Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel.
Das Revolutionstribunal

Der Gerichtssaal wimmelte von Menschen. Die blutdürstige Neugier des Pöbels und der Müßiggänger war noch nicht erkaltet, obgleich bisher das Tribunal sich alle Mühe gegeben hatte, sein Publikum mit den Auftritten des Schreckens und des Todes völlig vertraut zu machen.

Die Sitzung sollte bald eröffnet werden; die Richter schlenderten vor ihrer Tafel im Gespräch auf und nieder, die Geschworenen wälzten sich auf ihren Bänken. Advokaten, Schreiber, Gerichtsdiener und Gendarmen trieben sich an den Schranken auf und nieder. Nur Fouquier-Tinville saß beschäftigt an seinem Tisch und zählte die Urteile, die, schon vorhinein gefertigt, gerade aus der Druckerei, die sich neben dem Sitzungssaale befand, durch ein Fensterchen dem öffentlichen Ankläger eingehändigt wurden. Samson, der Scharfrichter, näherte sich ehrerbietig dem gefürchteten Fouquier und fragte, wie viele Karren ungefähr zu den Hinrichtungen des Abends gebraucht werden dürften. Fouquier lehnte sich in seinem Stuhl zurück, blinzelte mit den falschen Augen, zählte an den Fingern und sagte: »Zehn ... zwanzig ... fünfundzwanzig ... sechsunddreißig ... ja; nach vorläufigem Überschlag wird es wohl heut an vierzig Köpfe ausmachen; sechs Karren höchstens.«

»Sehr wohl, Bürger Ankläger,« antwortete Samson unterwürfig. »Nimm jedoch eine weitere Frage nicht übel. Seitdem der Platz der Hinrichtungen ans Ende der Vorstadt St. Antoine verlegt wurde, haben wir beinahe Tag für Tag während unseres Zugs dorthin Beleidigungen vom Volk auszustehen. Die ehrlichen Leute in der Straße St. Honoré waren weit artiger, als wir noch auf dem Revolutionsplatze köpften. Der Pöbel in der Vorstadt jedoch hat uns bereits zu wiederholten Malen gedroht, die Verurteilten zu befreien. Was ist da zu tun, Bürger?«

»Das fragst du mich?« entgegnete Fouquier. »Das Mittel ist einfach. Man muß die Gendarmerieabteilung verdoppeln; jeden Rebellen gleich beim Kopf nehmen und binnen vierundzwanzig Stunden alle diejenigen enthaupten, die unseren Urteilen ein Hindernis in den Weg legen. Es kommen ihrer noch viele an die Reihe, und wer mit einem Feind des Vaterlandes Mitleiden hat, teilt vollkommen seine Schuld.«

Samson ging, und von der andern Seite kam erhitzt und hastig der Vizepräsident des Tribunals, Coffinhal, daher. »Weißt du schon?« fragte er stürmisch den Ankläger. »Soeben erhalte ich Nachricht, daß im Konvent alle Teufel los sind.«

»Gut,« versetzte Fouquier kalt. »Robespierre wird seine Minen springen lassen.«

»Gerade das Gegenteil. Der Unglückliche hat zu lang gezögert. Als mein Agent die Sitzung verließ, schien die Gegenpartei ungeheuer stark und mächtig.«

»Pah! Der Gemeinderat und das Volk sind für Robespierre. Wir haben nichts zu fürchten. Freu dich, Coffinhal, Der heutige Tag liefert uns genug Wildpret in die Küche. – Doch« – Fouquier sah hier nach der Uhr – »zwölf Uhr ist vorüber und ich habe mein Mittagessen heut um eine Stunde früher bestellt. Huissier! sage dem Präsidenten, daß er die Sitzung eröffne. Wir haben zwar nur zweiundvierzig Angeklagte abzutun, aber auch diese fressen Zeit genug hinweg.«

Der Gerichtsdiener vollzog seinen Auftrag; Richter und Geschworene taumelten, halb trunken von dem Frühstück, welches sie im Saale selbst einzunehmen pflegten, an ihre Plätze, die Glocke des Präsidenten erklang, und nach einigen unbedeutenden Formalitäten, lächerlichen Schwänken ähnlicher als ernster Gerichtseinleitung, wurden die Angeklagten alle auf einmal hereingebracht. Das Geräusch der vielen Eintretenden, der Sporen- und Säbelklang der sie begleitenden Gendarmen und das »Stille!« der Gerichtsdiener stellte ein plötzliches Schweigen unter dem zuschauenden Volke her, welches sich bis zu diesem Augenblick ebenso lärmend aufgeführt hatte wie die Gerichtsleute selbst. Die Zuschauer musterten neugierig die Schar der Angeklagten, bestehend aus Menschen von jedem Alter, Stand und Geschlecht. Der Greis wie der Jüngling, die Jungfrau wie die Matrone, der Mann aus dem Pöbel neben dem Mann von Erziehung, der Revolutionär wie der Royalist – in bunter Reihe standen und saßen sie hinter ihren Schranken, vor ihren Richtern. Und so groß war die Todesverachtung in jenen Tagen, daß kaum ein paar rotgeweinte Augen aus dem Haufen in den Saal starrten, obschon alle die Unglücklichen in der tiefsten Seele überzeugt waren, den Tag nicht zu überleben. Wie gefühllos auch die rohe Menge der Schaulustigen jene Schlachtopfer der blutigsten Willkür betrachtete, so klopften doch unter ihr einige zagende, bekümmerte Herzen, und Sans-Regret war nicht derjenige, dem das Herz am wenigsten pochte. Je mehr sich der wirre Knäuel der Angeklagten öffnete und die Bänke von ihnen besetzt wurden, je eifriger suchte der Blick des Invaliden seinen jungen Freund. Es war, als wollte die Schar gar nicht enden und erst unter den letzten der Eintretenden befand sich Viktor. Er war in einen blauen Überrock gekleidet, mit offenem Halskragen, und auf seinen dunkeln Locken saß die militärische, herabhängende Mütze. Blässe hatte sein Gesicht überzogen, sein mehrmonatlicher Aufenthalt in der Force und der letzte Tag in der Conciergerie jede Farbe des Lebens von seinen Wangen gewischt. Still und nur mit sich selbst beschäftigt setzte er sich an das Ende der ersten Bank nieder, stützte den Kopf in die Hand, auf der Schranke lehnend, und betrachtete mit furchtlosem Auge die ihm gegenübersitzenden Geschworenen.

Das richterliche Possenspiel nahm seinen Anfang. Ein kauderwelscher Anklageakt, worin alle an den Schranken befindliche Individuen begriffen waren, wurde verlesen. Politische Vergehen, klein und groß, wurden einem jeden zur Last gelegt, und am Schlusse kam noch die fürchterlichste Anklage von allen, ganz nach der Taktik jener Zeit: die Beschuldigung, daß alle Zweiundvierzig samt und sonders in eine Gesamtverschwörung in ihrem Gefängnisse begriffen gewesen.

Nachdem diese Einleitung beendigt, die man wie ein Lustspiel belacht haben würde, wenn nicht der Ausgang gewöhnlich so entsetzlich und blutig gewesen wäre, folgte das Verhör, das der Präsident mit den Beklagten anstellte. Der Vorsitzende war heute besonders guter Laune, denn gar oft war dieses Verhör ganz überschlagen worden und man hatte die Angeklagten zum Tode geschickt, ohne sich näher um sie zu bekümmern. Der Präsident begann heute bei dem ersten in der Reihe also: »Du bist ein Adeliger?«

»Nein, der Sohn eines Bauers.«

»Weiter.« Zum zweiten: »Du hast Anteil an der großen Gefängnisverschwörung genommen?«

»Ich weiß nichts davon.«

»Es sind Zeugen da, die dich Lügen strafen.«

»Ich beteure bei allem ...«

»Du hast nicht das Wort!« schrie der wilde Fouquier dazwischen.

Der Präsident ging zum dritten über. »Du bist ein Priester und hast den Eid nicht geleistet.«

»Ich mache mir eine Ehre daraus.«

»Das Weib da ist deine Schwester? Sie hat sich gegen die Republik verschworen. Wie heißt der Mensch neben Euch?«

»Ich heiße Bellay!« sagte ein junger Mensch, beinahe noch im Knabenalter, dem die Angst aus allen Zügen sprach. »Eine Namensverwechslung hat mich hierher gebracht. Der Name Mellet stand auf der Liste und dennoch mußte ich ...«

»Schweig!« donnerte ihm Fouquier zu.

»Aber, Bürger Präsident, und ihr alle, meine Richter und Geschworenen, ich bin ja unschuldig!«

»Pah, pah; einen Tag früher oder später, das kommt auf eins heraus.«

»Hört mich, Bürger, ich bin ja kaum sechzehn Jahre alt!«

»Schweige! Deine Verbrechen stempeln dich zu einem Achtzigjährigen.«

»Weiter. War dein Mann nicht Oberst in den Armeen der Republik, Leonore Emmery? Ist er nicht vor diesem Tribunal zum Tode verurteilt worden?«

»Ja; ich freue mich, daß ihr Ungeheuer mich heute ihm nachsenden wollt.«

»Welche Unverschämtheit!« fiel Fouquier grimmig ein. »Die Frechheit der Weiber übersteigt alle Grenzen. Sie spotten des Tribunals und des Henkers. Solche Beispiele beleidigen die Majestät des Volkes.«

»Darum habe ich schon lange vorgeschlagen,« begann einer der Geschworenen von seinem Sitze, »daß man den Verurteilten augenblicklich zur Ader lasse, damit ihr Mut ein bißchen gedämpft werde, ehe sie zur Guillotine gehen.«

Der Präsident: »Weiter. – Dich, Perrin, kenne ich. Du hast eine Assignate der Republik nicht annehmen wollen. Du, Gerard, hast durch deine losen Reden das Leben verwirkt.«

Der Genannte wollte den Mund öffnen, aber Fouquier machte ihn plötzlich verstummen, indem er wie oben rief: »Du hast nicht das Wort!«

Der Präsident fuhr fort: »Weiter. Die Reihe ist an dem Offizier dort in der Ecke. Dein Name?«

»Viktor Dammartin,« antwortete Fouquier statt des Gefragten.

Auf diesen Namen hin erhob sich schnell in der dritten Reihe der Beklagten ein junges Frauenzimmer, dessen Haupt mit einem schwarzen Flortuch fast zur Hälfte verhüllt war, blickte nach Viktor hinüber, der diese Bewegung nicht bemerkte, und rang wie erstaunt und verzweifelt die Hände. Dem Ankläger entging diese Geberde nicht und er rief drohend: »Hier gibt man sich keine Signale! Gendarmen, habt acht auf die Bewegungen dieses Weibes.«

Auf diese Ermahnung hin sah sich Viktor schnell um; eine lebhafte Röte trat auf sein Gesicht, als er des Frauenzimmers ansichtig wurde und der Name »Adele« erstarb auf seinen zitternden Lippen. Währenddessen war das Mädchen gezwungen worden, niederzusitzen, und das sogenannte Verhör ging seinen Gang fort.

»Du warst Adjutant bei Marceau? Hast eine Vendéerin, dem Gesetz zum Hohn, ihrer Strafe entziehen wollen? Die Patrioten waren aber glücklicher als du. Das Weib wurde eingeholt. Steh' auf, Adele Montchoisy!«

Dasselbe Frauenzimmer, welches vorhin Anlaß zur Unterbrechung gegeben hatte, stand auf, sah starr auf Viktor hin und bebte an allen Gliedern. Viktor fand die Kraft in sich, dem Präsidenten zu erwidern: »Ich kenne die Bürgerin nicht. Jenes Weib, das Ihr meint, ist längst in Sicherheit. Marceau wurde von der Anklage freigesprochen; ich verlange das nämliche.«

»Wenn man die Halunken hört, so sind sie alle unschuldig!« murrte Fouquier vor sich hin und fuhr dann mit erhabener Stimme fort: »Du hast den Hals verwirkt, weil du den Leibwächtern des Tyrannen weiße Kokarden zuschlepptest. Dort sitzt der Bürger Minet, welcher Zeugnis davon ablegen wird. Ferner verdienst du den Tod, weil du es mit den im Gefängnis Verschworenen hieltest. Und in diesem Betracht ist die Montchoisy nicht minder strafbar.«

Da erhob sich einer aus der Reihe der Geschworenen und sagte: »Ich bemerkte meinen Kollegen, daß der Vater der Montchoisy einer unserer tapfersten Generale ist und mit ganzer Seele die Republik verteidigt. Es ist die Pflicht eines jeden Bürgers, sich seiner Tochter anzunehmen, da ihre ganze Schuld unerwiesen und unklar ist.«

»Keinen Sermon!« erinnerte Fouquier drohend. »Wo ist der Begleiter dieses Weibes? Derselbe, der mit ihr gefangen wurde? Wo ist Dumoutier?«

Keine Antwort. Die Gerichtsdiener wiederholten den Ruf; alle Beklagten schwiegen. Endlich sagte Adele schüchtern: »Ich sehe ihn nicht; er ist nicht hier.«

»So ist er vergessen worden,« versetzte Fouquier gleichgültig und trocken; »tut nichts, auf morgen also.«

Das Verhör ging nun weiter und immer kürzer wurden die Fragen, weil dem Präsidenten die Sache nachgerade zu lang wurde. Es nahm sich fast keiner der Angeklagten die Mühe, ausführlicher zu antworten. Sie sahen, daß die Würfel schon lagen.

Nach einigen nichtssagenden Zeugenverhören, nach einigen unzusammenhängenden Worten des Präsidenten, nach einer blutdürstigen Tirade des Anklägers, wurden die Debatten geschlossen.

In diesem Augenblicke – die Angeklagten waren hinausgeführt worden – kamen mehrere Menschenhaufen mit blassen, verstörten Gesichtern und grimmigen Blicken in den Saal, und bald verbreiteten sich unter den Richtern und dem Volk die beunruhigendsten Gerüchte. Im Konvent war der Sturm auf seinen Gipfel gekommen. Einige behaupteten, Robespierre sei entflohen; andere, er sei gefangen; wieder andere wollten schon die Sturmglocke gehört haben und den Befehl zum Generalmarsch wie zum Aufstand der Sektionen erteilt wissen. Die nächste Folge von diesen Plaudereien war, daß die Zuschauer scharenweise den Saal verließen, um den Spektakel in den Straßen anzusehen, und daß die Gesichter der Mitglieder des Tribunals länger und blässer als gewöhnlich wurden. Fouquier behauptete mit Konsequenz seinen Stuhl. Ungläubig und spöttisch verzog sich sein Mund, während er zufrieden an das Blutbad des nächsten Abends dachte.

Nach einer Beratung von sechs Minuten ungefähr erklärten die Geschworenen alle Beklagten für schuldig, mit Ausnahme der Bürgerin Montchoisy und eines blinden Bettlers, der der Falschmünzerei beschuldigt und von seiner Sektion reklamiert worden war.

Die Angeklagten wurden in Masse hereingetrieben. Mit freudigem Blicke vernahm Adele ihre Freisprechung, aber in Tränen verdüsterte sich ihr Auge, als sie erfuhr, daß ihr Freund Viktor dieses Los nicht teile. Der unerbittliche Fouquier forderte für die übrigen vierzig das Todesurteil und das Tribunal sprach es ohne weiteres aus. Wie ein Radschlag zerschmetterte es die Brust des ängstlich harrenden Sans-Regret, als der Name seines geliebten Viktors dem Tode geweiht wurde. Er flüchtete sich in das Vorzimmer, um seinen Schmerz nicht zu verraten und sich in diesem schrecklichen Augenblicke nicht seinem verurteilten Freunde zu zeigen, obgleich dieser seinen Spruch gefaßt vernahm und im Hinausgehen, zwischen der Reihe von Gendarmen, die ihn und seine Unglücksgefährten begleiteten, einen zärtlichen Gruß der reizenden Adele zuwarf, welche in Tränen zerfließend zurückblieb, bis derselbe Geschworene, der für sie das Wort genommen, ein ehemaliger Diener ihres Hauses, sie ohne Hindernis wegführte.

Mit unerschütterlichem Gleichmute drehte sich Fouquier zu dem Scharfrichter um, der hinter seinem Stuhl stand, und rief, indem er ihm die bereits ausgefertigte Hinrichtungsorder überreichte: »He? Hab' ich nicht recht gehabt? Vierzig Köpfe; nicht mehr und nicht weniger. – Um fünf Uhr also.«


 << zurück weiter >>