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9. Kapitel.
Die Weihblume.

(Fortsetzung.)

Der nächste Morgen war regnerisch; Juwel machte mit ihrem Großvater einen Besuch im Stalle, statt zu reiten.

»Und was werden Sie an diesem trübseligen Tage unternehmen?« fragte der Makler seine Schwiegertochter, als sie nach dem Frühstück einen Augenblick allein blieben. Juwel war nach oben gelaufen, um Annabel für die Fahrt nach dem Bahnhof fertigzumachen.

»An diesem glückseligen Tage,« antwortete sie mit dem leuchtenden Gesichtsausdruck, den er in Gedanken immer mit dem der andern Schwiegertochter verglich. »Der Regen wird mir Gelegenheit geben, die vielen Schätze an Büchern und Bildern zu besehen, die Sie hier haben.«

»Hm! Sie lieben Musik, wie ich weiß. Juwel hat ja eine Stimme wie eine Lerche. Spielen Sie Klavier?«

Julia sah nachdenklich auf den Steinway-Flügel. »Wenn ich nur könnte!« erwiderte sie.

Herr Evringham räusperte sich. »Meine Gnädige,« sagte er mit gedämpfter Stimme, »das Kind hat ein erstaunliches Talent.«

»Juwels Stimme meinen Sie?«

»Ich bin überzeugt, daß sie später singen wird,« antwortete er; »aber ich meine, für Musik im allgemeinen. Heloise ist eine ausgebildete Klavierspielerin. Eins ihrer Stücke entzückte Juwel besonders: das alte Frühlingslied von Mendelssohn. Wahrscheinlich kennen Sie es.« Julia schüttelte den Kopf.

»Ja, sehen Sie, meine Gnädige, das Kind hat die Melodie dieses Stückes ganz allein herausgefunden,« des Maklers Stimme wurde noch eindringlicher. »Sobald wir im Herbst zurückkehren, wollen wir ihr Unterricht geben lassen.« Julia sah ihn dankbar an.

»Ein ganz bedeutendes Talent, dessen bin ich sicher,« fuhr er fort.

»Juwel,« das Kind war gerade ins Zimmer getreten, »spiel' deiner Mutter das Frühlingslied vor, hörst du?«

»Jetzt? Sek ist draußen, Großpapa.«

»Dick muß heute morgen die Beine ein bißchen schneller nachziehen, spiel' es nur.«

Juwel setzte also Annabel auf einen Brokatstuhl, ging ans Klavier und spielte die Melodie vom Frühlingslied. Sie konnte nur einige Takte, aber in den chromatischen Läufen war kein unreiner Ton. Ihr Großvater sah seine Schwiegertochter triumphierend an.

»Eine wunderbare Gabe,« flüsterte er ihr zu, als Juwel ihm schließlich ans Portal voranlief.

Mit träumerischem Blicke sah Julia dem abfahrenden Wagen nach.

Wie anders sollte sich die Zukunft ihres Töchterchens gestalten, als sie es in den Augenblicken rosigster Hoffnungsfreudigkeit geplant hatte. Je mehr sie von Herrn Evringhams tiefem Interesse für das Kind sah, desto dankbarer war sie ihm für die Art, in der er Juwels Einfachheit bewahrt und es unterlassen hatte, sie mit Naschereien, Spielereien oder eleganten Sachen zu überladen. Das Kind war nicht nur sein Liebling, es war ihm ein Individuum, ein Charakter, dessen Entwicklung er respektierte.

»Gott erhalte sie gut!« betete die Mutter.

Der tiefe Korbstuhl an Frau Evringhams Fenster bot einen willkommenen Platz, die Fortsetzung der Geschichte zu lesen.

Die Regentropfen schlugen gegen die klaren Scheiben, der Rasen leuchtete in sattem Grün, und die großen Bäume jenseits der Einfahrt breiteten wohlig die Blätter aus in dem erfrischenden Bad.

»Ich glaube, Annabels Teich wird überlaufen,« sagte Juwel, während sie nachdenklich aus dem Fenster sah.

»Wie gut für die Farne,« bemerkte die Mutter.

»O ja, wie gern möchte ich jetzt dort sein.«

»Ich finde es hier viel behaglicher; ich höre auch von hier aus gern den Regen rauschen, du nicht auch?«

»Ja, ich auch; wollen wir nun die Geschichte weiterlesen, Mutter?«

Es klopfte, und Sek erschien mit einem Arm voll Birkenholz.

»Herr Evringham meinte, es könnte hier oben etwas feucht sein, und ich sollte Feuer anmachen.«

»O ja, ja!« rief Juwel. »Mutter, möchtest du nicht ein Feuer haben beim Lesen?«

Frau Evringham nickte. Sek legte die Holzstücke auf und ließ sie von Juwel mit dem brennenden Streichholz anzünden.

»Ich habe ein ganz wundervolles Buch, Sek,« erzählte sie ihm, während die Flammen hochschlugen. »Mutter hat es für mich geschrieben; wenn du willst, sollst du es auch lesen.«

»Das heißt, wenn Sek Interesse dafür hat,« warf Frau Evringham lächelnd ein, »erst mußt du doch sehen, ob es etwas für ihn ist; das Buch ist für kleine Mädchen mit kurzen Zöpfen geschrieben.«

»Ach, Sek und ich haben oft dasselbe gern,« antwortete Juwel ernst.

»Das stimmt, Lütting,« sagte der junge Kutscher, »wenn du nur hierbleibst, will ich gern alles lesen, was du vorschlägst.«

»Siehst du,« erklärte Juwel, als er hinausgegangen war und die Tür leise hinter sich zugezogen hatte. »Sek hat gesagt, es kribbelte ihm in den Fingerspitzen, wenn er daran dächte, daß jemand anders als er Stern den Schweif flechten sollte, daher freut er sich mächtig, daß wir nicht fortgehen.«

Die Birkenzweige knisterten lustig; Annabel saß auf Juwels Schoß und sah in die züngelnden Flammen. Frau Evringham lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Gestern war das Lesen unterbrochen worden, weil Herr Evringham zu der Zeit eine Spazierfahrt mit seiner Schwiegertochter machen wollte. Juwel hatte sie auf Stern begleitet, und die Mutter sah mit Vergnügen, wie geschickt das Kind das Pony regierte, das durch Kopfschütteln und andere Possen seiner Verwunderung darüber Ausdruck gab, daß Essex Maid von diesem Vergnügen ausgeschlossen blieb.

Juwel wandte sich an ihre Mutter: »Jetzt sind wir ganz fertig und können weiterlesen. Ich habe Großpapa davon erzählt, als wir heute morgen nach dem Bahnhof fuhren, und was meinst du wohl, was er mich, gefragt hat?«

Die Kleine zog das Kinn ein. »Er fragte mich, ob ich glaubte, daß Flossie gesund würde?«

Frau Evringham lächelte. »Wir werden ja sehen,« erwiderte sie und öffnete das Buch. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»Fräulein Fletcher war gerade ins Haus gegangen, und Flossie hatte gesagt, sie wäre sündhaft. Sie hatte gar keine Schuld!«

»O richtig, hier ist es,« sagte Frau Evringham und begann zu lesen:

Als Hazel Flossie so in die Augen sah, wurde ihr das Herz weit, und sie wünschte, ihre Mutter wäre hier, um diesem kleinen Mädchen helfen zu können, die einem so traurigen Irrtum verfallen war.

»Ich wollte, ich könnte dir deutlicher erklären, Flossie, daß Gott die Liebe ist,« sagte sie, »aber es ist wirklich so, und Er hat dir dein Leiden nicht geschickt.«

»Vielleicht hat Er es nicht geschickt,« erwiderte Flossie, »aber Er denkt, daß es für mich gut ist; denn sonst würde Er mich durch die Ärzte heilen lassen. Ich habe die freundlichsten Ärzte gehabt, die du dir vorstellen kannst, und sie wissen alles, was mit dem Rücken zusammenhängt.«

»Aber Gott wird dich heilen, Er selbst,« sagte Hazel ernst.

Ein seltsames Lächeln huschte über des kranken Kindes Lippen: »O nein, das wird Er nicht tun. Mehr als ein Jahr habe ich Ihn jede Nacht und jeden Tag wieder und wieder darum gebeten; jetzt bitte ich Ihn nie mehr!«

»Ach, Flossie, ich weiß wohl, was die Wahrheit ist, aber ich verstehe es nicht recht, sie zu erklären; sieh' mal, alles an dir, was nicht das Ebenbild und Gleichnis Gottes zu sein scheint, ist eine Lüge; und Lügen kann Gott nicht sehen, und darum weiß Er nichts von dem Verkehrten, was du denkst; aber Er weiß von dem starken, gesunden Mädchen, das du in Wirklichkeit bist; Er wird dir helfen, daß auch du es begreifen lernst, wenn du erst angefangen hast, richtig zu denken.«

Die Aufrichtigkeit und der Ernst ihrer kleinen Gefährtin weckten Flossies Interesse.

»Stell' dir einmal vor, du wärest gesund und liefest hier mit mir umher, und dann denke, daß dies Gottes Wille ist!«

»Ach, glaubst du, Er will es?« antwortete Flossie zweifelnd. »Mutter sagt, wenn ich nicht gesund werden kann, wird es doch meiner Seele nützen, daß ich krank bin.«

Hazel schüttelte heftig den Kopf. »Du weißt doch, als Jesus auf der Erde war, sagte er niemals, es wäre besser für einen Menschen, krank zu sein. Er heilte jeden, jeden der ihn anflehte, und er kam, den Willen seines Vaters zu tun; und Gottes Wille ändert sich nicht, er ist heute noch derselbe.«

In Flossies Wangen stieg eine leise Röte. »Wenn ich gewiß wüßte, Gott wollte, daß ich besser werde, ja, dann wüßte ich auch, daß es einmal so kommen müßte.«

»Natürlich tut Er das; aber du wußtest nicht, wie du Ihn richtig darum bitten müßtest.«

»Weißt du es?« fragte Flossie.

Hazel nickte. »Ja; nicht so gut wie Mutter, aber ein wenig weiß ich davon, und wenn du willst, will ich Ihn darum bitten.«

»Natürlich will ich das,« versetzte Flossie und blickte Hazel ernst und verwundert an.

Eine Minute später sah Fräulein Fletcher, die die Kinder von einem Fenster aus beobachtete, etwas, was ihr rätselhaft war. Sie sah Hazel Flossies Rollstuhl unter die Ulme schieben, sich daneben ins Gras setzen und die Augen mit beiden Händen bedecken.

»Was mag das für ein Spiel sein?« fragte sie sich lächelnd, höchst zufrieden über die Freundschaft, die sich angesponnen hatte. »Ich wünschte, Gesundheit wäre ansteckend,« seufzte sie, »die kleine Hazel ist ein Bild der Gesundheit; wie lange wird es wohl dauern, bis sie erfährt, wer ich bin. Welchen Grund Richard wohl hat, es ihr nicht zu sagen?«

Sie machte sich kurze Zeit im Hause zu schaffen und ging dann an das Fenster zurück. Zu ihrer Verwunderung war noch alles ebenso wie vorher; Flossie mit beiden Puppen in ihrem Rollstuhl und Hazel unter dem Baum, die Hände über die Augen gelegt.

Halb erstaunt, halb belustigt schlug Fräulein Fletcher die Hände geräuschlos zusammen. »Ich glaube wahrhaftig,« rief sie, »Hazel Wright gibt Flossie eine jener abwesenden Tante Hazel verwechselt in ihrer Verständnislosigkeit »anwesende« mit »abwesender« Behandlung, weil sie das Sich-in-Gott-versenken der Kleinen als Geistesabwesenheit betrachtet. (Anm. d. Verlegers.) Behandlungen, von denen man so viel spricht! Wenn ich mir das je hätte träumen lassen!«

An Arbeiten war hierauf für Fräulein Fletcher nicht mehr zu denken, sie bewegte sich ruhelos im Zimmer hin und her, bis sie Hazel aufspringen sah; dann eilte sie aus dem Hause auf den Baum zu. Hazel hüpfte ihr mit strahlendem Gesicht entgegen. »Fräulein Fletcher, Flossie wünscht, durch die christliche Wissenschaft geheilt zu werden. Wenn meine Mutter nur hier wäre, könnte sie alle Bibelstellen aufsuchen, die von Gott als Liebe und als Heiler aller Krankheit handeln.«

Fräulein Fletcher fiel der veränderte Ausdruck in dem gewöhnlich so apathischen Gesichte der Kranken auf und auch deren fröhlich leuchtende Augen.

»Ich werde meine Bibel und eine Konkordanz holen. Ihr Kinder könnt weiterspielen, und ich will alle diesbezüglichen Stellen heraussuchen, die ich finden kann, dann wollen Flossie und ich sie nachher lesen.«

Fräulein Fletcher brachte ihre Bücher und machte sich Notizen, während die Kinder mit ihren Puppen spielten.

»Laß sie beide deine Kinder sein, Flossie,« sagte Hazel.

»O ja,« antwortete Flossie, »sie sollen beide krank sein, und du sollst der Doktor sein und ihnen den Puls fühlen. Tante Hazel hat die kleinen Medizinflaschen von meiner Puppe im Hause; sie kann dir sagen, wo sie sind.«

Hazel zögerte. »Laß uns das nicht spielen,« sagte sie, »weil – es gar kein Spaß ist, krank zu sein, und – du wirst auch nichts mehr mit Krankheit zu tun haben.«

»Gut,« sagte Flossie, aber es war ihr Lieblingsspiel mit Beatrice, ihrer Puppe, gewesen, die sich von einer solchen Unzahl von Übeln erholt hatte, daß diese Tatsache ein sehr gutes Zeugnis für ihren medizinischen Berater ablegte.

»Ich will das Mädchen sein,« sagte Hazel, »und du kannst mir deine Wünsche sagen, dann fahre ich die Kinder aus und bringe sie in die Tanzstunde und überall hin, wohin du befiehlst.«

»Und wenn sie unartig sind,« sagte Flossie, »bringst du sie zu mir, daß ich sie züchtige, denn ich kann nicht erlauben, daß mein Dienstmädchen die Kinder straft.«

Wieder zögerte Hazel. »Laß uns spielen, du wärest eine christliche Wissenschafterin,« sagte sie, »und hättest ein christlich-wissenschaftliches Dienstmädchen, dann wird gar kein Strafen vorkommen; denn, wenn der Irrtum sich einschleicht, wirst du es verstehen, ihn richtig zu beherrschen.«

»O!« entgegnete Flossie verständnislos.

Aber Hazel hatte eine Menge Ideen, und das Spiel ging flott vorwärts dank der blitzartigen Schnelligkeit, mit der das Mädchen sich in einen Kutscher und dann in einen Markthändler oder einen Gärtner verwandelte, je nachdem die Situation es erforderte.

Fräulein Fletcher suchte mit tief auf der Nase hängender Brille fleißig die in Frage kommenden Stellen aus und notierte sie, indem sie häufig von der Seite auf das blasse Gesichtchen blickte, das heute mehr Interesse widerspiegelte, als sie je darin wahrgenommen.

Als es vier Uhr war, ging sie ins Haus und kehrte mit Flossies Klapptisch zurück, den sie gegen den Baumstamm lehnte. Dieser Nachmittagsimbiß für die Kranke wurde stets unter dringendem Nötigen von Fräulein Fletchers Seite und großem Widerstreben von Flossies Seite eingenommen. Ganz gegen ihre Gewohnheit achtete die Kleine diesmal nicht darauf. Sie war zu sehr versunken in Hazels Bemühungen, Fräulein Fletchers Malteser-Katze zu bewegen, Beatrice auf ihrem Rücken reiten zu lassen.

Aber als die Gastgeberin zum zweitenmal aus dem Hause zurückkam, jubelte Hazel laut auf. Fräulein Fletcher trug ein Teebrett, auf dem ein großes Puppenteeservice von weißem Porzellan mit goldenen Rändern stand. Als Flossie Hazels Bewunderung sah, jauchzte auch sie auf.

»Das war mein Teeservice, als ich noch ein kleines Mädchen war,« sagte Fräulein Fletcher, »und ich habe es immer sorgsam behandelt. Vor zwanzig Jahren hatte ich eine Nichte in deinem Alter, Hazel, die es für das größte Vergnügen auf der Welt hielt, zu ihrer Tante Hazel zu kommen und aus ihrem Puppenservice zu frühstücken. Damals versprach ich ihr, es einmal ihrer kleinen Tochter zu schenken, wenn sie eine haben würde.«

Beide Kinder bewunderten einstimmig die eigenartige Form der Schüsseln und der Kannen, als Fräulein Fletcher das Teebrett auf ihren Nähtisch stellte. »Als ich noch ein Kind war, zerbrachen wir unser hübsches Spielzeug nicht so achtlos, wie die Kinder es heutzutage tun. Es war nicht so leicht wiederzubekommen.«

»Und hat denn die Nichte eine kleine Tochter?« fragte Flossie.

Wenn das nicht der Fall wäre, überlegte sie, könnte dieses reizende Geschirr vielleicht auf sie übergehen.

»Ja, sie hat eine,« sagte Fräulein Fletcher freundlich, und als sie in das gespannte kleine Gesicht ihres Gastes sah, fügte sie nachdenklich hinzu, »und eines Tages werde ich es ihr schenken.«

»Hat sie es jemals gesehen?« fragte Hazel.

»Einmal. – Ich dachte, ihr Kinder müßtet nach all dem Spielen hungrig sein und würdet gern einen kleinen Imbiß nehmen.«

Hazel war so begeistert von dieser Idee, daß Flossie von ihrem Enthusiasmus angesteckt wurde.

»Du bist die Dame und schenkst ein, Flossie, und ich will das Mädchen sein,« sagte sie. »Das wird aber ein Spaß werden, nicht wahr? – Sie möchten doch gewiß gern die Kinder am Tische haben, Madame?« fragte sie mit plötzlich angenommener Ehrerbietung.

»Ja,« antwortete Flossie mit eleganter Nachlässigkeit, »dabei lernen sie sich gut benehmen.«

Aber dann vergaß das Mädchen sich so weit, daß. es auf und ab hüpfte, denn Fräulein Fletcher kam vom Hause zurück mit einem Teebrett voll Getränk und Süßigkeiten.

Wie fröhlich waren die Kinder; der Nähtisch diente ihnen als Buffet und der Klapptisch wurde über Flossies Stuhl befestigt.

»Wirst du auch nicht zu müde, mein Herz, ganz sicher nicht?« fragte Fräulein Fletcher die kleine Patientin. »Willst du das Einschenken nicht lieber dem Mädchen überlassen?«

Aber Flossie behauptete, sie fühle sich wohl, und Hazel sah eifrig zu Fräulein Fletcher auf und sagte: »Sie wissen doch, sie kann nicht zu müde werden, wenn wir nichts Unrechtes tun.«

»Ja so,« entgegnete die alte Dame trocken. »Dann ist nichts zu befürchten, denn sie tut das Richtigste vom Richtigen.«

Als der Tisch gedeckt war, und zwei kleine Teller, hochaufgetürmt mit Butterbröten, eine Kaffeekanne und ein Milchtopf voll Eiermilch, ein Teetopf mit Saft gefüllt, eine Schüssel mit Nüssen und eine andere mit Gelee darauf prangten, machte das Mädchen so begehrliche Augen, daß Flossie sie auf der Stelle gnädig entließ und eine Dame ihrer Bekanntschaft zu dem Fest einlud, die sofort mit großer Behendigkeit einen Stuhl heranzog.

Fräulein Fletcher beobachtete mit großer Genugtuung von ihrem Platz aus, wie die Kinder lachten und aßen, und als Butterbrotschüssel, Kaffeekanne, Tee- und Milchtopf leer waren, wurden sie von ihr an dem wohlversorgten Buffet von neuem gefüllt.

»Ach, ich wollte, ich wäre Tante Hazels richtige kleine Nichte!« rief Flossie, so viel Spaß machte ihr das Einschenken aus dem reizenden kleinen Service.

»Ja, das möchte ich auch sein,« sagte Hazel und sah sich lächelnd nach ihrer Gastgeberin um, die ihr zunickte.

Als Hazel nachher mit Onkel Dick beim Abendessen saß, hatte sie soviel von dem schönen Nachmittag zu berichten, daß Herr Badger und Hanna die Augen weit aufrissen. Sie aber ahnte nicht, wie sehr sie ihre Zuhörer in Erstaunen setzte.

»Ich kann euch sagen,« fügte sie nach der Beschreibung des Festmahls hinzu, »wir haben uns sehr in acht genommen, dem kleinen Mädchen nicht die Schüsseln zu zerbrechen. Ich wollte, ich könnte sie euch zeigen. Sie sind das Schönste, was ihr je gesehen habt und so groß – groß genug, daß ein wirkliches Kind sie gebrauchen könnte.«

»Ihr brauchtet sie ja auch, denke ich,« sagte Onkel Dick.

»Ja natürlich, das taten wir! – Fräulein Fletcher – will, daß ich sie Tante Hazel nennen soll, Onkel Dick!« Das Kind sah auf, um die Wirkung dieser Neuigkeit zu beobachten.

Er nickte. »Dann tu' es nur. Vielleicht vergißt sie die andere Nichte und schenkt dir das Service.«

Hazel lachte. »Na, jedenfalls sagte sie, Flossie hätte heute nachmittag soviel gegessen, wie sonst in zwei ganzen Tagen. Ist es nicht herrlich, daß sie gesund wird?«

»Ich würde lieber nicht zuviel mit ihr darüber reden,« meinte Herr Badger. »Es wäre grausam, sie zu enttäuschen.«

Solche Antwort war Hazel neu. Sie sah ihren Onkel einen Augenblick an und sagte schließlich: »Das ist Irrtum, Gott enttäuscht niemand. Sie werden einen erwachsenen Christlichen Wissenschafter annehmen, aber bis dahin werde ich täglich die Wahrheit für Flossie behaupten. Sie wird gesund werden. Du wirst es sehen.«

»Ich hoffe es,« erwiderte Herr Badger ruhig.

Die alte Hanna gab ihrem Brotherrn heimlich einen Wink. »Du könntest sie bitten, deinen Garten zu besichtigen und einmal hier zu frühstücken, Hazel. Ich will alles schön für dich herrichten, wenn wir auch kein Puppenservice haben.«

»Das möchte ich zu gern,« sagte Hazel, »und ich denke, sie würden auch gern kommen. Morgen will ich die Lektion mit hinübernehmen und sie mit ihnen lesen, und ich will ihnen auch ›die Weihblume‹ vorlesen. Tante Hazel wird die Geschichte gewiß gern hören mögen. Ich glaube, sie hat eine Weihblume in ihrem Garten.«

»Na, Herr Richard,« sagte Hanna, als ihr kleiner Gast zu Bett gebracht war, »ich sehe jetzt das Ende eines Familienzwistes.«

Herr Badger lächelte. »Wenn Fräulein Fletcher einwilligt, bei mir Tee zu trinken, sehe auch ich es.«

Der nächste Tag war wieder schön. Als Hazel am Gartengitter ihrer Tante erschien, saß Flossie unter dem Baum und winkte ihr mit der Hand. Das weiße Gesichtchen war freudig erregt, und Fräulein Fletcher rief: »Komm' rasch, Hazel. Mir scheint, Flossie ist gestern doch ziemlich müde geworden. Sie hat, seitdem sie hier ist, noch nie so gut geschlafen wie in der vergangenen Nacht.«

»Ja,« sagte die kleine Kranke und lächelte ihrer neuen Freundin zu, »die Nacht kam mir vor wie fünf Minuten.«

»So kommt sie mir immer vor,« antwortete Hazel. Sie trug ihre Puppe im Arm und ein paar Bücher, die Fräulein Fletcher ihr abnahm.

»Hm, hm,« murmelte sie, als sie die Titel besah. »Da hast du etwas über die christliche Wissenschaft.«

»Ja, ich dachte, ich wollte Flossie die heutige Lektion vorlesen, ehe ich sie behandle. Bitte, wollen Sie uns Ihre Bibel leihen.«

»Ja, gern. Das muß ich sagen, Hazel, Flossie und ich waren ganz überrascht über die vielen guten Bibelstellen und deren Verheißungen, die ich ihr gestern abend vorlas. Danach müßte jeder gut schlafen können.«

Hazel sah fröhlich darein, und Fräulein Fletcher schickte sie ins Haus, um die Bibel zu holen, die auf dem Tisch im Flur zu finden war.

Währenddessen strich die alte Dame Flossie übers Haar: »Ich kann dir sagen, liebes Kind, beim Lesen all dieser Verse wurde es mir gestern abend klar, daß wir alle nicht recht unserer Erkenntnis gemäß leben. Es handelt sich nicht immer nur um kranke Körper, Flossie.«

Hazel kam zurückgesprungen; sie setzte sich neben den Rollstuhl, öffnete die Bibel und zwei andere Bücher, die sie mitgebracht hatte und fing an, die Lektion zu lesen. Wäre sie ein paar Jahre älter gewesen, hätte sie das nicht gewagt, ohne einige erklärende Worte an die beiden zu richten, denen viele Ausdrücke ihrer Religion fremd waren, aber für sie gab es keinen Zweifel. Das blasse kleine Mädchen würde aus dem Rollstuhl steigen, umherlaufen und glücklich sein – das war alles, was Hazel wußte, und sie schlug den einzigen, ihr bekannten Weg ein, um dies zu erreichen. Fräulein Fletchers schmale Lippen teilten sich, als sie auf die Sätze hörte, die das Kind vorlas. Sie verstand kaum mehr als Flossie von dem, was sie hörte, außer den Bibelversen, und die schienen sich nicht auf Flossies Fall zu beziehen. Die völlig selbstverständliche Sicherheit in Hazels Benehmen und Stimme machte den größten Eindruck auf sie, und unbewußt blieb ihr Blick auch noch auf dem Kinde ruhen, nachdem es zu Ende gelesen hatte.

»Jetzt möchte ich Flossie gern behandeln,« sagte Hazel, »ehe wir anfangen zu spielen.«

Die alte Dame schreckte auf. »Dann möchtest du wohl lieber allein sein?«

»Ja, es ist leichter,« sagte die Kleine.

Fräulein Fletcher nahm verlegen ihre Näharbeit auf und begab sich ins Haus. »Hat man je so etwas erlebt!« dachte sie wieder. »Was würde Flossies Mutter sagen! Nun, die Gebete dieser lieben Kleinen können nicht schaden; aber was für ein fixes kleines Ding sie ist! Durch und durch eine Fletcher. Ich möchte wissen, was Richard Badger von ihr denkt. Wenn sie dem ein paar abwesende Behandlungen zuteil werden ließe, dem würden sie gut tun.«

Bei dieser Betrachtung bildeten Fräulein Fletchers Lippen wieder den bekannten Strich, aber sie fühlte sich nicht ganz behaglich. Ihr Neffe verheimlichte Hazel die Tatsache, daß es ihre Tante sei, zu der sie täglich ging. Das konnte kaum einem feindlichen Beweggrund entspringen, und durch die lange Liste von Bibelstellen, die sie Flossie gestern abend vorgelesen hatte, war sie seltsam bewegt worden. Besonders durch die eine: ›Wer nicht lieb hat, der kennet Gott nicht; denn Gott ist die Liebe‹, diese Worte hatten sie bis in den Schlaf hinein verfolgt und ihre Gedanken lange in Anspruch genommen.

Es machte ihr Freude, das für die Kinder bestimmte Mahl zu bereiten. »Ich muß wohl soviel zurechtmachen wie für zwei rechtschaffene Arbeiter,« dachte sie lächelnd.

Als sie dann zu dem Ulmenbaum zurückging, hüpfte ihr kleiner Gast auf sie zu. »Ach, Tante Hazel,« sagte sie, und bei der Anrede trat ein weicher Ausdruck in der alten Dame Gesicht, »möchten Sie und Flossie nicht morgen nachmittag, wenn es schön ist, in meinem Garten Tee trinken?«

Fräulein Fletchers Gesicht wurde ernster. Das war eine Folgerung, an die sie nicht gedacht hatte.

»Sagen Sie, bitte, ja,« beharrte das Kind. »Ich möchte Ihnen meine Blumen zeigen, und Flossie sagt, sie käme gern. Ich hole sie ab und fahre sie hin.«

»Flossie kann gern einmal kommen, gewiß,« sagte Tante Hazel zögernd, »aber ich gehe nicht viel aus und möchte bei meiner Gewohnheit bleiben.«

»Onkel Dicks Haushälterin Hanna schlug es selbst vor,« fuhr Hazel fort, in dem Glauben, ihre eigene Einladung möchte vielleicht nicht genügen, »und ich weiß, daß Onkel Dick sich freuen würde. Sie sagten doch,« – fügte sie in Erinnerung an die darauf bezügliche Bemerkung Fräulein Fletchers hinzu – »daß Sie ihn früher kannten.«

Fräulein Fletchers Lippen wurden immer schmaler. »Ich habe ihn oft gezüchtigt,« entgegnete sie zögernd.

»Ihn gezüchtigt?« wiederholte das Kind und starrte sie erstaunt an.

Das bittere Lächeln vertiefte sich. »Nicht sehr hart; nicht hart genug, wie es mir später oft schien.«

Hazel atmete auf. »Sie kannten ihn, als er klein war?«

»Ja, so ist es. Mein Kind, verlange nicht von mir, daß ich von meinem Weg abweiche. Komm' du hierher, so oft du willst, und wenn du sehr vorsichtig sein willst, kannst du Flossie später einmal in deinen Garten fahren. – Willst du uns jetzt die Geschichte vorlesen? Ich sehe, du hast sie mitgebracht.«

»Ja, mitgebracht habe ich sie,« antwortete Hazel bedrückt. Sie sah, daß zwischen ihrer gütigen neuen Freundin und ihrem lieben Onkel Dick nicht alles in Ordnung war, und die Entdeckung überraschte sie. Wie konnten erwachsene Leute wohl einander solange etwas nachtragen?

Fräulein Fletcher nahm ihre Näharbeit wieder auf, und Hazel griff nach dem kleinen weißen Buch und rückte dicht an den Rollstuhl heran, in dem Flossie mit den beiden Puppen saß.

»Hörst du gern Geschichten?« fragte sie.

»Ja, wenn sie nicht interessant sind,« erwiderte Flossie, »wenn Mutter mir nämlich ein Buch bringt und sagt, es wäre sehr interessant, dann weiß ich schon, daß ich es nicht leiden mag.«

Hazel lachte. »Na, dann hör' mal diese,« sagte sie und begann zu lesen. –

Es war einmal ein sehr reicher Mann, dessen Hauptstolz und Freude sein Garten war. Im ganzen Lande wußten die Leute von diesem wundervollen Garten, und oft kamen sie von weit her, um die seltenen Bäume und Sträucher zu sehen und den schönen Ausblick auf die blauen Wasserflächen zu bewundern, auf denen weiße Schwäne ihre Kreise zogen. Aber am allerschönsten waren die seltenen Blumen, die in voller Pracht blühten und alle Besucher entzückten. Dieser Mann suchte seines Lebens Ehre darin, den schönsten Garten auf der Welt zu besitzen, und so viele Fremde und Freunde bestätigten ihm, daß sein Garten der schönste sei, bis der reiche Mann es glaubte und überzeugt war, der Schönheit dieses zauberhaften Platzes sei nichts mehr hinzuzufügen.

Als er eines Tages in den Alleen lustwandelte und nahe an die Gartenmauer kam, bemerkte er einen so süßen und seltsamen Duft, daß er überrascht innehielt, um die Ursache dieses Duftes zu ergründen. Seine Verwunderung wuchs von Minute zu Minute, da er nur bekannte Blüten entdeckte, bis er schließlich wahrnahm, daß der wunderbare Duft von der Straße her zu ihm drang, die außerhalb der Mauer entlangführte.

Er rief einen Diener und schickte ihn sofort hinaus, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Der Diener eilte auf die Straße und sah einen Jüngling, der in einer Vase eine Pflanze mit einer wunderbaren, schneeweißen Blüte trug. Dieser Blüte entströmte der Duft.

Der Diener bemühte sich, den Jüngling seinem Herrn zuzuführen, stieß aber auf standhafte Weigerung. Gerade jetzt sei die Pflanze vollkommen, sagte der Fremde, und er bringe sie dem König, denn in dessen Besitz würde sie nie welken.

Als der Diener mit dieser Botschaft zurückkam, eilte der Herr des Gartens selbst dem Jüngling nach, und als er die wunderbare Pflanze erblickte, bot er dem Fremden jeden Preis dafür.

»Ich kann sie Ihnen nicht überlassen,« sagte der Jüngling, »aber wissen Sie nicht, daß in den öffentlichen Anlagen eine Knolle dieser Blume für jeden zu haben ist?«

»Davon habe ich niemals gehört,« entgegnete der Herr erregt, »aber es wird schwer sein, sie aufzuziehen. Versprich mir wiederzukommen und sie für mich zu pflegen, bis ich eine Pflanze habe, die ebenso schön ist wie deine.«

»Das wäre unnütz,« sagte der Jüngling, »jeder muß seiner eigenen Pflanze warten und was mich betrifft, so wird mich der König mit einer Sendung betrauen, wenn er diese Blume erhält, und ich komme nicht auf diesem Wege zurück.«

Sein Gesicht strahlte, als er seine Wanderung fortsetzte, und der reiche Mann, von ungeheurer Sehnsucht getrieben, fuhr sofort in die öffentlichen Anlagen und gab dort sein Begehr kund.

Er erhielt eine Knolle mit der Weisung, der König ließe die Knollen austeilen, doch müsse die Pflanze, wenn sie blühe, zu ihm gebracht werden.

Der Mann erklärte sich einverstanden und, nach Hause zurückgekehrt, ließ er die Knolle an einen schönen, sorgfältig vorbereiteten Platz setzen.

Aber seltsamerweise konnten seine Gärtner diese Pflanze nicht zum Wachsen bringen. Der Mann schickte nach kundigen Fachleuten, die die Eigenarten aller Blumen studiert hatten; aber die Knolle blieb leblos. Der Mann setzte Belohnungen aus, alles umsonst. Sein Garten war nach wie vor berühmt und gepriesen wegen seiner Schönheit, aber ihm gefiel er nicht mehr. Sein Herz sehnte sich schmerzlich nach der einen vollkommenen Blume.

Eines Nachts lag er traurig und unruhig im Bett, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Die Dienerschaft des Schlosses schlief. Er erhob sich und trat auf den Balkon hinaus. Das Licht des Mondes tauchte seinen Garten in flüssiges Silber, und der schluchzende Sang einer Nachtigall erfüllte sein Herz mit heißer Sehnsucht.

In einen Mantel gehüllt, stieg er eine Wendeltreppe hinab und schritt auf die Stelle zu, an der mitten im Garten seine begrabene Hoffnung ruhte.

Kein Mensch war Zeuge von dem Zusammenbruch seines Stolzes. Er kniete nieder, schwere Tränen tropften auf die Erde und feuchteten sie.

Doch welches Wunder geschah da? Er wischte die ihn blendenden Tränen fort, um besser sehen zu können. Ein kleiner grüner Sproß trat aus der braunen Erde hervor, und mit klopfendem Herzen gewahrte er, daß seine Blume zu wachsen begann. Jede folgende Nacht stieg er, wenn alles im Schlosse schlief, hinunter in den Garten und bewachte die Pflanze.

Stetig wuchs sie und schließlich erschien die Knospe; eines schönen Tages entfaltete sie ihre Blütenblätter und erfüllte den ganzen Garten mit ihrem Duft.

Aber der Gedanke, sich von seinem Schatz trennen zu müssen, zehrte an des Mannes Herz.

»Der König hat viele, wer weiß, wieviele! Muß ich ihm meine opfern? Noch nicht, noch nicht gleich!«

So schob er das Fortbringen der vollkommenen Blume von einem Tage zum andern auf, bis sie zuletzt zerfiel und nichts mehr wert war.

Ach, welche Traurigkeit bemächtigte sich da des Mannes Seele! Er schwur, er werde nie ruhen, bis er eine andere Pflanze zur Vollendung gebracht und dem König ausgeliefert habe; denn er erkannte endlich, daß nur dadurch, daß er sie fortgab, ihre Schönheit unvergänglich werden könne. Und doch betrauerte er seine vollkommene Blume; denn er dachte, keine würde je wieder solche Schönheit besitzen.

So begab er sich zum zweitenmal in die öffentlichen Anlagen, aber da wartete seiner eine große Enttäuschung. Er hörte, daß keinem Bittenden eine zweite Knolle anvertraut würde. Traurig kehrte er heim und bedeckte sorgfältig die kostbare Pflanze, in der Hoffnung, daß, wenn Sturm und Frost vergangen, neues Leben in ihr erwachen würde.

Sobald der Frühling wieder sein lichtes Grün in Wald und Flur hervorzauberte, widmete sich der Mann mit ganzem Herzen dem Pflegen und Hüten seiner Hoffnung. Das bange Warten während des langen Winters hatte ihm manche Lehre gebracht.

Er pflegte die Pflanze jetzt mit eigenen Händen am hellen Tage und vor aller Augen. Lange pflegte er sie, und stetig wuchs sie und mit ihr des Mannes richtiges Denken. Endlich erschien die Knospe und nahm täglich an Schönheit zu, bis eines Morgens ein überirdischer Duft bis in die entferntesten Teile des Gartens drang, und die Blume sich geöffnet hatte, fleckenlos, wohl geeignet zu einer heiligen Gabe. Der Mann betrachtete sie demütig und nicht als sein eigen, sondern freute sich auf den Tag ihrer Vollendung, an dem er alles hinter sich lassen und sie dem Könige überbringen und zu Füßen legen könne.

Dann würde er des Königs Gebot empfangen und sich freudig auf die Sendung begeben. –

Hazel schloß das Buch. Flossie sah aufmerksam zu ihr hinüber. Fräulein Fletcher hatte ihre Näharbeit hingelegt und putzte ihre Brille.

»Hat sie dir gefallen?« fragte Hazel.

»Ja,« sagte Flossie, »ich möchte gern wissen, was die Blume bedeutet.«

»Mutter sagt, die Blüte sei Selbstaufopferung,« antwortete Hazel, »was die Knolle sein soll, habe ich vergessen. Was mag sie wohl gewesen sein, Tante Hazel?«

»Demut vielleicht,« sagte Fräulein Fletcher.

»O ja, das war es auch! Jetzt erinnere ich mich. Wir wollen doch einmal hingehen und sehen, wie weit wohl heute Ihre Knospe ist.« Hazel sprang auf und rollte sorgsam Flossies Stuhl an das Blumenbeet.

»Sehen Sie, Tante Hazel, sie ist beinahe offen,« rief sie Fräulein Fletcher zu, die zurückgeblieben war und noch immer mit zitternder Hand an ihrer Brille putzte. Das Herz klopfte ihr ängstlich. Sie wünschte, die Blume möchte sich langsamer entfalten.

Der Nachmittag verlief den Kindern ebenso glückvoll wie der vorherige. Sie freuten sich über das zierliche Service. Heute gab es Kakao statt Eiermilch. Kurz bevor Hazel nach Hause ging, erlaubte Fräulein Fletcher ihr, den Garten mit Hülfe eines höchst interessanten Apparates zu besprengen, der sich drehte und immer den Lenker oder die Umstehenden in die Gefahr brachte, naßgespritzt zu werden.

In den Händen der Kleinen war er eine gefährliche Waffe, aber Fräulein Fletcher half ihr freundlich und geduldig, ihn richtig zu halten, denn sie sah, wieviel Freude er Hazel machte.

Am Abend hatte Hazel von dem schönen Tag einen noch fröhlicheren Bericht abzustatten; Onkel Dick ging nach dem Abendessen mit ihr hinaus und sah zu, wie sie ihr kleines Beet begoß; mit großer Genugtuung lauschte er ihrem Geplauder.

»Also Fräulein Fletcher mag nicht zu mir kommen und in meinem Garten Tee trinken?« bemerkte er.

»Nein,« sagte Hazel und sah schweigend zu ihm auf. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Sie erzählte mir, sie hätte dich früher gut gekannt, sie hätte dich gezüchtigt.«

Herr Badger lachte. »Das hat sie getan.«

»Dann muß sieh Irrtum eingeschlichen haben,« sagte die Kleine, »daß sie dich jetzt nicht kennt.«

»So kam es mir früher vor, wenn sie hinter mir her war.«

Das Kind betrachtete sein lächelndes Gesicht nachdenklich. »Sie wußte diesen Fall wohl nicht geistig zu behandeln?«

»Mir scheint, nein. Sie zog den Morgenschuh vor.«

»Na, ich kann nicht daraus klug werden,« sagte Hazel.

»Das ist auch nicht nötig, Kleinchen. Amüsiere du dich nur ruhig weiter. Alles andere wird schon eines Tages in Ordnung kommen.«

Als Herr Badger so redete, ahnte er nicht, wie geschäftig die Gedanken seiner Tante arbeiteten. Ihr Herz war gerührt durch das überraschende Auftauchen und die Sympathie ihrer kleinen Namensschwester; ihr Gewissen war wachgerufen durch die vielen goldenen Worte in der Bibel, die sie in den letzten bitteren Jahren nicht viel gelesen hatte.

So rührte die Geschichte von der Weihblume ihr weichgewordenes Herz und schien für sie eine besondere Bedeutung zu haben.

In später Abendstunde desselben Tages stand sie allein in ihrem Garten, und die halberblühte Blume der vollkommenen Lilie leuchtete zu ihr hinüber.

»Höchstens noch ein paar Tage,« murmelte sie, »nur noch ein paar Tage – und Demut war die Wurzel!«

Am nächsten Morgen regnete es, und Flossie blickte trübselig aus dem Fenster. Ihr Gesicht erhellte sich jedoch, als sie nach Tisch Hazel unter einem großen Regenschirm die Straße heraufkommen sah. Mit der freien Hand hielt die Kleine die Puppe fest, ein Paket Bücher und das Puppenzeug hatte sie unter den Arm geklemmt. Fräulein Fletcher begrüßte ihren Gast freudig, nahm ihm den Schirm ab und ließ dann die Kinder allein. Sie selbst ging mit ihrer Näharbeit in das obere Stockwerk, setzte sich ans Fenster und spann ihren Gedankenfaden weiter, Lächeln und Stirnrunzeln erschienen dabei abwechselnd auf ihrem Gesichte.

Gelegentlich sah sie verstohlen in den Garten hinunter, wo die Weihblume den warmen Regen aufsog und, deutlich erkennbar, sich immer weiter öffnete! Hazel und Flossie waren gute Freundinnen geworden, und der Gesichtsausdruck der kleinen Patientin hatte sich in den drei Tagen so verändert, daß man fast vergaß, ein krankes Kind vor sich zu haben.

Sie lasen die Lektion, und Flossie wurde behandelt. Dann spielten sie, und als die Vesperzeit kam, schien der Appetit des kleinen Paares nicht unter dem häuslichen Arrest gelitten zu haben.

Als Hazel wieder heimgehen mußte, hatte es aufgehört zu regnen; Fräulein Fletcher begleitete sie bis an die Pforte.

»O Tante Hazel, Tante Hazel, die Weihblume!« rief das Kind.

Und wirklich, größer und schöner als alle übrigen, wiegte sich die Lilie in strahlender Reinheit in der Mitte des Beetes.

Fräulein Fletcher wandte sich um und betrachtete sie erschreckt; ihre Hand preßte sich fest auf das Herz. »Warum kann sie mir nicht Zeit lassen, mit mir ins reine zu kommen!« murmelte sie.

»Morgen, morgen, Tante Hazel, werden wir Sonnenschein haben, und ich kann mir vorstellen, wie schön die Lilie aussehen wird, gerade so schön, daß sie dem Könige gebracht werden kann!«

Fräulein Fletcher legte ihren Arm um die Schultern der Kleinen.

»Ich möchte, daß du morgen bei uns zum Abendessen bliebest, mein Liebling. Frage Onkel, ob er es erlaubt.«

»Danke, das will ich gern tun,« erwiderte das Kind und eilte davon.

»Warte einen Augenblick,« rief Fräulein Fletcher, bückte sich, schnitt mit der Schere eine entzückende Moosrose ab, gab sie Hazel und erntete als Dank eine zärtliche Umarmung.

Das Wetter war am folgenden Tage strahlend schön. Im rosa Kleidchen und mit gleichfarbigen Haarbändern glich Flossie einer frischen Rose; so dachte Klein-Hazel, die, in festliches Weiß gekleidet, auf den Rollstuhl zueilte. Der freudige Ausdruck in Flossies Gesicht beglückte ihr Herz, aber was war das? – Mitten im Garten stutzte der kleine Gast, schlug in die Hände und rief:

»Ach, Tante Hazel, sehen Sie doch die Weihblume!«

Fräulein Fletcher nickte und kam langsam heran. Die stattliche Lilie sah aus wie eine Königin zwischen ihren Untertanen.

»Ja, heute ist sie so weit,« sagte sie leise, »heute.«

Sie fand keine Ruhe bei ihrer Näharbeit; die Kinder arbeiteten und spielten zusammen, während sie rastlos die Gartenwege auf und ab wanderte. Nach einer Weile trat sie ins Haus, ging nach oben und nahm ihr bestes seidenes Gewand aus dem Schrank. Beim Ankleiden rötete sich ihr Gesicht vor innerer Erregung. »Die Knolle war Demut,« murmelte sie vor sich hin.

Der Nachmittag neigte sich seinem Ende zu, als Fräulein Fletcher wieder zu den Kindern unter die Ulme trat.

»Ich habe euch keinen Tee gebracht,« sagte sie zu ihnen, »weil ihr zum Abendessen tüchtigen Hunger haben sollt.«

»Können wir das kleine Service auch dabei haben?« fragte Flossie.

»Heute abend soll es der Eigentümerin überreicht werden,« antwortete die alte Dame. Die beiden kleinen Mädchen betrachteten neugierig ihre erregte Miene.

»Ist sie eingeladen?« fragten beide gleichzeitig.

»Ja.«

»Und weiß sie, daß sie das Teeservice bekommt?«

»Nein.«

»Ach, welche Überraschung!« rief Flossie. »Ich wußte gar nicht, daß sie so nahe bei uns wohnt.«

»Ja, sie wohnt hier.« Fräulein Fletcher wandte sich zu Hazel und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Wir müssen tun, was wir können, um das Überbringen der Blume an den König zu feiern.«

Jetzt erst bemerkten die Kinder, daß Tante Hazel ihren Hut trug.

»Willst du, – willst du es jetzt tun,« fragte die Kleine überrascht.

Fräulein Fletcher blickte nachdenklich in Hazels strahlende Augen. »Wenn ich die Blume der Selbstaufopferung dem König brächte, Hazel, wüßte ich, wohin er mich zunächst senden würde. Ich bin bereit, es jetzt zu tun. Spielt ihr ruhig weiter; lange bleibe ich nicht fort.«

Sie schritt durch den Garten und trat auf die Straße hinaus.

»Was mag sie wohl vorhaben?« fragte Flossie.

»Ich weiß nicht,« antwortete Hazel schlicht, »sicher etwas Rechtes;« und damit nahmen sie das Spiel mit den Puppen wieder auf.

Fräulein Fletcher kehrte nicht so bald zurück. Fast eine Stunde war vergangen, ehe sie wieder in der Straße auftauchte und zwar in Begleitung eines Herrn. Als beide den Garten betraten, schaute Hazel auf.

»Onkel Dick! Onkel Dick!« rief sie fröhlich und sprang ihnen entgegen. Er und Fräulein Fletcher sahen sehr glücklich aus, als sie auf Flossies Stuhl zuschritten. Herr Badger betrachtete die kleine Kranke freundlich prüfend und trug sie dann auf seinen starken Armen ins Haus. Hazel folgte mit dem Rollstuhl und überließ sich freudigen Gedanken, ohne das geringste Verständnis von der Sachlage zu haben. Sie gingen alle ins Eßzimmer und Flossie wurde sorgfältig auf den ihr zugewiesenen Platz gesetzt.

Diesmal stand das weiß und goldene Teegeschirr nicht vor Flossie, sondern vor einem leeren Platz. Hazel sah mit schnellem Blick, daß vier Plätze belegt waren, aber ehe sie nach dem erwarteten Kind fragen konnte – der glücklichen Empfängerin des Services – sagte Onkel Dick:

»Wo soll ich sitzen, Tante Hazel?«

Der Kleinen Augen öffneten sich weit bei dieser vertraulichen Anrede.

»Aber, Onkel Dick!« rief sie.

Lächelnd blickten die alte Dame und Herr Badger zu ihr hinüber.

»Sie ist meine Tante,« sagte er und hob Hazel in den Stuhl vor dem hübschen Porzellan, »und ich glaube, dieses Service gehört dir.«

Die Kleine lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah von einem zum andern. Langsam, ganz langsam begriff sie. Dies war die Tante Hazel, die ihr den silbernen Löffel geschenkt hatte, – ihre richtige Tante Hazel auch schon die ganze Zeit vorher! – Plötzlich sprang sie vom Stuhl, lief auf Fräulein Fletcher zu und umarmte sie wortlos.

Tante Hazel küßte sie zärtlich. »Ja, mein Liebling,« flüsterte sie, »der Irrtum stahl sich ein, aber er hat sich wieder fortgestohlen, hoffentlich für immer.« Durch die weitgeöffneten Fenster strömte der Duft der Weihblume herein, stark, herrlich. – Strahlend weiß erglänzte sie im sinkenden Tageslicht.

Ehe Hazel nach Boston zurückreiste, kam Flossies Mutter zu Fräulein Fletcher, und der Umschwung zur Besserung in ihrer Tochter Befinden erfüllte sie mit Verwunderung und Freude. Mit neuer Hoffnung hielt sie fest an der Behandlungsweise, die die kleine Freundin angeregt hatte, und als der Sommer wieder ins Land zog, spielten zwei glückliche Kinder in Tante Hazels Garten, beide so frei und wonnig wie die Luft und der Sonnenschein, denn die göttliche Liebe hatte Flossie durch und durch gesund gemacht.


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