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4. Kapitel.
Auf der Veranda.

Wie glücklich fühlte sich Juwel an diesem Abend in dem hübschen Rosengemach, in dem ihre Mutter sie entkleidete, während Vater und Großvater hinuntergingen.

Es war so süß, sich wieder wie ein Baby helfen und umfassen zu lassen. Als sie dann im Bett lag und zusah, wie ihre Mutter die Blumen ins Badezimmer brachte und alles aufräumte, versuchte sie, ihr von dem zu erzählen, womit sich ihre Gedanken am meisten beschäftigten. Frau Evringham legte sich zu ihr, und Juwel nestelte sich in ihre Arme und küßte ihr die Wange.

»Ich bin viel zu glücklich, um schlafen zu können,« erklärte sie, seufzte tief, und im Augenblick waren der hübsche Raum und die hübsche Mutter ihr entschwunden.

Frau Evringham hielt das schlafende Kind im Arm; Dankbarkeit erfüllte ihr Herz. Ihr Leben war nie frei von Sorge gewesen; früher nicht, als sie als junges Mädchen im Hause ihrer verwitweten Mutter lebte und auch dann nicht, als sie die Gattin des leichtlebigen, prinzipienlosen jungen Mannes geworden, der sie und ihr Kind verlassen und damit den Kelch der Bitterkeit bis zum Rande für sie gefüllt hatte; aber tapfer hatte sie weitergekämpft. Ihre Mutter war gestorben, und bald nachher war das Licht der christlichen Wissenschaft auf ihren Weg gefallen. Dadurch gekräftigt, waren ihr wieder Gesundheit und frischer Mut zuteil geworden, und das Leben fing an, ihr Blüten zu bieten, als ihr Gatte reuig zurückkehrte. Für kurze Zeit sorgte sie sich seiner tadelnswerten Gewohnheiten wegen; aber er schämte sich aufrichtig; und als er sah, wie der Charakter der hübschen Frau, die er vor sechs Jahren verlassen, sich entwickelt hatte, regte sich das Mannesgefühl in ihm. Zu ihrer Freude fing er an, sich für den Glauben zu interessieren, der in ihr solche Wandlung vollbracht, und dann lösten sich alle ihre Zweifel an dem Ergebnis. Von dem Augenblick an, in dem sie eine geschäftliche Stellung für ihn erlangt hatte, ward es sein Ehrgeiz, seinen rechtmäßigen Platz in der Welt einzunehmen und seine Familie vor rauher Berührung zu schützen. Wenn er sich auch noch auf Julias Urteil stützte, und sie wohl wußte, daß sie die menschliche Triebfeder aller ihrer gemeinsamen Angelegenheiten war, hegte sie doch die Überzeugung, daß er sich um das Rechte bemühte, und diese Erkenntnis versüßte ihr das Leben.

In diesem Heim, das ihren unverwöhnten Augen wie ein Palast erschien, mit dem wiedergewonnenen Kinde im Arm, dankte sie aus vollem Herzen für das Glück dieser Stunde. Ein oder zwei genußreiche Tage in dieser Umgebung, – dann wollten Harry und sie Herrn Evringham von der Bürde befreien, die sie ihm auferlegt hatten.

Er hatte sie mit Anstand getragen; daran war kein Zweifel. Er hatte sogar des Guten zuviel getan, indem er Juwel ein Pony schenkte. Wie ein Pony in das karge, geschäftige Leben, in die Wohnung in Chicago passen sollte, war Julia nicht klar; aber ihres Kindes liebster Wünsch war damit erfüllt, und es blieb nichts übrig, als diese Tatsache anzuerkennen und sich ihrer zu freuen. Nach alledem mußte Harrys Vater mehr väterliche Liebe besitzen, als ihr Gatte ihm je zugetraut hatte; denn selbst bei oberflächlichster Bekanntschaft konnte man sehen, daß es dem alten Herrn sehr erhebliche Schwierigkeiten bereitet haben mußte, seine Lebensweise und seine Geschmacksrichtung denen eines Kindes anzupassen, und die Tatsache, daß Juwel sich bei ihm ganz zu Hause fühlte, war ein beredtes Zeugnis, wie sehr Herr Evringham sich Harry zuliebe beherrscht haben mußte.

Ihre Gedanken eilten weiter und waren beim Geschäft und bei allem, was sie in Chicago erwartete, angelangt, als Harry ins Zimmer trat. Sie erhob sich und betrachtete, Hand in Hand mit ihm, das schlafende Kind.

Harry beugte sich nieder und küßte die gerötete Wange.

»Weck' sie nicht auf, Liebster,« sagte Julia.

»Die aufwecken? Ein Donnerschlag würde das kaum bewirken, glaube ich. Vater und sie haben eine ordentliche Runde gemacht! Bei Waldorf diniert, im Park und in den Schwanenböten spazierengefahren und dann am Kai herumgestanden. Meine Güte! Die schläft vierundzwanzig Stunden durch.«

»Wie überaus freundlich von ihm,« erwiderte Julia. »Sag' mir niemals wieder, Harry, daß dein Vater dich nicht lieb hat.«

»Ach, das Lieben hat meinem Vater nie recht gelegen. Aber hoffentlich kommt es noch,« entgegnete der junge Mann und legte den Arm um sein Weib. »Erinnerst du dich des letzten Abends, an dem wir Juwel auch im Schlaf beobachteten? Mir ist er noch ganz gegenwärtig. Es war in dem elenden Hotel, vor unserer Abreise.«

»Ach, Harry!« Julia barg ihr Gesicht einen Augenblick an seiner Schulter. »Wirst du jemals vergessen, wie froh wir waren, als ihr erster Brief kam, der uns bewies, daß sie sich glücklich fühlte? Denk' an den Indianertanz, den du in unserm Zimmer aufführtest und das Entsetzen unserer Wirtin? Dein Vater nennt es vielleicht nicht so, aber seine Fürsorge und Aufmerksamkeit beweisen Liebe, und ich werde ihm die Güte, die er Juwel bewiesen, allezeit danken.«

Harry schüttelte den Kopf. »Ich will mich hängen lassen, wenn irgendein Mensch unfreundlich gegen sie sein könnte,« bemerkte er.

»Du bist kein älterer Mann, der sich durch langes Alleinleben bestimmte Gewohnheiten angeeignet hat. Ich bin überzeugt, es ist ihm sehr sauer geworden. Denk' doch, was er heute nachmittag alles für sie getan hat.«

»Ach, er mußte doch die Zeit auf irgendeine Weise totschlagen, und er konnte es ihr doch nicht gut versagen hineinzukommen, um uns abzuholen. Außerdem geht sie ja nun bald fort, und Vater liebt es, jeden anständig abzufinden. Er tat es auch bei anderen Leuten, als Lorenz und ich klein waren. Uns hat er nie in den Schwanenböten fahren lassen.«

»Arme, kleine Knaben!« murmelte Julia.

»Ach nein, gar nicht,« entgegnete Harry mit höhnischem Lächeln. »Wir fuhren allein in den Böten und besuchten eine Menge andere, weniger malerische Plätze. Vaters Portemonnaie stand immer offen, und solange wir ihm nicht in den Weg kamen, war es ihm einerlei, was wir trieben. Hübscher alter Besitz dies, nicht wahr, Julia?«

»Wunderhübsch, ja, weit über meine Erwartungen.« Der Ton, in dem sie das sagte, klang ganz eingeschüchtert.

»Mir war es absolut klar, daß Vater mit mir fertig war, und daß ich daher mit Bel-Air abgeschlossen hatte; aber ich bin ein neuer Mensch geworden.«

Zärtlich lächelnd sah er auf seine Frau und drückte sie fester an sich, »und ich habe Vater den Grund gesagt, wodurch und wie es gekommen ist.«

»So, darüber habt ihr euch unterhalten?«

»Ja. Es schien ihn zu interessieren, von meinem Geschäft und von meinen Aussichten zu hören; er stellte eine Menge Fragen, und da ich nun vor knapp einem Jahr eigentlich erst anfing zu leben, konnte ich sie nicht beantworten, ohne ihm auch zu sagen, wer und was mich auf die Füße gestellt hat.«

»Was, Harry, ihr habt wirklich über die christliche Wissenschaft gesprochen?«

»Jawohl, Liebste, und über dich; und ich kann dich versichern, es hat ihn nicht gelangweilt. Wenn ich aufhörte, schloß er eine andere Frage daran, und zuletzt sagte er – denke dir – sagte Vater: ›Es kommt mir faktisch so vor, als würde sie noch einen Mann aus dir machen, Harry‹! Nicht gerade übermäßig schmeichelhaft für mich, das gebe ich zu, aber ich schluckte es ohne Widerstreben hinunter. Es ist doch klar, daß er dich in zwei Tagen nicht halb kennenlernen kann, darum hielt ich es für richtig, ihm einige Hauptsachen zu erzählen, und ich versichere dich, sie machten Eindruck. Wenn es ihm danach gefiel, mich ein wenig herabzusetzen, so hatte ich ja nichts anderes verdient, und ich war es zufrieden.«

Sie sahen sich tief in die Augen, und Harry fuhr in gedämpftem Tone fort: »Du hast viel für mich getan, Julia; aber das Allergrößte, das Wunderbarste und für mich Bedeutsamste, wofür ich dir in alle Ewigkeit danken würde, wenn es das einzige wäre, das ist, daß du mich in der christlichen Wissenschaft unterwiesen und mir gezeigt hast, wie sie mir meines Kindes Liebe und Achtung erhalten hat, während ich sie stündlich verscherzte. Bis zu meinem letzten Lebenstage will ich arbeiten, um dir meine Dankbarkeit dafür zu beweisen.«

»Liebster!« flüsterte sie.

Als es am nächsten Morgen Zeit zum Aufstehen war, lag Juwel noch in tiefem Schlaf. Ihre Eltern betrachteten sie zärtlich, ehe sie hinuntergingen.

»Weißt du, mir ist es jetzt eine kleine Erleichterung,« sagte Julia mit sanftem Lächeln, »daß sie nicht mit uns hinuntergeht. Das kleine Ding ist reichlich rücksichtslos gegen ihren Großvater; und obgleich er sich augenscheinlich zusammennimmt, um ihre energische Art zu ertragen, macht es mich doch ein wenig ängstlich. Er hat es solange geduldet, daß ich sie fortnehmen möchte, ehe seine Langmut erschöpft ist. Wann meinst du, daß wir wieder abreisen können, Harry?«

»Morgen oder übermorgen. Du kannst vielleicht schon heute packen. Ich müßte ja eigentlich gleich fort, aber ich will nicht treiben.«

»Ach ja, laß uns morgen gehen,« sagte Julia eifrig.

Die Westminstertreppenuhr schlug, als sie hinuntergingen.

Herr Evringham erwartete sie im Eßzimmer. Während er ihnen guten Morgen wünschte, sah er erwartungsvoll über ihre Köpfe hinweg nach der Tür. Frau Forbes begrüßte sie respektvoll und wies ihnen ihre Plätze an.

»Wo ist Juwel?« fragte der alte Herr.

»Im Traumland. Ein Kanonenschuß würde sie nicht aufwecken,« antwortete Harry fröhlich.

»Hm!« machte sein Vater.

Sie setzten sich, und Julia bewunderte die entzückende Aussicht.

»Ja,« sagte der alte Herr, »es tut mir leid, daß ich heute morgen nicht zu Hause bleiben und Sie im Park umherführen kann; ich muß das Harry und Juwel überlassen. Da es gestern abend reichlich spät wurde, habe ich meinen Ritt heute morgen nicht gemacht. Wenn du die Stute reiten willst, Harry, – Sek weiß, daß du nur zu befehlen brauchst. Sonst reitet niemand Essex Maid außer mir, aber ich will dir zu Gefallen einmal eine glänzende Ausnahme machen.«

»Ich weiß die Ehre zu würdigen,« erwiderte Harry leichthin, ohne in Wirklichkeit von der Größe dieses Opfers eine Ahnung zu haben.

»Wenn du deine Frau spazierenfahren möchtest, – nimm den leichten Wagen. Das Kind wird ihr Pony vorführen wollen und euch wahrscheinlich zu einem Ausflug überreden. Sag' ihr, sie solle sich Zeit lassen und nicht zuviel für einen Tag vornehmen.«

Nach dem Frühstück begab sich das Trio auf die Terrasse, und Julia bewunderte den dichten, taufrischen Rasen und die vollen Laubkronen. »Mir scheint, der Park wird immer schöner,« sagte Harry, als er das Entzücken seiner Frau über die schöne Landschaft wahrnahm.

Tiefe Lehnstühle, bequeme Tische, Matten und ein Rohrsofa machten einen Teil der Terrasse wohnlich. »Wie wird es Juwel hiernach in unserer Mietswohnung gefallen?« konnte Julia nicht umhin, sich in Gedanken zu fragen. Sie wunderte sich nicht mehr, daß die Kleine sich auch ohne Spielgefährten hier glücklich gefühlt hatte. Wie arm an Phantasie müßte ein kleines Mädchen sein, das sich mit ihrer Puppe in diesem Paradiese nicht ein Feenreich schaffen könnte!

»Wollt ihr euch nicht setzen?« fragte der Makler. Die beiden folgten der Aufforderung, nachdem er Platz genommen. »Wir müssen uns ein wenig über deine nächsten Pläne klar werden. Wie weit ist die Grenze deiner Zeit gesteckt, Harry, was sagtest du gestern?«

»Ich müßte eigentlich morgen reisen, Vater.«

Herr Evringham nickte und richtete dann seinen Blick fragend auf seine Schwiegertochter. »Und Sie, Julia?«

Sie lächelte ihm freundlich zu, – und er fand, daß das Tageslicht ihrem guten Aussehen keinen Abbruch tat.

»Juwel und ich gehen natürlich mit ihm,« antwortete. sie, völlig überzeugt, damit seinen Wünschen entgegenzukommen.

»Hm, in der Tat! Es scheint mir, als würde Ihnen eine Ferienzeit recht gut tun.«

»Wieso? Komme ich nicht eben von einer Reise nach Europa zurück?«

»Freilich, das stimmt, aber nach dem, was Harry mir erzählt, haben Sie mit dieser Jagd nach Modesachen und Stoffen und allem übrigen täglich ungefähr die Arbeit zweier leistungsfähiger Männer bewältigt.«

»Ja, das hat sie,« pflichtete Harry bei, »ich war zu sehr Neuling, um ihr viel helfen zu können.«

»Aber deine eigene Branche verstehst du doch,« wandte sich sein Vater plötzlich an ihn.

»O ja, das wohl. Ich denke, die Firma wird sehen, daß ich der rechte Mann am rechten Platze bin.«

»Warum wollen Sie dann nicht Ferien nehmen, Julia?« fragte der Makler noch einmal.

»Harry macht sich brillant,« entgegnete sie sanft, »aber von dem Gehalt, das er jetzt bezieht, können wir nicht leben. Fürs erste muß ich ihm noch helfen. Eines Tages werde auch ich freie Herrin meiner Zeit sein.« Der Makler fing den vertrauensvollen Blick auf, den sie seinem Sohne zusandte.

»Ich sammle Mut, um Zulage zu fordern,« sagte Harry, »es fällt mir jeden Tag schwerer, meine Frau so arbeiten zu sehen und als großer, stämmiger Mensch nicht imstande zu sein, es zu verhindern.«

Sein Vater blickte ernst auf die junge Frau und sagte: »Lassen Sie ihn jetzt den Anfang machen. Er braucht nicht länger an Ihrem Schürzenband zu hängen.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Julia zaghaft.

»Bleiben Sie eine Zeitlang hier bei mir und lassen Sie Harry nach dem Westen gehen. Ich möchte Sie und Juwel mit an die See nehmen.«

»Hurra!« schrie Harry mit strahlendem Gesicht, »Julia, du wirst dich selbst nicht mehr kennen, wenn du mit einem Sonnenschirm am Strande spazierst, während dein armer, zarter Gatte sich in der schmutzigen Stadt plagt und müht. Gut für dich! Vater, hilf ihr, die hübsche Nase hochzutragen, herauszukommen aus der Tretmühle, in der sie sich so viele Jahre geplagt hat, daß sie gar nichts anderes mehr kennt. Hurra, Julia!« In seiner Begeisterung erhob er sich und beugte sich über den Stuhl zu seiner erstaunten Frau.

»Morgens wachst du auf und liest einen Roman statt deines Anschreibebuchs,« fuhr er fort. »Die Damen von Chicago sind um diese Zeit bereits alle mit Sommertoiletten versorgt. Spiel' auch einmal die Dame und komm' zu mir zurück, braungebrannt wie eine Kastanie. Nur zu!«

»Aber Harry, wie könnte ich? Was würdest du anfangen?«

»Ich will mich hängen lassen, wenn ich dir nicht zeige, was ich leisten – sogar gut leisten kann.«

»Aber erst müßte ich doch nach Hause!« stammelte die verwirrte Frau.

»Ganz und gar nicht. Ich besorge alles, das Geschäft und die Wohnung und, um offen zu sein, unnützes Fahrgeld können wir uns nicht leisten.«

»Aber, Vater,« wandte sich Julia an den alten Herrn, »wäre es richtig, Harry das Kind noch länger zu entziehen?«

»Vollkommen richtig, absolut,« gab der Makler entschieden zurück.

Er kann sich unsere Gefühle für Juwel natürlich nicht vorstellen, dachte Julia.

In dem Augenblick kam der mit einem großen, braunen Pferde bespannte Brougham die Auffahrt herauf. Seks Augen richteten sich neugierig auf die Gäste, aber seine Haltung blieb steif und unbeweglich.

Der Makler erhob sich. »Ich muß jetzt fort, sonst versäume ich meinen Zug. Denkt über meinen Vorschlag nach. Es gibt nur eine Seite, von der ihr ihn ansehen könnt, und sie ist die einzig richtige. Der Anfang ist gemacht, und jetzt ist es für Julia an der Zeit, Ferien zu nehmen, ehe sie wieder an die Arbeit geht. Überdies wird Harry Gehaltserhöhung bekommen, und Julia wird gar nicht wieder ins Joch zurückmüssen. Guten Morgen. Ich will versuchen, meine Geschäfte so schnell wie möglich zu erledigen, um früh wieder hier sein zu können. Ich hoffe, ihr werdet es euch inzwischen bequem machen.«

Frau Evringham sah zu Sek hinüber. Er war das Spiegelbild der augenblicklich herrschenden Kutschermode und ein Muster an Haltung, aber nichts in seinem glattrasierten, unbewegten Gesicht wies auf den Kameraden hin, von dem Juwel in ihren bruchstückartigen Briefen berichtet hatte.

»Nun, Harry!« rief sie atemlos, als der Wagen dahinrollte – ihr Gesichtsausdruck entlockte ihrem Gatten ein herzhaftes Lachen –, »nie im Leben hat mich etwas so überrascht. Wie selbstlos er ist! Ist es denkbar, Harry, daß wir deinen Vater gar nicht richtig gekannt haben? Er selbst schlägt vor, ein störendes Element, wie unsere lebhafte Kleine, noch länger zu behalten!«

»Ach, ich habe nie geglaubt, daß er sich sehr mit Juwel geplagt hat,« erwiderte Harry obenhin. »Du machst einen Berg aus einem Maulwurfshügel. Ein Kind braucht nichts als einen weiten Raum, um sich auszutoben, und den hat Juwel hier gehabt. Er weiß, daß sie ihm nicht im Wege sein wird, wenn du hier bist. Laß uns seinen Vorschlag annehmen. Er will wahrscheinlich Kapital aus dir schlagen nach allem, was ich ihm gestern abend erzählt habe. Für seinen Stolz ist es eine Erleichterung, daß ich seinem Namen keine Schande machen werde. Er möchte auch etwas für dich tun; das ist das Ganze in einer Nußschale, und du solltest es ihm nicht wehren, Julia!«

Fröhlich nahm Harry sein Weib in die Arme und drückte sie zärtlich an sich.

»Glaubst du, daß ich meine Scheu vor ihm überwinden werde?« fragte sie halb lächelnd, aber mit ernstem Ton. »Ich bin so wenig gewöhnt an Menschen, die niemals lächeln, und die mich nur zu dulden scheinen. Ach, wenn du doch auch nur hierbleiben könntest, Harry, dann wären es wirklich Ferien!«

»Hört, hört! Wo sind deine Prinzipien? Wer fürchtet sich denn jetzt?«

»Aber er ist so vornehm und unnahbar. Wie werde ich Juwel hindern können, ihm lästig zu fallen.«

Wieder lachte Harry laut. »Sie scheint mir völlig fähig, für sich selbst zu sorgen. Gestern abend im Wagen schien sie weder Zweifel noch Besorgnisse zu hegen, ebensowenig oben im Schlafzimmer, als sie auf ihn zustürzte! Was war das für ein Majestätsverbrechen! Wahrlich, in dem Alter hätte ich eher eine glimmende Zündschnur angefaßt! Was, denkst du, hat sie ihm wohl zugeflüstert?«

»Ich habe keine Ahnung, aber ich war neugierig genug, sie zu fragen, als ich sie zu Bett brachte; sie wollte es mir aber nicht sagen! Sie ging um den Brei herum, – du weißt ja, wie sie es macht, wenn sie lieber nichts sagen möchte, und sie war so verlegen, daß ich noch lachen muß, wenn ich daran denke.«

»Vielleicht handelte es sich um eine Überraschung für uns, zu der sie Vater überredet hat.«

»Nein, das kann es nicht sein, denn ihr letzte Antwort war, sie würde es mir erzählen, wenn sie erwachsen wäre!«

Sie lachten beide. »Nun,« sagte Harry, »jedenfalls ist sie nicht so bange vor ihm, daß man es merkt; und du kannst ihr einen Wink geben, daß sie Vater jetzt nicht mehr zu belästigen braucht, da sie dich hat. Allem Anschein nach hat er sich der armen kleinen Waise warm angenommen.«

»Wie gut ist er zu ihr gewesen!« antwortete Julia mit Nachdruck. »Wenn wir nur mit dir heimfahren könnten, Harry, solange das Verhältnis noch so harmonisch bleibt, ehe es durch irgend etwas getrübt wird!« fügte sie sinnend hinzu.

»Wo bleiben deine Prinzipien?« fragte Harry von neuem. »Du solltest es besser wissen.«

»Ja gewiß, gewiß; aber ich muß immer meine Scheu vor Fremden bekämpfen, und mein Herz klopft, wenn ich denke, du gehst fort und läßt mich hier zurück. Tête-à-tête mit deinem Vater zu sein, ist ein Schreckbild für mich, das muß ich gestehen.«

»Ach, Unsinn; abschlagen können wir sein Anerbieten nicht, und dir wird es so gut tun!«

»Du mußt mir dann meine Sommerkleider schicken.«

»Das werde ich sofort besorgen.«

»Himmel, werde ich es wirklich können?« fragte Julia ungläubig.

»Gewiß. Es würde einfältig sein, solche Gelegenheit nicht wahrzunehmen.«

»Für den Fall,« entgegnete sie resigniert, – »daß es Tatsache wird und keine wilde Phantasie bleibt, müssen wir noch eine Menge Geschäftliches besprechen, Harry. Laß uns die Zeit nutzen, solange Juwel noch schläft.« Sie nahmen ihre Plätze wieder ein und waren bald ganz versunken in Notizen und Pläne.


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