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1. Kapitel.
Am Telephon.

Frau Forbes, Herrn Evringhams Haushälterin, wurde eines Nachmittags ans Telephon gerufen. Sie wollte gerade zum zweiten Stock hinaufsteigen und liebte es nicht, gestört zu werden; deshalb klang ihr »Hier« reichlich ungeduldig und kurz.

»Frau Forbes?«

»Ach, Sie sind es, Herr Evringham,« antwortete sie mit völlig veränderter Stimme.

»Lassen Sie, bitte, Juwel ans Telephon kommen.«

»Jawohl, gnädiger Herr.«

Sie legte den Hörer aus der Hand, ging an die Treppe und rief laut:

»Juwel!«

»Der kleine Racker,« stöhnte sie, »wenn ich nur wüßte, ob er oben ist; ich muß freilich sowieso hinauf. Juwel!« rief sie noch lauter.

»Ja–a!« klang es leise von oben, dann öffnete sich eine Tür. »Ruft mich jemand?«

Frau Forbes stieg langsam die Treppe hinauf, während sie die Weisung erteilte: »Komm' rasch herunter, Juwel; Herr Evringham ruft dich ans Telephon!«

»Meine Güte!« rief das Kind; die Füße berührten kaum den dicken Teppich, als es die Treppe hinunter- und an der Haushälterin vorübersauste.

»Vielleicht kommt er zum Reiten heraus.«

»Nichts würde mich weniger überraschen,« bemerkte Frau Forbes trocken und ging weiter.

Juwel huschte ans Telephon und nahm den Hörer auf.

»Hallo, Großpapa, kommst du heraus?« fragte sie.

»Nein, ich dachte, es würde dir vielleicht Spaß machen, hereinzukommen.«

»Wohin? Nach Newyork?«

»Ja.«

»Was wollen wir dort tun?« rief sie lebhaft.

Herr Evringham saß in seinem Privatkontor am Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt und lächelte. Er sah im Geiste den Gesichtsausdruck der Kleinen so deutlich vor sich, als sei er nicht meilenweit von ihr getrennt. »Wir wollen erst mal irgendwo zu Mittag essen. Wo meinst du? Im Waldorf-Hotel?«

Juwel hatte das Wort nie gehört.

»Gibt es da Nesselrode-Pudding?« fragte sie mit gespanntem Interesse.

Frau Forbes hatte sie einmal mit zur Stadt genommen und sie in einem Restaurant damit traktiert.

»Vielleicht. – Weißt du, ich habe vom Schiffsbureau Nachricht bekommen. Das Schiff soll heute abend einlaufen.«

»O Großpapa! Großpapa! Großpapa

»Sachte, sachte! Beschädige das Telephon nicht … Ich höre dich durch das Fenster.«

»Wann soll ich kommen? O, o, o!«

»Warte, Juwel, sei nicht so aufgeregt. Hör' zu. Sag' Sek, er solle dich begleiten und dich an mein Bureau bringen; ihr müßt mit dem 3 Uhr-Zug fahren.«

»Ja, Großpapa! Bitte, warte einen Augenblick. Was meinst du, wäre mein seidenes Kleid wohl zu fein?«

»Gar nicht, mach' dich nur fein; laß uns in vollem Staate glänzen.«

»Schön.« Juwels Stimme zitterte.

»Adieu!«

»Ach, Großpapa, noch eins: Darf ich Annabel mitbringen?« – Keine Antwort.

Mit unsicherer Hand hängte Juwel den Hörer wieder an den Apparat. Dann lief sie durch das Haus hinaus ins Freie; alle Türen ließ sie hinter sich offen, was ihr von Frau Forbes, die mit Argusaugen auf Fliegen fahndete, einen scharfen Tadel zugezogen hätte.

Draußen flog sie auf den Stall zu und stürmte wie ein kleiner Wirbelwind zu Sekiel in die Geschirrkammer hinein.

»Zieh' dein bestes Zeug an, Sek,« rief sie und hüpfte von einem Fuß auf den anderen, »Vater und Mutter kommen!«

»Bist du von Kautschuk, du Quirl, du?« fragte der Kutscher lächelnd. »Mit welchem Zuge?«

»Drei Uhr, du sollst mich nach Newyork bringen; Großpapa hat es gesagt, an sein Kontor; das Schiff kommt heute abend. Mach' dich, bitte, schnell fertig, Sek. Ich will mein seidenes Kleid anziehen.«

»Halt' mal, Kleines,« – Juwel war schon halb draußen – »ich soll wirklich mit dir in die Stadt fahren? Ist das auch sicher und kein Versehen? Ich will mich doch nicht erst so schön machen, daß ich alle anderen aussteche und nachher ist die Mühe umsonst gewesen.«

»Großpapa wünscht, daß du mich an sein Bureau bringst, das hat er gesagt,« entgegnete die Kleine ernsthaft. »Laß uns doch, bitte, bald gehen!«

Wie ein Pfeil schoß sie ins Haus zurück und rief, während sie die Treppe hinaufstieg, nach Frau Forbes.

Die Haushälterin erschien in der Tür des Vorderzimmers, aus dem Frau Evringhams Koffer vor zwei Tagen hinausgetragen worden waren, und Juwel, mit hochroten Backen und leuchtenden Augen, berichtete ihr die Neuigkeit.

Frau Forbes war sofort bei der Sache. »Komm' rasch, daß ich dir helfen kann, Meine Güte, heute abend! Ob sie wohl noch zu Abend essen wollen, wenn sie herauskommen?«

»Das weiß ich nicht! Das weiß ich nicht!« sang Juwel nach improvisierter Melodie, während sie voraussprang.

»Ich glaube kaum,« murmelte Frau Forbes vor sich hin, »die Zollabfertigung nimmt so viel Zeit in Anspruch. Sonderbar, daß Herr Evringham dich überhaupt mitnimmt. Du wirst höchstwahrscheinlich vor Mitternacht nicht nach Hause kommen.«

»Wird das ein Spaß werden!« rief das Kind und zog eilends das karierte, seidene Kleid aus dem Schranke.

»Mir scheint dein Flanell-Matrosenkleid für diesen Zweck viel passender, Juwel.«

»Großpapa sagte, ich dürfte mein seidenes anziehen. Ich gehe doch zum Essen mit ihm, und das ist gerade wie eine Gesellschaft, und ich muß mich ganz besonders gut benehmen, meinen Sie nicht auch?«

»Gewiß; mach' dich nur nicht schmutzig, wenn du dich am Kai hinsetzt. Wirst es wohl doch tun,« fuhr Frau Forbes mit ergebenem Seufzer fort, während sie Juwels dicke kleine Zöpfe löste.

»Denken Sie mal, wie kurze Zeit uns Cousine Heloise nur fehlen wird,« sagte die Kleine, »vorgestern ging sie fort, und nun wird schon morgen Mutter mein Haar flechten.« Ein Seufzer des Entzückens begleitete diese Worte.

»Wenn das alles war, wozu du deine Cousine Heloise brauchtest – nur um dein Haar zu flechten – das könnte ich mit der Zeit wohl ebenso schön machen wie sie.«

»Was hat Heloise nicht alles für mich getan, und ich werde sie immer lieb haben,« antwortete das Kind schnell. »Ich meinte nur, ich brauchte Sie dann nicht lange mit meinem Haar zu quälen.«

»Ich mache es aber doch ganz gut, nicht wahr?«

»Ja, das tun Sie, – so ganz, ganz fest. Wissen Sie noch, was ich Ihnen für Mühe machte, als ich kam; jetzt ist es doch ganz anders?«

»Ja, recht vieles ist jetzt ganz anders,« entgegnete Frau Forbes. »Was glaubst du wohl, Juwel, wie lange wirst du noch bei uns bleiben?«

Das kleine Gesicht wurde plötzlich ernst.

»Ich kann es nicht sagen, weil ich nicht weiß, wie lange Vater und Mutter bleiben können.«

»Wirst du an dieses Zimmer, in dem du so viele Wochen gewohnt hast, zurückdenken, wenn du wieder in Chicago bist?«

»Ja, ich werde oft daran denken,« sagte das Kind. »Ich wußte, daß dieser Besuch bei Großpapa schön sein würde, und so ist es gewesen.« Sie sah im Spiegel zu dem Gesicht der Haushälterin auf und bemerkte, daß deren Lippen verdächtig zuckten und die Augen ihr voll Tränen standen.

»Sie werden nicht einsam sein, Frau Forbes,« sagte Juwel. »Großpapa hat mir erzählt, Sie wollten diesen Sommer, wenn Großpapa das Haus zuschließt und auf Reisen geht, mit Sek im Stall wohnen bleiben.«

»O je, das wohl, Juwel, aber ich überlegte eben, daß du in einer Woche, oder vielleicht schon eher, fort sein wirst.«

»Und tut es Ihnen leid, daß ich nun bald fort muß? Wie nett von Ihnen,« sagte das Kind. »Ich gebe mir Mühe, gar nicht an das Fortgehen zu denken, denn es macht mich jedesmal so traurig. In Chicago fliegt soviel Ruß umher, wissen Sie, und wir haben keinen Garten, und wenn ich an den Himmel und alle Bäume hier denke und an die Schlucht – und nun gar noch an Großpapa und Sie und Sek und Essex Maid, – dann muß ich mir ordentlich vornehmen, nicht traurig sein zu wollen und an Vater und Mutter denken und an Stern und all das andere Schöne! Ich glaube, Stern wird der Park gut gefallen.« Juwel sah verträumt ins Weite und schüttelte den Kopf. »Wenn ich abreise, muß ich mir sicher immer und immer wieder vorsagen: ›Vor mir sind grüne Auen‹.«

»Was meinst du damit, Kind?«

»Sie kennen doch den Psalm: ›Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser‹?«

»Ja.«

»In unserm Hymnenbuch heißt es in einer Hymne: ›Vor mir sind grüne Auen‹; und Mutter und ich sagten uns das jeden Morgen beim Aufwachen vor, um uns daran zu erinnern, daß die göttliche Liebe uns den ganzen Tag führen würde.«

»Ich bin gespannt auf deine Mutter,« sagte Frau Forbes nach einer Pause.

»Sie werden sie heute abend sehen,« sagte Juwel plötzlich wieder fröhlich, »ach, Frau Forbes, was meinen Sie, könnte ich wohl Annabel mit nach Newyork nehmen?«

»Was hat Herr Evringham dazu gesagt?«

»Als ich ihn fragen wollte, war er schon fort.« Juwel sah sehnsüchtig nach dem Stuhl hin, auf dem die Puppe saß, die Füße einwärts, den sanften Blick auf die Tapete gerichtet. »Sie würde sich so freuen.«

»Ach, es ist eine angreifende Tour für Kinder, und es wird spät werden,« entgegnete Frau Forbes, »und außerdem,« fuhr sie, auf einen glücklichen Einfall hin, fort, »möchtest du doch sicher gern deine Hände frei haben, um deiner Mutter die Taschen tragen zu helfen, nicht wahr?«

»Ja, das ist richtig,« pflichtete Juwel bei, »Annabel würde ihrer Großmutter zuliebe auf alles verzichten!«

Die Zopfbänder waren fertiggebunden; die Kleine hüpfte davon und kniete vor der Puppe nieder, umarmte und küßte sie, indem sie ihr die Sachlage, vor lauter Aufregung etwas unzusammenhängend, erklärte.

Aber Annabel fügte sich, dank ihres unzerstörbaren seelischen Gleichgewichts, gehorsam, wenn auch ein wenig benommen.

»Komm' her und zieh' deine Schuh' an, Juwel.«

»Meine besten?«

»Natürlich, von allem das Beste,« sagte Frau Forbes gutgelaunt.

Als Juwel in vollem Staate war, besah sie sich befriedigt im Spiegel. Sek, in einem feinen neuen Sommeranzug und mit einem neuen Hut, stellte sich auch bald ein, und Frau Forbes sah den beiden nach, als sie die Auffahrt hinuntergingen.

»So, nun darf ich kein Gras unter meinen Füßen wachsen lassen,« murmelte sie vor sich hin. »Ich dachte, ich hätte bis morgen abend Zeit, um alles auszuführen, was Herr Evringham mir aufgetragen hat, – aber ich werde auch wohl so damit fertig.«

Juwel und Sek hatten reichlich Zeit bis zur Ankunft des Zuges. Der Kleinen Geduld wurde hart auf die Probe gestellt, bis endlich die große Blendlaterne in Sicht kam. In Rücksicht auf ihr seidenes Kleid und den Florentiner mit dem Gänseblumenkranz hüpfte und tanzte sie nicht umher, sondern stand sittsam mit Sek auf dem Bahnsteig. Der Kutscher beobachtete ihren fröhlichen, erwartungsvollen Gesichtsausdruck.

»Erinnerst du dich des Tages, an dem du hier ankamst, Liebling?« fragte er.

»Ja. Wie lange ist es her, seitdem du mich mit Dick abholtest, und wie sauste er mit uns nach Hause!«

»Ganz recht, und nun freust du dich, daß du wieder von uns fortkommst.«

»Das tu' ich nicht, Sek.«

»Na, sieh' mal in den Spiegel und überzeug' dich davon.«

Gerade in dem Augenblick fuhr der Zug ein, und Sek hob die Kleine auf das hohe Trittbrett. Zu ihrer Freude war noch ein Fensterplatz für sie frei, und ihr Begleiter setzte sich neben sie.

»Jawohl,« fuhr er fort, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, »für uns und andere ist es ein bißchen hart, dich so vergnügt über die bevorstehende Veränderung zu sehen.«

»Ich freue mich nur auf Vater und Mutter,« erwiderte Juwel.

»Sind wohl sehr nette Leute, was?«

Juwel nickte bedeutsam. »Warte nur, du wirst es ja selbst sehen,« sagte sie eifrig.

»Wem siehst du ähnlich?«

»Vater. Mutter ist viel hübscher als Vater.«

»So, ist sie eine Schönheit?«

»N–ein, das glaube ich nicht. Sie ist nicht so schön wie Cousine Heloise, und doch ist sie hübsch.«

»Das ist wohl der Grund, daß dein Großvater dich so gern um sich haben mag –, weil du nach der väterlichen Seite schlägst.«

»Ach,« seufzte Juwel, »ich hoffe, Großpapa mag meine Nase leiden, ich nicht.«

Sek lachte. »Er scheint sie erträglich zu finden. Nächste Woche werden wir wohl einen netten Parteikampf erleben.«

»Was ist das?«

»Hm; jemand dürfte es Irrtum nennen. Ich weiß nicht recht, ob Herr Evringham nicht stark mit seiner eigenen Nase beschäftigt sein wird. Heute abend wird sie ihm schon zu schaffen machen. Das grünäugige Monstrum wird in ihm lebendig werden, wenn ich ihn richtig taxiere.« Juwel sah zweifelnd auf. Sek war ein Spaßvogel, natürlich, war er doch ein Mann; aber wohin steuerte er jetzt?

»Welches grünäugige Monstrum?« fragte sie.

»Ach das, was in den Herzen der Menschen wohnt und sich zeitweilig versteckt,« erwiderte Sek.

»Meinst du Eifersucht, Neid, Haß oder Bosheit?« fragte Juwel so geläufig, daß ihr Begleiter die Augen aufriß.

»Heiliger Bimbam! Was weißt du von solcher Ausrüstung?« fragte er.

Das Kind nickte weise. »Ich weiß, daß die Menschen manchmal an so etwas glauben, aber von Großpapa brauchst du das nicht zu denken, denn er tut es nicht!«

»Alles in Ordnung bei Herrn Evringham,« gab Sek zu, »aber er wird nicht mehr allein einen Stein bei dir im Brett haben. Vater und Mutter werden für dich jetzt alles sein.«

Die Kleine schwieg einen Augenblick, dann begann sie ernsthaft: »Großpapa weiß sicher, wie es mit dem Lieben ist. Je mehr Menschen man lieb hat, desto mehr kann man lieben. Ich kann Vater und Mutter auch noch mehr lieb haben, weil ich Großpapa lieben gelernt habe, und er kann sie auch lieber haben, weil er mich lieben gelernt hat.«

»Hm, wir werden ja sehen,« bemerkte Sek lächelnd.

»Redet dir der Irrtum etwas vor, Sek? Belastest du Großpapa mit solch' falschen Gesetzen?«

»Meinst du das? Dann will ich gleich aufhören. Du sollst mich nicht so bald wieder dabei ertappen, daß ich mir so etwas erlaube. Brrr!« machte er, als lockere er die Zügel, während die Lokomotive langsam in eine Station einlief.

Juwel lachte, und von da an schwatzten sie bis zum Ende der Fahrt über ihr Pony Stern und andere weniger interessante Pferde und über Juwels Freude, ihrer Mutter alles Schöne in Bel-Air-Park zu zeigen.


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