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14. Kapitel.
Robinson Crusoe.

Ein langgestreckter Strand aus weißem, feinem, zusammengetriebenem Sand, ein wohlgeordneter, feierlicher Zug von Wellen, die in zischendem, weißem Schaum zerflossen oder den nackten Füßen eines Kindes nacheilten, das hinüber- und herüberhüpfte und sein Spiel mit ihnen trieb; das war für Juwel der Hauptbegriff von Long Island.

Es war natürlich auch ein Dorf dabei und an des Dorfes Ende ein freundlich aussehendes, altes Landhaus, in dem sie alle wohnten, und in dessen Scheune Essex Maid und Stern Platz gefunden hatten. Dann gab es Spazierritte an jedem schönen Tage über grünes, hügeliges Land und durch Wälder, in denen man eher Muscheln als Blumen fand. Auch lagen dort weite, flache Saatfelder, die in Mondscheinnächten zauberhaft erglänzten; jeder Platz hatte seine Vorzüge für sich; aber der Strand bot dem Kinde die höchste Freude. Herr Evringham hatte im Laufe seines Lebens stets vollen Anteil an dem gesellschaftlichen Treiben in der Sommerfrische genommen. Herren waren dort gewöhnlich wenig vertreten gewesen und daher hochgeschätzt; aber das war gewiß, jetzt verlebte er anstrengendere Ferien als je zuvor.

In Augenblicken der Erregung, und wenn er besonders eindrucksvoll sein wollte, pflegte er seine Schwiegertochter mit »Meine Gnädige« anzureden. Als sie am zweiten Morgen nach ihrer Ankunft in den Dünen saß und die großen grünen Wogen beobachtete, die in endlosem Zuge herangerollt kamen, bemerkte sie ihren Schwiegervater und Juwel in lebhaftem Gespräch am Wasser stehen.

Herr Evringham war eben an den Strand gekommen; das unausgesetzte Rauschen der See machte ein Lauschen unmöglich, aber das Gebaren der Beiden erregte ihre Neugier. Der Badeanzug der Kleinen triefte, ihre rosigen Füßchen wurden von der steigenden Flut überspült; der alte Herr ergriff Juwel bei der Hand und brachte sie zu ihrer Mutter zurück.

»Meine Gnädige,« sagte er, »das Kind darf die Sache nicht übertreiben. Sie sagt mir, sie hat schon eine ganze Weile umhergeplätschert.«

»Ich bin garnicht kalt, Mutter,« erklärte Juwel.

»Hm. Ihre Hände sind kalt wie Froschfüße, meine Gnädige. Ich sehe schon, sie ist eine richtige Wasserratte und wird beständig im Wasser sein wollen; sie behauptet, Sie wären ganz damit einverstanden. Das liegt wohl daran, weil Sie, meine Gnädige, die Sache nicht kennen. Juwel sollte nur einmal am Tage ins Wasser gehen, nur einmal!«

»Ach, Großpapa!« protestierte Juwel, »auch nicht waten?«

»Darüber wollen wir später reden; aber du darfst deinen Badeanzug nur einmal am Tage anziehen.«

Herr Evringham blickte ernst in das glühende Gesicht seines Lieblings. Juwel zuckte mit den nassen Schultern und erwiderte seinen Blick.

»Dann ziehe ich ihn morgens früh an und trage ihn den ganzen Tag?« schlug sie lächelnd vor.

»Zur rechten Zeit,« fuhr er fort, »wenn der Bademeister hier ist. Dann wirst du ins Wasser gehen und deine Mutter hoffentlich auch.«

»Und du auch, Großpapa?«

»Ja, und dann will ich dich lehren über die Wellen zu springen, das habe ich deinen Vater hier auch gelehrt, als er so alt war, wie du jetzt bist.«

»Oh, meine Güte!« Juwel hüpfte auf dem warmen Sand hin und her. »Was muß das für ein Spaß gewesen sein, dein kleiner Junge zu sein!«

Herr Evringham unterließ es, seine Schwiegertochter anzusehen. Er argwöhnte, sie wußte es besser.

»Sieh' mal diese Menge herrlichen weißen Sandes,« sagte er ablenkend. »Der ist zum Spielen für Babys, wie du eins bist, hierhergebracht. Der alte Ozean ist ein zu großer Spielgefährte für dich.«

»Und gerade den Schaum liebe ich so sehr,« antwortete die Kleine sinnend; »ich habe ihn geschmeckt, Großpapa; er ist so salzig!«

Herr Evringham lächelte und sah seine Schwiegertochter an.

»Ja,« sagte Julia, »Juwel hat ein- oder zweimal im Michigansee gebadet und war sehr erstaunt, daß der Atlantische Ozean nicht ebenso schmeckt.«

»Setz' dich mal hier her,« sagte Herr Evringham. »Ich will dir zeigen, was dein Vater vor fünfundzwanzig Jahren so gern tat.«

Juwel setzte sich und sah sehr interessiert zu, wie der alte Herr eine Stelle im Sande aushöhlte und einen Ring darum zog.

»So, siehst du diese kleinen Springer?«

Jetzt blickte auch Julia aufmerksam hin. »Sind sie nicht spaßig, Juwel, gerade wie kleine Hummer?«

»Nur, daß sie weiß sind, anstatt rot,« antwortete das Kind. Ihr Großvater lächelte und fing eines der halb durchsichtigen Geschöpfchen ein.

»Hummer sind im lebenden Zustande grün, wenn sie bei sich zu Hause sind,« sagte er. »Nur wenn sie bei uns gekocht sind, werden sie rot.«

»Wirklich?‹

»Ja. Du hast noch viel zu lernen, Juwel. Der Ozean ist ein famoser Spielkamerad, doch ein rauher. Das ist eins von den Dingen, die du im Gedächtnis behalten mußt.«

»Aber ich darf doch waten, nicht wahr? Ich möchte große Wälle und Gräben machen, in die das Wasser hineinfließen soll.«

»Gewiß. Du kannst Schuhe und Strümpfe ausziehen, wenn es warm genug ist, so wie heute morgen; wenn deine Mutter nichts dagegen hat, daß du deinen Rock naßmachst; aber dein Kleid darfst du nicht ausziehen, dann wirst du dich nicht so leicht vergessen.«

Juwel schmiegte sich zärtlich an den Sprechenden. »Großpapa, du weißt doch, daß ich schon ein ganz großes Mädchen bin. Am ersten September werde ich neun Jahre alt.«

»Ja, das weiß ich.«

»Und außerdem wirst du ja stets dabei sein, wenn ich im Wasser bin.«

»Hm. Nun paß mal auf, wie die Sandflöhe um die Wette jagen.«

»Ach, sind das Sandflöhe? Warte einen Augenblick auf Annabel.« Das Kind ergriff die Puppe, die ganz versunken in die heranrollenden, donnernden Wogen schaute.

Ihre Boa und ihr Federhut waren vor den Motten sicher verwahrt worden. Sie trug ein kleidsames, blau und weißes Badekostüm und ein kokettes seidenes Tuch war ihr um den Kopf geknotet. Augenscheinlich hatte sie, so wenig wie manch anderer Badegast, die Absicht, ihren bestrickenden Anzug naßzumachen, und es wäre sehr gewagt gewesen, mit der Halskette, die an ihrem Halse in der Sonne glitzerte, ins Wasser zu gehen.

»Komm' her, Annabel, und sieh' dir die Babyhummer an,« sagte Juwel. Vorsichtig hielt sie ihr Kind von ihrem nassen Badeanzug fern und setzte es gegen Frau Evringhams Knie.

»Wenn Hummer so hüpfen könnten, würden sie wie Delphine aus dem Ozean herausschießen. Nun wähle dir einen aus, Juwel, und laß uns sehen, welcher gewinnt. Wir wollen sie in die Mitte des Rings setzen und aufpassen, welcher zuerst aus dem Kreis herausspringt.«

Juwel lachte fröhlich in sich hinein, als sie ein Tierchen fing. »Sieh', Mutter, was für komische Augen es hat! – Es sieht so erstaunt aus. Nun hüpf, Kleiner,« fügte sie hinzu, als sie ihn neben den zweiten setzte, den Herr Evringham gefangen hatte. »Auf welchen wettest du, Annabel? Sie meint, Großpapas gewinnt.«

»Und ich wette auf deinen, Juwel,« sagte ihre Mutter; aber sie hatte kaum ausgesprochen, als Annabels Prophezeiung sich bestätigte. Der eine Floh nahm die Umzäunung mit einem kühnen Luftsprung, während Juwels Schützling wie angewurzelt sitzen blieb. Alle lachten, nur Annabel lächelte artig.

Juwel beugte sich über das glotzende Tierchen. »Wenn ich nur wüßte, worüber du so erstaunt bist, Kleiner, dann wollte ich es dir gern erklären,« sagte sie und gab ihm einen sanften Stoß, worauf er zögernd über den Rand kroch.

Sie setzten das Spiel fort, bis Juwels Badeanzug trocken war. Herr Evringham gähnte. »Die Seeluft macht mich müde. Haben Sie nicht etwas zum Vorlesen bei sich, Julia?«

»Ja, ja,« rief Juwel, »wir haben das Geschichtenbuch mitgebracht.«

»Aber ich habe nicht daran gedacht, daß es hier so geräuschvoll sein würde. Das Tosen der Wogen ist so laut, ich könnte unmöglich dagegen anlesen,« sagte die junge Frau.

»Ach, wir können noch weiter zurück in die Dünen gehen,« entgegnete Herr Evringham.

»Sie wollen doch nicht etwa eine der kleinen Erzählungen hören, Vater?« fragte Julia errötend.

»Warum nicht? Er schwärmt dafür,« erwiderte Juwel ernst. »Ich hab' sie ihm alle wiedererzählt, und er interessiert sich so dafür!«

Frau Evringham zweifelte nicht daran. Sie tauschte einen Blick des Einverständnisses mit dem alten Herrn, und er lächelte.

»Ich will auch sehr artig sein, wenn ich mitkommen darf,« sagte er. »Die Bandschleifen habe ich freilich vergessen, aber vielleicht kann ich mich dadurch kennzeichnen, daß ich Annabel auf den Schoß nehme. Lauf und zieh' dich an, Juwel, ich will inzwischen einen guten Platz bei jener Düne ausfindig machen.«

Eine Viertelstunde später saß die kleine Gesellschaft behaglich im Schatten des Sandhügels, der spärlich mit Strandgras bewachsen war.

Juwel zupfte an einigen Halmen. »Die kannst du nicht ausziehen,« bemerkte Herr Evringham, »man sagt, ihre Wurzeln gehen bis nach China hindurch.«

»Annabel und ich wollen einmal graben und nachsehen,« erwiderte Juwel voll Interesse.

»Es sind nur noch zwei Geschichten übrig,« sagte Frau Evringham und durchblätterte das Buch.

»Und Großpapa soll auswählen, nicht wahr?« sagte Juwel.

»O ja.« Ein wenig verlegen las die Verfasserin die Titel.

»Ich wähle selbstverständlich Robinson Crusoe,« verkündete Herr Evringham. »Hier ist der geeignete Platz, um so etwas zu lesen. Wenn wir unsern Hals ein wenig recken, können wir, glaube ich, seine Insel sehen.«

»Diese Geschichte ist wahr,« sagte Julia. »Sie ereignete sich in der Jugendzeit meiner Bekannten, die ungefähr fünfzig Meilen von Chicago leben.« Dann begann sie zu lesen:

 

Robinson Crusoe.

»Ich glaube, Robinson Crusoe wird mir gefallen, Mama!« rief Johnnie Ford, als er eines Tages nach der Schulzeit in das Zimmer seiner Mutter stürmte.

»Du wärest ein komischer Junge, wenn er dir nicht gefiele,« antwortete Frau Ford, »und doch freutest du dich scheinbar nicht, als dein Vater dir das Buch zum Geburtstage schenkte.«

»Ja, damals machte ich mir nicht viel daraus. Aber Fred King sagt, es ist die beste Geschichte, die je geschrieben worden ist, und er muß es wissen; er fährt in einem Automobil zur Schule. Sag', wann willst du sie mir vorlesen, gleich jetzt?«

»Wie heißt es?« korrigierte Frau Ford.

»Ach – bitte! Du weißt doch, wie ich es meine.«

»Nein, mein Junge, das werde ich wohl nicht tun. Du bist neun Jahre alt und solltest Robinson Crusoe allein lesen können.«

Johnnie sah sehr verdutzt darein. Er stand auf einem Bein, hatte das andere hochgezogen und hinter das Knie gelegt.

»Wenn man etwas Angenehmes vor sich hat, wird einem die Arbeit so viel leichter,« fuhr Frau Ford fort und reichte Johnnie das blaue Buch, dessen Deckel mit einem goldenen Bild verziert war.

Johnnie schmollte und sah böse aus. »Das ist eine ganz gemeine Falle,« sagte er.

»Jawohl, mein Junge, eine Falle, um einen Schüler zu fangen,« und das leise Lachen der hübschen Frau Ford war so ansteckend, daß Johnnie schnell das Zimmer verließ, um nicht mitzulachen; aber er sah bald ein, daß er mit der Flucht aus dem Zimmer nicht zugleich dem fesselnden Crusoe entfloh. Bis dahin hatte Johnnie sich kaum in anderer Weise für Bücher interessiert, als ihre freien Ränder zu bekritzeln. Wäre es wirklich der Mühe wert, sich hinzusetzen und ordentlich lesen zu lernen? In Amerika herrschen, zumal auf dem Lande, andere Schulverhältnisse als hier. (Anmerkung des Verlegers.) Er wußte schon soviel von dem berühmten Crusoe, daß er den Wunsch hegte, noch mehr von ihm zu erfahren. So entschied er sich schließlich, das Buch zu lesen, schon um Fips Wood, seinem Nachbarn und Spielkameraden, zu imponieren, der ein Jahr jünger war als Johnnie, und den er außerhalb der Schulzeit bevormundete. Er machte sich also an die Arbeit, und so kam endlich der Tag, an dem er stolz das blaugoldene Wunderbuch mit in Fips' Garten nahm, sich an des Freundes Seite auf die Steintreppe setzte und ihm mit lauter Stimme die Geschichte Robinson Crusoes vorzulesen begann. Es wäre schwer zu sagen, welcher von beiden größere Augen machte, als die Geschichte sich entwickelte, und als Johnnie sie dann eines Tages zu Ende gelesen und das Buch zugeklappt hatte, wurden zwei tiefe Seufzer der Begeisterung und Sehnsucht laut.

»Fips, ich möchte lieber Robinson Crusoe sein, als ein König!« rief Johnnie.

»Ich auch,« stimmte Fips bei. »Laß uns Robinson Crusoe spielen.«

»Aber wir können nicht beide Robinson sein. Möchtest du nicht Freitag sein?« fragte Johnnie schmeichelnd, »er war so nett und so schwarz.«

»Ja–a,« gab Fips zögernd zu. Er setzte großes Vertrauen in Johnnies Meinung, war aber doch etwas enttäuscht, weil seine Phantasie durch Crusoes hohe Mütze und Ledergamaschen, wie sie das Bild zeigte, sehr angeregt worden war.

»Dann habe ich einen Plan.« Johnnie neigte sich zu seinem Freunde und flüsterte ihm unter der vorgehaltenen Hand etwas ins Ohr, worauf des jüngeren Knaben Augen noch größer wurden als zuvor.

»Du darfst es aber nicht erzählen,« fügte Johnnie laut hinzu, »Männer tun so was nicht, weißt du. Versprich es mir mit gewiß und wahrhaftig.«

»Gewiß und wahrhaftig,« beteuerte Fips feierlich; das war die bindendste Redensart zwischen ihm und Johnnie.

In den nächstfolgenden Tagen wurden Herr und Frau Ford von den beiden Knaben mit der Bitte bestürmt, sie Geld verdienen zu lassen. Besonders Frau Ford war erstaunt darüber, als sie Johnnie mit großem Fleiß den Hof aufräumen und andere kleine ungewohnte Arbeiten verrichten sah, die seine Kräfte nicht überstiegen; so viel sie aber nach dem Grund seiner Bemühungen fragte, konnte sie doch nichts anderes aus ihm herausbringen, als daß Fips und Johnnie sich eine Henne kaufen wollten.

»Hast du auch Vater gefragt, ob du dir eine Henne halten darfst?« fragte sie Johnnie; aber der schüttelte nur den Kopf.

Fips' Mutter fand ihren Jungen ebensowenig mitteilsam. Sie stand an dem Fenster, durch das sie auf den Hof der Familie Ford hinaussehen konnte und wunderte sich über die Knaben, wie sie das Feuerholz in den Schuppen brachten oder die Wege fegten.

»Gott sei mit ihnen! Was mögen sie vorhaben?« fragte sie sich; der Wahrheit kam sie jedoch nicht auf die Spur.

Dann hörten die Kinder plötzlich auf, nach Arbeit zu suchen und erklärten, sie hätten jetzt soviel Geld, wie sie brauchten. Der Tag nach dieser Ankündigung war der erste April. Als Herr Ford zum Essen nach Hause kam, vermißte er Johnnie.

»Möglicherweise haben ihn seine Schulkameraden überredet, mit ihnen zu frühstücken,« meinte Frau Ford.

Kaum hatte sie das gesagt, als Frau Wood eintrat und nach Fips fragte.

»Ich habe ihn seit zwei Stunden nicht gesehen und bin daher etwas besorgt, denn die Kinder haben sich in der letzten Zeit so seltsam benommen,« sagte sie.

»Das ist mir ebenfalls aufgefallen,« antwortete Frau Ford. Auch sie wurde jetzt beunruhigt.

»Da fällt mir ein, Johnnie hat, ganz gegen seine Gewohnheit, heute morgen keinen von uns in den April geschickt. Ich mußte ihn daran erinnern, daß heute der erste ist.«

Herr Ford lachte. »Wie schaut ihr beide so trübselig darein! Ich erkläre mir die Abwesenheit der Jungen sehr einfach. Fips ist wahrscheinlich in die Schule gegangen, um Johnnie abzuholen, und der hat ihn für die Spielstunde festgehalten. Ich will auf meinem Wege zum Geschäft dort vorfahren und Fips nach Hause schicken.«

Die beiden Mütter stimmten diesem Vorsatz aufs wärmste bei; bald darauf fuhr Herr Ford ab. Als er aber in der Schule nachfragte, wurde ihm die Antwort, daß Johnnie überhaupt nicht dort gewesen sei. Da war die Reihe an ihm, bestürzt zu werden. Er fuhr zu allen Bekannten und forschte nach den Knaben. Schließlich kam er auf ihre Spur. Auf dem Fleischmarkt sagte ihm ein Händler, bei dem er zu kaufen pflegte:

»Ihr Kleiner war heute morgen ungefähr um halb elf hier und kaufte einen Schinken. Anschreiben lassen wollte er ihn nicht; er sagte, der Schinken sei für ihn,« und der Verkäufer lachte herzlich in der Erinnerung daran. »Sein Geld reichte nicht ganz aus, um den Schinken zu bezahlen, aber ich sagte, es wäre schon gut so, und fort gingen sie, er und der kleine Wood, beladen mit dem Schinken, der fast so groß war wie sie.«

»Dann sind sie also zusammen fortgegangen. Welche Richtung schlugen sie ein?«

»Scharf nach Süden; – ich weiß das genau, weil ich an die Tür ging und ihnen nachsah. Sie sind doch nicht etwa ausgerissen?«

»Hoffentlich nicht,« rief Herr Ford, sprang auf seinen Einspänner und fuhr in der angegebenen Richtung davon; hin und wieder hielt er an, um zu fragen, ob jemand die Kinder gesehen hätte. Zu seiner größten Befriedigung fand er es leicht, ihrer Spur zu folgen, weil die Kinder mit dem Schinken und der Henne die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gezogen hatten. Bald, nachdem er über die Vororte der Stadt hinaus war, sah er vor sich auf der flachen, weißen Landstraße einen verheißungsvollen dunklen Punkt. Je näher er kam, desto größer wurde der Punkt. Schließlich teilte sich dieser, und Herr Ford erkannte die beiden kleinen Knaben, die mühsam dahintrotteten. Dank erfüllte sein Herz, als er die lieben kleinen Gestalten vor sich sah. Rasch sprang er vom Wagen, band das Pferd fest und eilte den Knaben nach. Als er sie erreicht hatte, wandten sie sich um und sahen ihn starr vor Schrecken an. Trotzdem Herr Ford sich über den ganzen Vorfall ärgerte, konnte er bei dem komischen Anblick, den die beiden kleinen Ausreißer boten, kaum das Lachen unterdrücken. Fips schleppte den großen, schweren Schinken, und Johnnie umklammerte eine Henne, die den Hals weit vorstreckte und sich in ihrem Quartier sehr unbehaglich zu fühlen schien.

»Du bist es, Vater!« rief Johnnie nach einem kurzen Kampf mit der armen Henne, »wie komisch, daß du gerade hierherkommst!«

»Nicht seltsamer, als daß du hier bist, scheint mir. Wohin gehst du denn, wenn ich fragen darf?«

»Nach dem Michigansee,« antwortete Johnnie gelassen. »Ach, wenn diese alte Henne doch ruhig sitzen bleiben wollte!«

»Dann habt ihr noch fünfzig Meilen vor euch,« sagte Herr Ford.

»Jawohl,« antwortete Johnnie, »aber bis nach dem Ozean wären es tausend Meilen gewesen, weißt du.«

»Ha, ha, ha!« lachte Herr Ford auf, noch ganz im unklaren über das Vorhaben der Knaben, aber unfähig, sich länger zu beherrschen, so komisch sahen Johnnie mit der sich sträubenden Henne und der geduldige Fips mit dem Riesenschinken aus.

»Es ist nur gut, daß du nicht böse bist, Vater,« sagte Johnnie. »Ich dachte es mir so nett für dich, Mutter und Frau Wood, daß ihr nun nicht mehr für Fips und mich zu sorgen brauchtet.«

»Das war sehr aufmerksam von dir,« entgegnete Herr Ford und stellte sich die besorgten Gesichter zu Hause vor. »Was wollt ihr denn eigentlich am Michigansee beginnen?«

»Ein Boot nehmen, hinausfahren und wie Robinson Crusoe an einer verlassenen Insel Schiffbruch leiden,« wirbelte Johnnie geläufig heraus und zog die Henne höher unter den Arm.

»Und was hat Fips vor?«

»Ich, – ich bin Freitag,« zwitscherte Fips, sein kleines Gesicht war für diese Rolle beinahe schon schwarz genug.

»Wie schade, daß wir dir das alles nun schon jetzt sagen müssen,« fuhr Johnnie fort. »Wir wollten es geheimhalten, bis wir an den See kämen, und dann wollten wir dir einen Brief schicken.«

Herr Ford sah seinem Sohn ernst in das schmutzige Gesicht. Es trug den Ausdruck von Ehrlichkeit; Johnnie war immer wahrheitsliebend gewesen. Eben jetzt schien ihm nur das ruhelose Gebaren der Henne Sorge zu machen. Der Vater schloß mit Recht daraus, daß sie durch das blaugoldene Buch zu der Annahme verleitet worden waren, ihr Tun sei bewunderungswürdig und heldenhaft.

»Was für eine Rolle soll denn die Henne dabei spielen?« fragte der Vater. »Soll sie eure Insel bevölkern helfen?«

»Ach nein; – aber wir konnten nicht ohne sie fertig werden, denn sie soll unterwegs Eier für uns legen.«

»Eier legen?«

»Ja, für unser Frühstück. Zuerst wollten wir eigentlich nur die Henne mitnehmen; aber Fips sagte, er möchte Schinken und Eier so schrecklich gern; daher entschlossen wir uns, auch den Schinken mitzunehmen.

Nach einer Pause sagte Herr Ford: »Ihr seht beide müde aus. Habt ihr noch nicht genug von eurer Reise? Ich gehe jetzt nach Hause.«

»Nein, nein,« antworteten die Knaben.

»Habt ihr denn auch an eure Mütter gedacht, denen ihr zum Abschied nicht einmal einen Kuß gegeben habt?«

Johnnie stellte sich wieder auf ein Bein und legte das andere dahinter, wie er es immer tat, wenn er unschlüssig war.

»Ich dachte, Johnnie, du wüßtest, daß alles, was du unternimmst, nicht gut ausläuft, bevor du nicht deine Mutter um Rat gefragt hast.«

»Ich wollte, ich hätte meiner einen Abschiedskuß gegeben,« bemerkte Klein-Freitag nachdenklich.

»Kommt, wir wollen zusammen zurückgehen,« sagte Herr Ford ruhig und setzte sich in Bewegung, »und sehen, was Frau Wood und Mutter hierzu sagen.«

Johnnie und Fips folgten langsam. »Vater,« sagte der erstere nachdrücklich, »ich kann nicht glücklich sein, wenn ich nicht Schiffbruch leide, und ich hoffe sehr, daß Mutter nichts dagegen hat.«

Sein Vater antwortete nicht. Dreiviertel Stunden später sprangen die Knaben von dem Einspänner in die Arme ihrer Mütter, und da sie ihr Frühstück währenddessen nicht losließen, erhielten Schinken und Henne auch ihren Teil von der Umarmung; die Henne sträubte sich jedoch heftig, denn so etwas hatte sie vor diesem ereignisreichen Tage noch nicht erlebt.

»Reg' dich nicht auf, Mutter,« sagte Johnnie gönnerhaft, »Vater wird dir alles erzählen; ich muß erst Fleckie in Sicherheit bringen.« Dann zogen die Jungen mit der Henne ab. Herr Ford warf sich in einen Lehnstuhl und berichtete den Damen die Erlebnisse des Nachmittags unter Hinzufügung einiger Ratschläge, wie man den beiden die Torheit ihres Unternehmens klarmachen könne.

An diesem Abend tranken Frau Wood und Fips den Tee bei Fords, und da die Knaben ihr Geheimnis nicht mehr zu bewahren brauchten, schwatzten sie unaufhörlich von ihren Plänen; sie schwatzten so viel und so schnell, daß die Eltern schweigend zuhören konnten, was ihnen gerade jetzt ganz erwünscht war, da sie es für richtiger hielten, keine Einwürfe zu machen. Es war an diesem ersten Apriltage mildes Wetter gewesen, so daß Fords mit ihren beiden Gästen nach dem Abendessen eine Zeitlang auf der Terrasse sitzen konnten.

»Johnnie und Fips werden auf ihrem Wege nach dem Michigansee viele Nächte im Freien zubringen müssen, und so wäre es wohl ein guter Plan, wenn sie als Anfang diese Nacht hier auf der Veranda logieren würden,« sagte Herr Ford. »Damit werdet ihr Knaben gewiß gern einverstanden sein. Immerhin ist es hier noch viel behaglicher als auf der Landstraße, und ihr werdet bald daraus schließen können, wie euch ein solches Wanderleben gefällt.«

Johnnie sah Fips an, und Fips sah Johnnie an; nach den Anstrengungen des Tages schienen ihnen ihre kleinen weißen Betten viel verlockender zu sein; aber Herr Ford sprach mit den Damen über andere Dinge und beachtete die Kinder weiter nicht. Allmählich wurde die Abendluft empfindlich kühl, und die Erwachsenen standen auf, um in das Haus zu gehen.

»Gute Nacht alle zusammen,« sagte Frau Wood und machte sich auf den Heimweg.

Fips sah ihr bis zur Gartenpforte nach. »Willst du mir keinen Gutenachtkuß geben?« rief er.

»O ja, gern, wenn dir etwas daran liegt,« antwortete sie und kam zurück, »aber heute morgen bist du doch auch ohne Abschiedskuß fortgegangen, weißt du das nicht mehr?«

Dann küßte sie ihn und ging fort. In den acht Jahren seines jungen Lebens hatte der kleine Freitag sich nicht so verlassen gefühlt! Johnnie blieb standhaft; er hielt seinen Eltern den Mund zum Kusse hin und wünschte ihnen gute Nacht.

»Es scheint ein Gewitter im Anzuge zu sein, so ungewöhnlich es in dieser Jahreszeit auch sein würde,« bemerkte Herr Ford freundlich und drehte sich in der Tür um. »Euch wird das ja nichts ausmachen; also Glück zu, Kinder!«

Die schwere Haustür fiel krachend ins Schloß.

Niemals vorher war es Johnnie aufgefallen, wie unangenehm dies klang. Der Schlüssel kreischte geradezu beim Umdrehen; dann wurde der Riegel energisch vorgeschoben und alle Rolläden geräuschvoll hinuntergelassen und befestigt. Johnnie und Fips fühlten sich buchstäblich in jeder Weise ausgeschlossen und kaltgestellt.

Einen Augenblick herrschte bedrücktes Schweigen; dann begann Fips:

»Euer Haus ist prächtig und sicher, nicht wahr, Johnnie?«

»Ja, das ist es.«

»Wo wollen wir uns denn eigentlich hinlegen?« fuhr Fips fort. »Ich bin müde. Laß uns doch jetzt spielen, wir wären Crusoe und Freitag.«

»Ach, wie können wir das,« entgegnete Johnnie ungeduldig, »mit soviel Bequem – –«, – er wollte sagen Bequemlichkeiten, aber er besann sich.

Die Nacht war pechschwarz; nicht ein Stern leuchtete den Kindern, und die kahlen Zweige der Kletterrose raschelten, vom Wind bewegt, an der Mauer.

Die Knaben setzten sich auf die Treppe. Fips rückte näher an seinen Gefährten heran. »Eigentlich ist es doch komisch von Mutter,« meinte er, »mich hier ohne Plaid oder Kissen zurückzulassen.«

Auch Johnnie empfand ein leichtes Frösteln vor Müdigkeit und Kälte.

»Unsern Müttern ist es einerlei, was uns passiert,« erwiderte er düster. Die Stille des Hauses und die vorgerückte Nachtzeit brachten ihn zu der Überzeugung, daß, wenn Schiffbruch leiden noch ungemütlicher wäre als dieser Zustand, er doch recht glücklich sein könnte, auch ohne Schiffbruch erlitten zu haben.

»Was sagst du dazu?« flüsterte der zitternde Freitag. »Mama sagt, Schinken sei gar nicht gesund, wenn er nicht gekocht ist.«

»Und diese Henne ist das schäbigste Tier, das je gelebt hat!« seufzte Crusoe. »Nicht ein Ei hat sie gelegt, seitdem ich sie habe.«

Ein entferntes Rollen ließ sich hören. »Was ist das?« fragte Fips ängstlich.

»Na, das solltest du doch wissen, – Donner,« antwortete Johnnie gereizt.

»Ach ja,« sagte Klein-Fips zaghaft, »und wir werden bis auf die Haut naß werden.«

Beide schwiegen; der Wind wurde stärker und blies heftig über sie hin.

»Ich glaube wirklich, Johnnie,« begann Fips kläglich, »ich bin nicht groß genug, um ein guter Freitag zu sein. Du mußt dir morgen wohl einen besseren suchen.«

»Fällt mir nicht ein,« antwortete Johnnie mit Nachdruck. »Lieber will ich nicht Schiffbruch leiden, als daß ich mit einem anderen Jungen fortgehe. Wenn du es aufgibst, geb' ich es auch auf.«

Der Regen fiel in großen Tropfen.

»Wenn du nicht naß werden willst, Fips, will ich für dich schon gern klingeln,« sagte er.

Ein plötzlicher Windstoß riß die Kinder fast um, denn sie hatten sich unentschlossen erhoben.

»Nein,« schrie Fips energisch, um den Sturm zu übertönen, »ich will Freitag sein bis morgen.« Das letzte Wort klang wie ein Schrei in der plötzlich eingetretenen Stille, denn der Wind hatte sich gelegt.

»Warum schreist du so?« fragte Johnnie ungeduldig; aber der Sturm hatte nur eine Pause gemacht, gerade als wollte er sich sammeln und brauste jetzt mit verstärkter Gewalt heran. Er fegte derartig über die Terrasse, daß er den Kindern den Atem benahm und den großen Ahorn vor dem Hause mit solcher Wucht niederbog, daß ein Ast abbrach; dann erstarb des Windes Toben sausend in der Ferne; dafür folgten jetzt Blitze und Donner, Schlag auf Schlag, und der beschädigte Baum wurde grell beleuchtet.

»Ich glaube, Johnnie,« sagte Fips unsicher, »Gott will, daß wir ins Haus gehen sollen.«

Wieder krachte ein Donner. »Ich dachte gerade, daß es doch wohl nicht recht von uns war, fortzugehen, ohne die Eltern um Rat zu fragen,« antwortete Johnnie und versuchte sich aufrechtzuhalten. Er klammerte sich fest an Fips und dieser sich an ihn.

Nur noch eine kleine Weile kämpften sie gegen den Wind. Dann wankten sie, beide von dem gleichen Gedanken getrieben, an die Haustür, und während der eine an der Glocke riß, daß es durch das ganze Haus schallte, hämmerte der andere mit den Fäusten gegen die Tür.

Johnnie dachte nicht darüber nach, wie sein Vater es möglich gemacht hatte, so schnell herunterzukommen, um die Tür zu öffnen. Frau Ford schien sogar auf das Heldenpaar gewartet zu haben, denn sie brachte ohne weiteres die Kinder auf Johnnies Zimmer, zog sie schweigend aus und steckte sie ins Bett. Die Knaben sagten ihr Gebet und waren dann im Handumdrehen eingeschlafen, während das Gewitter draußen weitertobte. Auch Frau Wood kam plötzlich auf geheimnisvolle Weise in das Zimmer und stand mit Johnnies Eltern am Bett der kleinen Schläfer.

»Das wird das Ende dieses Streiches sein,« sagte der Vater lachend, und er behielt recht; denn es dauerte Jahre, ehe Johnnie und Fips je wieder von Robinson Crusoe und Freitag sprachen.


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