle eng verbundenen Geschichtserzählung, so hat Spindler seinen Ehrgeiz meist weiter gesteckt: er hat versucht, in seinen Romanen große geschichtliche Gemälde zu geben, in denen die Eigenart einer historischen Epoche möglichst voll und farbig zur Geltung kommt. Von Spindlers geschichtlichen Romanen sind nur noch »Der Jude« und »Der Jesuit« durch ihre Aufnahme in Reclams Universalbibliothek dem heutigen Publikum zugänglich; sein stärkster geschichtlicher Roman, der die große Wendezeit der französischen Revolution in gestaltenreichen Bildern aus allen Lagern und Parteien vor Augen führt, ist hingegen unseres Wissens völlig vergriffen. Nicht nur um des stofflichen Interesses, das gerade unsere Zeit wieder den sozialen und geistigen Kämpfen jener Epoche entgegenbringt, sondern auch um seiner starken künstlerischen Gestaltungskraft willen haben wir die neue Ausgabe dieses Romans gewagt; wir zweifeln nicht, daß er Leser finden wird, die ein Buch lieben werden, das die größten Revolutionskämpfe der abendländischen Geschichte aus dem Staub vergangener Zeiten wieder zu neuem Leben auferstehen läßt, weit anschaulicher als alle rein belehrenden Geschichtsbücher über jene Zeit. Denn trotz mancher irrtümlicher Konstruktionen und romanhafter Erfindungen darf Spindlers Roman den Vorzug großer Sachlichkeit und Unparteilichkeit nachgerühmt werden; Monarchisten und Republikaner, Anhänger und Gegner des neuen Emporkömmlings werden gleichermaßen in ihren Leistungen und Schwächen geschildert. Zwölf entscheidungsschwere Jahre französischer Geschichte enthüllen sich in der ganzen Vielfältigkeit ihrer Menschenschicksale.

M. F.

 

Bisher erschienen:

Hermann Kurz, Der Sonnenwirt
Ein Heimatroman aus Schwaben

Edmund Hoefer, Der Alte von Menkendorf
Ein Roman von der Waterkant

Franz Freiherr von Gaudy,
Venetianische Novellen

 


Buchdruckerei Edmund Stein G. m. b. H.,
Potsdam.



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