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Die Orchideenform in Odontoglossum grande.

Drittes Buch.
Die Physiognomik der Gewächse.


I. Capitel.
Verschiedenheit der Auffassung.

W Wir sind durch das Vorige von selbst auf den Typenwechsel der heutigen Pflanzendecke geleitet; denn wenn die Mannigfaltigkeit der Pflanzengestaltung einen so wesentlichen Einfluß auf die Entwickelung des Menschengeschlechts ausübt, ist es jetzt doppelte, wissenschaftliche und ethische Pflicht, uns diese Verschiedenheit näher zu zergliedern.

Betrachtet man das Landschaftsbild mit dem Auge des Forschers, so löst sich dasselbe sofort in tausend Einzelheiten auf, durch welche es gebildet wird. Jede Pflanze kommt hierbei zu ihrem Rechte, jede erhält denjenigen Antheil, den sie an der Zusammensetzung des Landschaftsbildes hat. Wir können diese physiognomische Betrachtung eine systematische nennen. Dieser zerlegende Blick ist indeß kein Künstlerischer. Völkern und Künstlern tritt das Landschaftsbild als eine Gesammtheit entgegen, in welcher das Unbedeutendere zurückweicht, das Charaktervollere hervorgehoben wird. Man darf sich den Ausdruck gestatten, daß das Landschaftsbild dem künstlerischen Blicke ähnlich wie die Physiognomie eines Menschen erscheint, in welcher nur wenige kräftige Hauptlinien den eigenthümlichen Ausdruck des Gesichts bestimmen. Sie nur faßt der Künstler in seine Seele, sein Portrait; das rein Individuelle, das Zufälligere, welches zugleich das Unwesentlichere ist, muß dem Idealen, dem eigentlich Bestimmenden, weichen. Auch dieser künstlerische Blick hat seine wissenschaftliche Berechtigung. Er ist die Ergänzung des Forscherblicks. Wie dieser auflöst, hält jener zusammen; wie jener sich in das Besondere vertieft, läßt das Künstlerauge das Allgemeine an sich vorüberschweifen. Wir können diese Art der Auffassung die typische nennen.

Humboldt hat sich zuerst zu dieser Höhe einer allgemeinen Naturanschauung erhoben und ihr in seinen »Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse« einen wissenschaftlichen Ausdruck gegeben, welchem seinen Hauptzügen nach wenig hinzuzusetzen ist; wir werden unten weiter darauf zurückkommen. Neuerdings hat der schweizerische Naturforscher Zollinger, bekannt durch seine Reisen auf Java, diesem Gegenstände seine Aufmerksamkeit zugewendet und ihn mehr mit dem Auge des Landschaftsmalers und Landschaftsgärtners, als des Landschaftsforschers behandelt. Sie möge die künstlerische Pflanzenphysiognomik heißen. Nach ihm zerfällt die Flora Javas und mit ihr die Flor der ganzen Erde in fünf große physiognomisch verschiedene Typen: die Teppichvegetation, die Stockvegetation, die Kronenvegetation, die Schopfvegetation und die Verzierungsvegetation. Wer die Pflanzendecke mit diesem Auge betrachtet, faßt die Erde als einen großen Park auf, in welchem nach ganz bestimmten Gesetzen der Perspective die Typen wirken. Man fragt hierbei weniger nach den wissenschaftlichen Charakteren der Pflanzen, als nach ihrem Gesammteindruck. So wirkt die Teppichvegetation durch ihre horizontale Perspective, indem sie sich wenig über ihre Fläche erhebt und durch ihre gleichartige Masse bestimmend wirkt. So die Moosdecke, die Graswiesen und Grasfluren, die Flechtendecke und der schwimmende Pflanzenteppich. Wenn hier die Individuen in einander verschwinden und durch ihre Gesammtgruppirung, so zu sagen, untergehen, wirkt die Stockvegetation durch ihre Längsperspective. Die Stamm- und Asttheile treten mehr hervor und so kommen auch die Individuen zu ihrem Rechte. Es gehören hierher die Bambusgräser, Bananengewächse oder Musaceen, Scitamineen (indisches Gras u. dgl.), Cactuspflanzen, Wolfsmilchgewächse u. s. w. Von ihr unterscheidet sich die Kronenvegetation, indem sie das Krautartige vermeidet und zu einer Verästelung übergeht, welche nicht selten in außerordentlichster Weise den Stamm in die Länge oder Breite zertheilt, bald hochaufstrebende pyramidale, bald domförmig gewölbte Kronen bildet. Es gehören hierher alle Holzpflanzen, unsere Laub- und Nadelwälder. Ist diese Vegetation fast nur von den Dikotylen vertreten, so gehört die Schopfvegetation fast nur den beiden großen Gewächsabtheilungen der Kryptogamen und Monokotylen an. Stamm und Laub treten gesondert hervor, letzteres an den Gipfel zurückgedrängt. So bei allen baumartigen Farren, Zapfenpalmen, Pandanggewächsen, Palmen u. s. w. Die Verzierungsvegetation endlich ist in der Pflanzenwelt dasselbe, was die Ornamentik in der Baukunst: die künstlerische Ausfüllung leerer Räume durch geeignete Typen. Bald sind es Flechten, welche die Stämme bekleiden, bald Farrenkräuter, Bärlappe, Orchideen, Aroideen, Winden, Feigenarten, Pfeffergewächse, Lianen u. s. w. Sie treten in flacher, buschiger, hängender, windender und schlingender Gestaltung auf und verzieren als Arabesken, Guirlanden u. s. w. die Stämme und Kronen; hierzu um so mehr geeignet, als bei ihnen meist ebenso wie bei der Teppichvegetation die Stammtheile, folglich das Individuelle mehr zurücktritt und das Individuelle der betreffenden Stämme gehoben wird. Ueberhaupt sagt uns der erste Blick auf diese Auffassung der Pflanzenphysiognomik, daß hier die Achsenverhältnisse (Stamm, Aeste, Zweige) herrschen.

Damit ist jedoch das Aeußere des Landschaftsbildes noch lange nicht erschöpft. Denn wenn auch die Achsengliederung der Pflanzen in der That einen mächtigen Einfluß auf den Charakter der Landschaft und unser Gemüth übt, wenn auch z. B. eine starr aufstrebende Pappel oder eine Cypresse den Eindruck des Starren gewähren, eine Hängeweide die Empfindung süßer Wehmuth, eine domartig gewölbte Buche die Empfindung ernsten, erhabenen Insichgekehrtseins veranlaßt, eine knorrig in die Breite strebende Eiche das Gefühl des Trotzigen und Heroischen einflößt: so werden doch durch die Formen des Laubes, der Blüthen und Früchte, sowie durch Farbe und Textur (z. B. durch Härte und Weichheit) des Laubes, Glätte und Rauhheit der Stämme und ihr Wechselverhältniß zu den Winden, welche über weichen Flächen säuseln, über starren rauschen, alle jene Empfindungen wesentlich mitbestimmt oder verändert. Der zuletzt genannte Punkt kann in der Physiognomik der Pflanzenwelt nicht genug beachtet werden; denn auch die Pflanzen haben ihre Stimmen, wenn sie sich mit dem Winde und seinen verschiedenen Eigentümlichkeiten verbünden. Die Nadelhölzer rauschen, die Linde säuselt, die Cypresse klappert mit ihren Zweigen, andere knarren; der Wald hat sein Crescendo und Decrescendo, sein Piano und Fortissimo, sein Solo und Tutti, überall aber nur Eine Tonart. In Moll allein ertönt die Musik der Natur und reicht mit ihrem Einflusse so weit, daß selbst kindliche Völker, lyrischer Empfindung allein zugänglich, ihre Lieder nur in Moll singen. Dur ist die Tonart der That, des wildbewegten Lebens. Die Natur dagegen ist wie ein großes elegisches Gedicht. Ihr ganz hingegeben, versinkt auch der Mensch, sei es im Rauschen des Waldes oder im Rauschen des Stromes oder im Donner des Meeres, in eine elegische Stimmung. Darum ist und war der Wald zu allen Zeilen der Vater der Lyrik. Die Sprache der Natur ist auch stets die Sprache des einfachen, der Natur noch näher stehenden Menschen. Wollten wir jedoch dieses Wechsel verhältniß zwischen Empfindung und Pflanzenform wissenschaftlich ausbauen, so würden wir statt einer Pflanzenphysiognomik eine Aesthetik der Gewächse erzielen. Von ihr am Ende dieser Betrachtungen.

Wir ziehen es hier vor, die Typen zu bestimmen, welche merklich das Landschaftsbild der Pflanzendecke zusammensetzen. Sie sind für die Landschaft, was die Mienen für die Physiognomie und Physiognomik des Menschen. Sechzehn Typen zählte Humboldt als diejenigen auf, welche die Physiognomie aller Landschaftsbilder der Erde bestimmen: Pisang, Palmen, Malven, Mimosen, Haidekräuter, Cactuspflanzen, Orchideen, Casuarinen, Nadelhölzer, Arongewächse, Lianen, Aloëgewächse, Gräser, Farren, Liliengewächse und Weiden. Diese Anzahl reicht jedoch nicht aus. Jedenfalls sind in dieser Reihe ebenso berechtigt: die Proteaceen, Lorbeerpflanzen, Rosenblüthler, Doldenpflanzen, Vereinsblüthler, Rubiaceen, Feigengewächse, Myrtenpflanzen, Flechten, Moose u. s. w. Zwar hatte Humboldt in seinen 16 Typen die wenigen Urformen aller übrigen Gewächse aufstellen wollen; allein diese Bestimmungsweise ist viel zu ideal und abstract. Das beschauende Auge, welches hier doch den Ausschlag gibt, führt die Mannigfaltigkeit der Gestaltung nicht auf Urformen zurück, sondern läßt sie einfach als wirkliche (concrete) Gestalten auf sich einwirken. Darum ist es jedenfalls plastischer, die wirklichen Pflanzenfamilien zu bezeichnen, welche vorzugsweise das Gesammtbild, den Mittelpunkt der Landschaft, bilden. Hierzu dienen alle Gewächse, welche sich durch Reichthum und Charakter der Gestaltung, massige Gruppirung oder weite Verbreitung auszeichnen. Viele von ihnen besitzen fast durchweg eine gleichartige (homogene) Physiognomie in allen ihren Gliedern. Ein Moos, eine Flechte, einen Pilz, einen Nadelbaum u. s. w. wird Niemand verkennen, der den Typus einmal erkannte. Andere aber sind so unter sich verschieden, daß an eine gleichartige Physiognomie der Familie gar nicht zu denken ist. So ähnelt z. B. eine Abtheilung der Wolfsmilchgewächse den Cacteen, eine andere den krautartigen Weidenarten, eine dritte bildet große Bäume von auffallender Verschiedenheit. Ja bis zu den Arten herab wird die allgemeine Physiognomie der Gewächse immer ungleichartiger. So unterscheidet z. B. das geübte Auge des Obstzüchters auf den ersten Blick die hunderterlei Spielarten eines Obstbaumes, ohne doch sagen zu können, worin das beruht. Hundert Kleinigkeiten, Aststellung, Laubform, Blüthe, Fruchtgestalt, Färbung, Wuchs u. s. w. bedingen sofort den verschiedensten Ausdruck. Und doch erkennt das Auge auf einem allgemeineren Standpunkte sofort auch wieder die nahe Verwandtschaft aller zusammen. Deutsche, welche nach Nordamerika kommen, sind erstaunt, dort dieselbe Pflanzendecke wie in ihrer alten Heimat wiederzufinden. Alles wie bei uns! hat schon Mancher gerufen, und doch beherbergt jenes Land eine Menge ganz verschiedener Arten. Es geht aus dem Ganzen hervor, daß es ebenso eine individuelle wie eine allgemeine Physiognomik der Gewächse gibt und daß diese immer gleichartiger wird, je kleiner die Gruppe der Pflanzenfamilie ist. Mit andern Worten, die Familie besitzt einen ungleichartigeren Ausdruck als die Gattung, diese einen ungleichartigeren als die Art, diese einen ungleichartigeren als die Spielart. Da jedoch, wie bereits bemerkt, das Künstler- und Völkerauge mehr das Allgemeinere anschaut, so ist es hier in der Ordnung, uns mehr mit den bestimmenden Typen der Familien, als ihren Gattungen und Arten zu beschäftigen.


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