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11. Kapitel.
Der goldhaarige Hund.

»Ich glaube doch, die Schlucht ist der schönste Platz zum Geschichtenlesen,« sagte Juwel am nächsten Tage.

Die Sonne hatte das nasse Gras getrocknet; die Blätter sahen nach dem Bade wie poliert aus, und der volle Bach schien freudig Purzelbäume über die Steine zu schlagen, als Frau Evringham, Juwel und Annabel in die Schlucht hinunterkletterten.

»Eigentlich sollten wir nicht jeden Tag eine Geschichte lesen,« sagte Frau Evringham. »Sie werden dann nicht lange vorhalten.«

»Wenn wir zu Ende sind, fangen wir wieder von vorn an und lesen sie alle noch einmal,« antwortete Juwel ohne Besinnen.

»Ach, so hast du dir das gedacht!« bemerkte Frau Evringham lachend.

Juwel, überaus glücklich, stimmte fröhlich in das Lachen ein, obgleich sie gar nichts Lächerliches an ihrem offenbar so guten Plan finden konnte. »Lernen wir uns jetzt nicht immer noch mehr lieb haben, Mutter?« fragte sie und schmiegte sich eng an diese, ohne Rücksicht auf Annabel, die auf die Seite fiel und mit dem Gesicht ins Gras sank. »Weißt du noch, wie wenig Zeit du früher hattest, mich auf den Schoß zu nehmen und lieb zu haben?«

»Ja, Liebling. Die göttliche Liebe schüttet in dieser Zeit viele Segnungen über mich aus; ich kann nur bitten, daß ich sie in richtiger Weise ertrage,« antwortete Frau Evringham.

»Wieso, es ist doch so leicht, Segnungen zu ertragen, Mutter,« sagte Juwel und bemerkte plötzlich, in welche Lage ihre Puppe geraten war. »Aber liebste Annabel, was machst du denn da!« rief sie, hob ihr Kind auf und klopfte ihm den Sand vom Kleide. »Das scheint ja fast, als hättest du nicht mehr Rückgrat als ein Irrtumsunhold! Na, komm', sieh' nicht so traurig aus, heute ist die Reihe an dir, eine Geschichte auszusuchen.«

Annabels Augen leuchteten zwischen ihren nach vorn gefallenen Locken auf; sie schaute sogleich fröhlich und erwartungsvoll darein, und nachdem ihr der Hut zurechtgerückt und die Federboa abgenommen war, so daß die Kette an ihrem vollen Halse prächtig schimmern konnte, wurde sie gegen einen Baumstamm gesetzt und war nun ganz Ohr für die Titel, die Frau Evringham vorschlug.

Nach sorgfältiger Überlegung traf sie ihre Wahl, und als Frau Evringham und Juwel sich bequem zurechtgesetzt hatten, begann erstere die Geschichte, deren Titel lautete:

 

Der goldhaarige Hund.

Wenn Gabriel nicht die Vögel und den Bach, die Kaninchen und Eichhörnchen gehabt hätte, dann wäre sein Leben sehr einsam gewesen.

Seine älteren Brüder, Willi und Heinrich, kümmerten sich nicht um ihn, weil er viel jünger war als sie, und weil sie ihn für dumm hielten. Sein Vater würde ihm schon mehr Beachtung geschenkt haben, wenn er groß und stark gewesen wäre, um Geld zu verdienen, denn Geld war das Einzige, was Gabriels Vater liebte. Wenn die älteren Brüder etwas verdienten, suchten sie es vor dem Vater zu verheimlichen, sonst hätte er es ihnen abgenommen. Gabriel hatte eine Stiefmutter, eine trübselige Frau, die zu vergrämt war, um sich seiner in der richtigen Weise anzunehmen. Daher suchte er sich Spielkameraden im Walde und entfloh so den ewigen Zänkereien zu Hause.

Er war ein muskulöser, rotwangiger Bursche. Bei den Spielen in der Schule konnte er besser laufen und springen als alle anderen Knaben und war immer gutmütig gegen sie; aber selbst den kleinen Kindern in der Dorfschule war er gleichgültig, weil gerade das, was ihnen am meisten Spaß machte, für Gabriel ohne Reiz war.

Er versuchte, ihnen klarzumachen, daß die Vögel seine Freunde seien, und er daher ihre Nester nicht ausnehmen könne. Sie aber lachten ihn aus, ebenso wenn er sie davon abzuhalten trachtete, auf dem Schulweg die alte Mutter Quitte zu verspotten.

Sie wäre ein alter Murrkopf, sagten sie, sonst würde sie nicht ganz allein am Rande des Waldes wohnen und sich nicht eine Katze und Eulen zu Gefährten nehmen.

»Vielleicht möchte sie schon ganz gern andere und bessere Gefährten haben,« antwortete Gabriel.

»Dann geh' du doch und leiste ihr Gesellschaft, Gabriel,« sagte einer der Jungen spöttisch. »So geh' doch! Laß deinen alten Geizhals von Vater allein, der nächtelang, wenn ihr schlaft, sein Geld zählt, und der zu geizig ist, um euch genug zu essen zu geben. Geh' doch und spiel' Mutter Quittes lieben, kleinen Sohn!« Und dann lachten alle Kinder und schrien hinter Gabriel her. Dieser aber ging auf den Spötter zu und warf ihn ohne jede Anstrengung und mit einem so ruhigen Gesicht ins Gras, daß alle Lacher vor Erstaunen verstummten.

»Du sollst nichts gegen meinen Vater sagen, wenn ich dabei bin,« erklärte Gabriel und machte sich auf den Heimweg. Hinter ihm setzte das Lachen jedoch leiser wieder ein.

»Wahr ist es ja,« dachte er, während er rüstig ausschritt. Es wurde zu Hause immer schlimmer; ihn hungerte oft, denn es kam nicht allzuviel auf den Tisch, und seine großen Brüder mußten schon um ihren Anteil kämpfen.

Als er in die Nähe von Mutter Quittes Hütte mit dem geflickten Dach und den niedrigen Fenstern kam, stand die Alte in ihrem kurzen Rocke am Brunnen. Es schien ihr große Mühe zu machen, den schweren Wassereimer hochzuziehen.

Gabriel lief ohne Bedenken hinzu.

»Mach', daß du fortkommst,« rief die Alte mit ihrer heiseren Stimme, als sie in ihm einen der Schuljungen erkannte, deren Streiche sie satt hatte.

»Soll ich den Eimer für Euch hochziehen?« fragte Gabriel.

»Ach, ich kenn' dich, du willst mich nur naßspritzen!« rief Mutter Quitte und sah ihn mißtrauisch an; aber der Junge zog mit starkem Arm, und, während die kleine Alte sich in Sicherheit brachte, kam der triefende Eimer aus der Tiefe herauf.

»Zeigt mir, wohin er gehört, dann will ich ihn Euch ins Haus tragen,« sagte Gabriel.

»Gott segne dein frisches Gesicht, du bist ein ehrlicher Junge,« sagte Mutter Quitte dankbar; aber sie ging doch den ganzen Weg vorsichtig hinter ihm her, für den Fall, daß er einen Streich beabsichtigte.

Als er jedoch durch die niedrige Tür ins Haus getreten und Kessel und Töpfe nach ihren Angaben gefüllt hatte, dankte sie ihm lächelnd und fragte nach seinem Namen.

»Gabriel,« sagte der Junge.

»Ach,« sagte sie, »du bist der Sohn des Geizhalses.«

Gabriel konnte Mutter Quitte nicht auch niederwerfen wie den Schulkameraden, deshalb ließ er nur den Kopf hängen und bekam noch rötere Backen.

»Du kannst nichts dafür, Kind, und wenn du groß bist, wirst du reich sein. Dann bitte ich dich, gütiger mit mir zu sein, als dein Vater es ist, denn er drückt die Armen, und läßt mich meinen letzten Schilling für die Miete dieser elenden Hütte bezahlen.«

»Wenn sie mir gehörte, würde ich sie Euch schenken,« entgegnete Gabriel und sah ihr mit seinem ehrlichen Blick fest in die Augen; »aber jetzt bin ich noch ärmer als Ihr.«

»Wenn dem so ist,« sagte Mutter Quitte, »möchte ich dir deine Freundlichkeit mit etwas Angemessenem lohnen. Aber ich habe nichts als diesen Pfennig, den mußt du zur Erinnerung an mich aufbewahren.« Trotz Gabriels Einspruch nahm sie aus ihrer Seitentasche eine Münze.

»Ich darf Euch den Pfennig nicht abnehmen,« sträubte sich der Knabe.

»Es ist noch niemand reicher geworden, weil er sich etwas zu geben weigerte,« entgegnete Mutter Quitte, schob den Pfennig in Gabriels Bluse und entließ ihn mit ihrem Segen, und da er ein friedlicher Knabe war, in dessen Art es nicht lag, viele Worte zu machen, weigerte er sich nicht länger, sondern setzte seinen Weg nach Hause fort, denn die Essenszeit war nahe.

Seine Stiefmutter deckte den Tisch, als er heimkam, und der Vater rechnete eifrig auf einem Stückchen Papier Zahlen zusammen.

»Hol' Wasser, Gabriel, spute dich,« begrüßte ihn die trübselige Frau.

Als alles besorgt war, was sie ihm aufgetragen hatte, blieb ihm noch ein wenig Zeit, denn Willi und Heinrich waren noch nicht vom Felde zurückgekehrt. Gabriel setzte sich neben den Vater. Auf dem Tische sah er ein abgegriffenes, staubiges kleines Buch liegen und nahm es auf.

»Was ist das, Vater?« fragte er; Bücher waren eine Seltenheit im Hause.

Der Mann blickte von seinen Berechnungen auf und lachte höhnisch.

»Einige nennen es das Buch des Lebens,« sagte er, »praktischen Wert hat es nicht für zwei Schilling.«

Damit wandte er sich seiner Lieblingsbeschäftigung wieder zu, und Gabriel öffnete nachlässig das Buch. Aber was sahen seine Augen! Die Worte, auf die sein Blick fiel, leuchteten flammend auf.

» Geiz ist die Wurzel alles Übels,« las er.

»Vater, Vater,« rief er, »was für ein Wunder geht hier vor? Sieh'!«

Ärgerlich über die neue Unterbrechung, drehte sich der Geizhals um.

»Sieh' diese feurigen Buchstaben.«

»Ich sehe nichts. Du wirst jeden Tag alberner, Gabriel.«

»Aber die Buchstaben leuchten doch, Vater!« sagte der Junge und las den Satz laut vor, der sich für ihn so deutlich von den andern abhob.

Sie übten eine überraschende Wirkung auf den Zuhörer. Der Geizhals wurde erst bleich und dann rot vor Wut. Er erhob sich und bedrohte den Jungen mit zornigen Blicken. »Ich will dich lehren, deinem Vater Vorwürfe zu machen,« schrie er, »hinaus aus meinem Haus! Essen gibt's für dich heute nicht.«

Die Stiefmutter hatte Gabriels Worte gehört und kannte deren Wahrheit nur zu gut.

Als der erstaunte Knabe sich erhob und zur Tür hinausging, folgte sie ihm und rief ihn absichtlich in barscher Weise an; aber als er herankam, flüsterte sie ihm zu: »Komm' in fünf Minuten hinten nach dem Schuppen,« und als Gabriel dem Befehl gehorchte, fand er dort eine dicke Schnitte Brot und ein Stück Käse.

Gierig nahm er sie auf und verzehrte sie im Walde, ehe er wieder in die Schule ging. Er hatte sich nie so auf die Schule gefreut wie an diesem Nachmittag, denn nur durch das dort Erlernte war er imstande gewesen, die Worte in dem Lebensbuche zu lesen, und wenn sie ihn auch in Not gebracht, hätte er doch das Wunder nicht missen mögen, das sich ihm beim Aufschlagen des Buches in lebendigen, flammenden Buchstaben offenbart hatte. Er sehnte sich danach, den vergilbten Band wieder zu öffnen.

Auf dem Heimwege traf er zwei Knaben, die einen kleinen braunen Hund quälten. Sie hatten ihm Kletten in das Fell gesetzt, und das Tier mühte sich vergebens, seinen Peinigern zu entkommen. Die Knaben blieben stehen und wollten Gabriel vorübergehen lassen, denn sie hatten Respekt vor seinen starken Fäusten und kannten seine Liebe zu Tieren. Der zitternde kleine Hund fürchtete sich noch mehr, als er ihn sah. Gabriel stand still. »Wollt ihr mir den Hund geben?« fragte er.

Die Knaben traten mit ihrer Beute den Rückzug an. »Für nichts ist nichts,« sagte der Größere, der das Tier unter dem Arm trug. »Was gibst du uns?« Gabriel dachte nach. Besaß wohl je ein Knabe weniger als er? Doch da fiel ihm plötzlich eine Pfeife ein, die er gestern geschnitzt hatte. Er griff schnell in die Tasche, holte sie hervor und pfiff eine lustige Weise darauf.

»Hier,« sagte er und trat näher heran, »dies will ich euch geben!«

»Das für einen von uns,« entgegnete der große Knabe, »und was für den andern?«

Als der Hund Gabriels Stimme hörte, sah er ihn bittend an. Er zappelte, um sich zu befreien, und der große Knabe schlug ihn. Sein Winseln brachte Gabriel auf einen neuen Gedanken.

»Der andere soll einen Pfennig haben,« sagte er und zog Mutter Quittes Münze aus der Bluse.

Der große Knabe ließ den Hund los und begann, mit seinem Gefährten um den Pfennig zu streiten, die Pfeife gönnte jeder dem andern. Gabriel ergriff eilig den Hund und entfernte sich mit ihm.

Er lief und lief, bis er an einen Platz am Ufer des Baches kam, der zwischen schützenden Bäumen versteckt lag. Hier setzte er sich nieder und betrachtete die hilflose Kreatur in seinem Schoße. Der Hund war zottig und vom Kopf bis zum Schwanz mit Schmutz bedeckt.

Zuerst machte sich Gabriel daran, die Kletten zu lösen, die fest an dem dicken Fell klebten. Das dauerte lange, aber der kleine Hund leckte ihm dann und wann dankbar die Hände zum Zeichen, daß er verstand, was mit ihm vorging, wenn die Prozedur ihm auch nicht angenehm war.

»Nun, Kamerad,« sagte Gabriel schließlich, »jetzt mußt du dir ein Bad gefallen lassen.«

Der Hund sah mit den schönen hellen Augen vertrauensvoll zu ihm auf. Gabriel stellte ihn ins Wasser, rieb ihm tüchtig die langen Ohren und den ganzen Körper, dann tollte er mit ihm umher, bis die warme Luft ihn getrocknet hatte.

Welche Umwandlung hatte sich da vollzogen! Gabriels Augen leuchteten, als er seinen Kauf betrachtete. Das langhaarige Fell, das schmutzigbraun ausgesehen hatte, glänzte im Sonnenschein wie goldgelbe Seide, und die Augen des Hundes leuchteten wie Topase, als sie mit zutraulichem Blick zu Gabriels glücklichem Gesicht aufsahen; denn Gabriel war glücklich, wie jeder ist, der die Liebe ein Wunder bewirken sieht, das in Wirklichkeit gar kein Wunder ist, sondern nur ein schöner, glücklicher Umschwung zum Besseren, der immer die Folge der Liebe ist, wohin sie auch gehen mag. Das Herz des einsamen Knaben schlug höher vor Freude, daß er nun endlich einen Gefährten hatte.

Ein verachteter, leidender, kleiner Hund hatte sich in einen willkommenen Spielgefährten verwandelt, der aber vielleicht zu wertvoll war, um ihn mit nach Hause nehmen zu können; denn Gabriel wußte wohl, daß er niemals Erlaubnis bekommen würde, den Hund zu behalten, und wer ihn jetzt im Walde fände, würde ihn in die Stadt schleppen und einen guten Preis für ihn erzielen.

»Wie soll ich dich nennen, mein Kleiner?« fragte der Knabe. »Meiner Treu, bist du lebhaft,« der Hund sprang umher, daß ihm die Ohren wie goldene Locken um den Kopf flogen.

»Topas sollst du heißen!« rief Gabriel plötzlich, als er bemerkte, wie die Augen des Tieres gleich Edelsteinen leuchteten; »und nun paß mal auf!«

Als der Knabe »paß auf« sagte und den Finger hochhob, setzte sich Topas sogleich auf die Hinterbeine und legte die zierlichen weißen Vorderpfoten übereinander.

»Nanu!« rief Gabriel und begann, in seiner Verwunderung eine Melodie zu pfeifen. Doch kaum hatte der Hund die Musik gehört, als er auch schon tanzte. Was war das für ein Anblick! Gabriel machte große Augen, als er Topas vorwärts- und rückwärtsgehen und sich umdrehen sah, wobei er gelegentlich mit dem Kopfe nickte und ihn schüttelte, daß die Locken flogen.

Es schien, als sehne sich das kleine warme Hundeherz danach, Gabriel zu zeigen, daß es der Mühe wert gewesen war, es zu retten.

Aber der fröhliche Ausdruck wich bald aus des Knaben Gesicht; ganz niedergeschlagen ließ er sich unter einem Baum auf die Erde nieder.

Topas sprang ihm auf den Schoß, und Gabriel zog die langen, seidenweichen Ohren nachdenklich durch die Finger.

»Ich dachte, ich hätte einen Gefährten gefunden,« sagte er traurig.

»Wau, wau,« antwortete Topas.

»Aber du bist ein abgerichteter Hund und, weiß Gott, wieviel Geld wert, und ich kann dich nicht behalten.«

»Wau, wau,« sagte Topas.

»Morgen muß ich anfangen, deinen Herrn zu suchen. Was soll ich aber inzwischen mit dir tun?« Der Knabe erhob sich bei diesen Worten und Topas zeigte deutlich, daß er nicht im Zweifel darüber war, was mit ihm geschehen sollte, denn er wollte sich dicht an Gabriels Seite halten.

Dem Knaben kam ein Gedanke; er schlug die Richtung nach Mutter Quittes Hütte ein. Topas folgte ihm auf den Fersen. Die Erinnerung an die bösen Erlebnisse des Morgens war in seinem Hundegedächtnis zu lebendig, als daß er gewagt hätte, auch nur einen einzigen Busch zwischen sich und seinen Beschützer kommen zu lassen.

Als sie die kleine Hütte erreichten, saß Mutter Quitte vor der niedrigen Tür und spann.

»Willkommen, Kleiner,« sagte sie, als sie ihn erkannte, »aber den Hund laß draußen.«

»Seht ihn erst an, Mutter Quitte,« sagte Gabriel. »Haben Eure Augen je etwas Schöneres gesehen?«

»Das Aussehen täuscht,« erwiderte die Alte, »und ich habe eine Katze.«

»Ich will schon acht geben, daß er Eurer Katze nichts tut. Ich muß Euch beichten, daß ich den Pfennig für ihn ausgegeben habe, Mutter Quitte!«

»Dann muß ich dir gestehen, daß du kein würdiger Sohn deines Vaters bist,« sagte die alte Frau, »denn er hätte ihn auf keinen Fall ausgegeben.«

»Ich weiß, daß es ein Andenken war,« entgegnete Gabriel, »aber der Hund befand sich in Lebensgefahr, und ich hatte nichts anderes, ihn loszukaufen.«

»Du hast ein gutes Herz, Junge,« sagte Mutter Quitte und spann weiter. »Nimm deinen Hund weg, denn wenn mein Kater Tommy ihn sieht, könnten seine goldenen Locken arg zerzaust werden.«

»Ach, Mutter Quitte, ich bin hierhergekommen, Euch zu bitten, ihn für mich aufzubewahren.«

»Nein, das geht nicht. Ich sag' dir ja, ich könnte ihn doch nicht länger behalten, bis Tommy ihn erblickt; übrigens mag ich selbst Hunde nicht leiden, wenn dieser auch aussieht, das muß ich zugeben, als hätte er ein Bad in geschmolzenem Golde genommen.«

»Nicht wahr?« rief Gabriel. »Als ich ihn zuerst erblickte, wurde er von zwei Jungen gequält, und er sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Hund mit schmutzigem, zottigen Fell; fast wünschte ich, er wäre so wertlos geblieben, denn der Blick seiner Augen war mir ins Herz gedrungen; aber ich habe ihn im Bach tüchtig gewaschen. Seht nur den vollen, federigen Schwanz und die seidenen Ohren. Er ist ein Hund von edler Rasse.«

»Das ist er sicher, mein Junge. Bring' ihn in die Stadt und verkaufe ihn dort einer feinen Dame, die nichts Besseres zu tun hat, als ihm den Schwanz zu bürsten.«

»Niemals würde ich ihn verkaufen,« sagte Gabriel und sah sinnend auf den Hund. »Er ist einsam wie ich. Wir würden zusammenhalten, wenn wir es dürften.«

»Was hindert euch? Fürchtest du dich, ihn mit nach Hause zu nehmen, damit dein Vater ihn nicht in der Pfanne schmelzen lasse, um das Gold zu gewinnen?« fragte Mutter Quitte lachend.

»Nein. Mein Vater würde ihn nicht eine Nacht unter dem Dache behalten, das weiß ich, und deshalb wollte ich Euch um ein Obdach für ihn bitten.« Gabriel blickte so gespannt zu Mutter Quitte hinüber, daß sie ihr Spinnrad zum Stehen brachte. »Ich kann den Hund nicht behalten,« fuhr der Knabe fort, »und das macht mir das Herz schwer.«

»Dein Vater ist ein Filz,« erklärte die Alte. Je mehr sie Gabriel betrachtete, desto besser gefiel er ihr. »Woran fehlt es denn? Würde er deinem Liebling Futter verweigern?«

»Das ist es nicht, – ich kann den Hund auf keinen Fall behalten.«

»Aber weshalb denn nicht?«

Statt zu antworten, sah Gabriel in Topas' Augen, die unverwandt auf ihn gerichtet waren. Er hob den Finger, sogleich setzte sich der Hund in Positur.

»Es ist ein abgerichteter Hund!« rief Mutter Quitte.

Gabriel fing an zu pfeifen, und der Tanz begann. Die alte Frau hielt sich die Seiten vor Lachen bei dem Anblick des kleinen Tänzers, der so drollige Bewegungen machte. Sein goldenes Fell glänzte im Sonnenlicht.

»Du bist ein gemachter Mann,« sagte Mutter Quitte, als Gabriel aufhörte. »Der Hund wird dir in der Stadt eine große Summe einbringen, und weil du ein guter Junge bist, will ich versuchen, ihn dir bis morgen aufzubewahren, dann kannst du gehen und ihn verkaufen. Wenn dein Vater seine Kunststücke sähe, würde er über ihn verfügen und den Preis einstecken. Ich will ihn in das Hinterhaus sperren, bis du wiederkommst, hoffentlich bellt und ärgert er Tommy nicht.«

Doch zu Mutter Quittes Erstaunen machte Gabriel ein trauriges Gesicht. »Aber seht Ihr denn nicht ein, Mutter Quitte,« sagte er schüchtern, »daß der Hund jemand anders gehört?«

»Ach was,« rief die Alte, »warum konnte der jemand ihn denn nicht behalten?«

»Das weiß ich nicht, aber morgen mache ich mich auf, um seinen Herrn zu suchen.«

Mutter Quitte nickte; sie sah, wie der Abschied von dem Hunde dem Jungen das Herz schwer machte.

»Dann ist es um so besser, daß du ihn hierläßt, denn dein Vater würde das nicht zugeben, ebenso wenig wie er mir den Mietzins um einen Pfennig heruntersetzen würde.«

Gabriel trat an den windschiefen Stall, wo der Hund die Nacht zubringen sollte; das Tier folgte ihm unwillig. Es schien zu ahnen, daß es ans Scheiden ging. Der Knabe bückte sich und redete ihm zu, aber Topas leckte ihm das Gesicht und sprang bettelnd an ihm hoch. Als sie schließlich den Hund eingesperrt hatten, heulte er jammervoll auf.

»Ich bin überzeugt, daß er hungrig ist, Mutter Quitte,« sagte Gabriel mit heiserer Stimme. »Hättet Ihr nicht einen Knochen für ihn übrig?«

»Leider habe ich keinen, Gabriel. Tommy und ich haben nicht oft Fleisch zu essen. Er ist jetzt auf Mäusejagd im Felde, sonst würde er bei diesen Tönen wild mit dem Schwanze peitschen.«

Gabriel ging in den Stall zurück und sprach strenge mit Topas, er solle sich niederlegen. Der Hund gehorchte und sah bittend zu seinem Herrn auf; als dieser aber die Tür wieder schloß, war er ruhig.

Der Knabe dankte Mutter Quitte herzlich und versprach ihr, früh am Morgen zur Stelle zu sein; dann eilte er heim. Sein eigener Hunger bestärkte sein Mitgefühl für den kleinen Hund, und er war froh, beim Eintritt in das Haus die Stiefmutter bei der Bereitung des Abendessens zu finden, während sein Vater wie gewöhnlich über ein schäbiges, tintenbeflecktes Pult gebeugt saß, vertieft in seine endlosen Rechnereien.

Gabriels Brüder waren auch da, sie schwatzten und lachten gedämpft. Niemand beachtete Gabriel, dessen Blick auf das verstaubte, abgegriffene Buch fiel; eilig nahm er es auf in dem Gedanken, ob er wohl wieder das Wunder der flammenden Worte darin finden würde.

Als er es öffnete, leuchteten ihm auf der aufgeschlagenen Seite wieder verschiedene Stellen entgegen. In stummer Verwunderung las er:

» Und will zu meiner Seele sagen: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iß, trink' und habe guten Mut.

Aber Gott sprach zu ihm: du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und weß wird's sein, das du bereitet hast?

Also geht es, wer ihm Schätze sammelt, und ist nicht reich in Gott

Gabriel wagte kaum, seinen Vater anzusehen, und um keinen Preis würde er ihm wieder die flammenden Worte vorgelesen haben.

Während des Abendessens dachte er immer daran und verhielt sich sehr schweigsam, während die andern ungewöhnlich redselig waren. Sein Vater schien in bester Laune zu sein, woraus Gabriel schloß, daß seine Rechnereien ihn befriedigt hatten.

»Aber wenn er Mutter Quitte nicht bedrückte,« überlegte der Knabe, »wäre er reicher in Gott.«

Nach beendigter Mahlzeit holte Gabriel sich ein Stück Papier und schlich hinter das Haus, wo die Abfälle der täglichen Mahlzeiten in einer Tonne aufbewahrt wurden. Er suchte sich ein paar Knochen und anderes für den Hund Genießbares heraus, lief damit über die Felder nach Mutter Quittes Hütte, schlich auf den Zehen zu dem niedrigen Verließ, in dem Topas eingesperrt war und warf das Futter durch eine breite Ritze.

Dann eilte er heimwärts und kroch in sein Bett, denn er hatte stets gefunden, daß, je eher er die Augen schloß, desto kürzer die Nacht war.

Dieses Mal war es aber nicht das Tageslicht, dessen Strahl ihn traf, als er schläfrig die Augen öffnete. Die Flamme einer Kerze flackerte vor ihm und beleuchtete das Gesicht seiner Stiefmutter, die sich über ihn beugte. »Gabriel, Gabriel,« flüsterte sie und bedeutete ihm mit dem Finger auf den Lippen, nicht zu antworten. »Ich muß dich warnen, dein Vater ist sehr böse auf dich, weil du heute einen Tadel gegen ihn ausgesprochen hast. Er will dich fortschicken in die weite Welt, und ich kann es nicht hindern; aber ich werde, soweit es in meiner geringen Macht steht, immer deine Freundin bleiben, Gabriel, denn du bist ein guter Junge. Gute Nacht, ich darf nicht länger bleiben.« Eine Träne fiel auf des Knaben Stirn, als sie ihn flüchtig küßte; dann löschte sie das Licht aus und eilte geräuschlos von dannen. Gabriel lag still und dachte ein Weilchen eifrig nach; da er jedoch ein furchtloser, unschuldiger Knabe war, konnte ihn dieser drohende Wechsel in seinem Schicksal nicht lange wachhalten. Er fiel bald wieder in tiefen Schlaf und erwachte erst, als der Morgen dämmerte.

Dann sprang er auf, wusch sich, kleidete sich an und ging hinunter. Sein Vater wartete schon auf ihn.

»Gabriel,« sagte der Alte, »du wirst nicht klüger, wenn du immer zu Hause hockst. Ich will, daß du fort in die weite Welt gehst und für dich selbst sorgst. Wenn du dein Glück gemacht hast, kannst du wiederkommen. Ich bin jedoch bereit, dir eine kleine Summe Geldes mitzugeben, von der du leben kannst, bis du Arbeit findest.«

»Ich werde dir gehorchen, Vater,« entgegnete der Knabe, »doch als letzte Gunst bitte ich anstatt des Geldes um die Hütte, in der Mutter Quitte lebt.«

Der Alte stutzte und murmelte: »Er ist wirklich noch dümmer, als ich dachte;« dann fügte er laut hinzu: »Die kannst du haben.«

»Die Hütte – und dieses Buch?« fragte Gabriel und griff nach dem Buch des Lebens.

Sein Vater blickte ihn in der Erinnerung an gestern finster an. Auch das, wenn du willst,« sagte er unwirsch.

»Dann danke ich dir, Vater, und will dir nicht länger zur Last fallen.«

Gabriels Stiefmutter konnte nur schwer die Tränen unterdrücken, als sie dem Jungen das Frühstück gab und ein Paket Brot und Fleisch als Wegzehrung für ihn bereitete. Die wenigen Pfennige, die sie besaß, gab sie ihm dazu und entließ ihn mit ihrem Segen.

Als Gabriel ins Freie trat, lag die Natur in voller Schönheit vor ihm. Der blaue Himmel dehnte sich endlos; die Sonne schien prächtig, und das dichte Laub der vom Winde bewegten Bäume glitzerte. Die Vögel sangen so schön; alles schien Segen zu atmen. Während Gabriel dahinschritt, geriet er in Verwunderung über den Gott, der, wie jemand ihm einmal gesagt hatte, alles gemacht hat. Es schien ihm, als könne nur ein liebevolles Wesen soviel Schönheit schaffen, wie er um sich her erblickte.

Seine Hand umschloß fest das kleine Buch. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er allein sei und ohne Furcht darin lesen könne.

Als er es öffnete, flammte wieder, wie vordem, eine Stelle hell auf. Gabriel las:

» Wer nicht lieb hat, kennet Gott nicht; denn Gott ist die Liebe

Wie wunderbar! Gabriels Herz erbebte. Gott war also die Liebe. Er schloß das Buch; zum erstenmale verstand er die Wirklichkeit Gottes. Der Westwind, der ihm die Wangen küßte, und die Sonne, deren Wärme er gleich einer Liebkosung empfand, schienen ihn von der Wahrheit überzeugen zu wollen. Die Vögel gaben sie in ihrem Gesange kund.

Gabriel sank in dem taufrischen Gras auf die Knie, warf sein Bündel beiseite und preßte das Buch an die Brust.

»Lieber Gott,« betete er, »ich bin ganz allein, und es bleibt mir nur Topas zum Liebhaben. Er ist ein kleiner Hund, und ich muß ihn fortgeben, denn er gehört mir nicht. Aber ich weiß jetzt, daß ich dich lieben darf, und daß du mir helfen wirst, Topas zurückzugeben, denn meine Stiefmutter hat mir gesagt, du wüßtest alles, und sie spricht immer die Wahrheit.«

Darauf erhob sich Gabriel, nahm sein Bündel und schritt leichten Herzens vorwärts, bis er zu Mutter Quittes Hütte kam. Selbst dieses armselige Häuschen sah in der Morgensonne hübsch aus. Die hohen Sonnenblumen an der Tür leuchteten und schienen gleich lachenden Gesichtern auf Mutter Quitte herabzublicken, die im Eingang stand und dem Jungen ängstlich entgegenrief:

»Mach' rasch, Junge, komm' doch. Mein armer Tommy ist außer sich, weil der Hund winselt und sich ein Loch zu graben versucht, um aus seinem Gefängnis herauszukommen; ich kann für die Folgen nicht einstehen.«

Wirklich saß die Katze, mit wild funkelnden Augen, hochgebogenem Rücken und gesträubten Haaren, auf der Schulter der alten Frau. Der Schwanz war kerzengrade nach oben gerichtet und hätte für zwei Katzen gereicht, so lang schien er zu sein.

Gabriel blickte erst auf die Katze, die ihn anfauchte, und dann auf Mutter Quitte.

»Wußtet Ihr, daß es einen Gott gibt?« fragte er ernsthaft.

»Gewiß, mein Junge,« erwiderte die Alte erstaunt.

»Ich habe eben erst in diesem wunderbaren Buche von ihm gelesen, das Buch des Lebens heißt es. Habt Ihr so eins je gesehen?«

Der Knabe legte das abgegriffene, kleine Buch in ihre Hände.

»Gewiß, mein Junge, oft, sehr oft.«

»Kennt jeder es?« fragte er ungläubig.

»Die meisten Leute kennen es wohl.«

»Warum ist dann nicht jedermann glücklich?« fragte Gabriel. »Es gibt einen Gott, und er ist die Liebe. Glauben die Menschen das?«

»Ach,« erwiderte die alte Frau trocken, »das ist etwas anderes.«

Gabriel hörte kaum auf sie. Er öffnete sein kostbares Buch.

»Hier,« rief er triumphierend, »seht die lebendigen Worte:

» Weder Hohes noch Tiefes, noch keine Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn

»Hm,« sagte die Alte. »Der Druck ist zu fein für meine alten Augen.«

»Darum flammen die Buchstaben vielleicht wie Feuerlinien. Seht Ihr sie?«

»Ahem,« machte Mutter Quitte, denn sie sah keine flammenden Buchstaben; gespannt blickte sie in des Knaben strahlendes Gesicht. Überdies sprang Tommy plötzlich von ihrer Schulter auf die seine. Alle Zeichen von Angst und Wut waren verschwunden, die Katze rieb ihr glattes Fell gegen Gabriels Backe und schnurrte so laut, daß Mutter Quitte sich wunderte.

»Hätte mein Vater dieses Buch studiert, dann würde er glücklich gewesen sein,« sprach der Knabe weiter, »so aber ist er böse auf mich und hat mich fortgeschickt in die weite Welt; ich weiß wohl, was ihn dazu getrieben hat: er ist im Herzen unglücklich.«

»Kehr' um, Junge, und vertrage dich mit ihm,« rief Mutter Quitte aufgeregt, »sonst erbst du nichts.«

»Ach, ich habe das bekommen, was ich mir wünschte. Ich bat ihn um diese Hütte, und er schenkte sie mir, und nun schenke ich sie weiter an Euch, Mutter Quitte.«

»Mein Junge!« rief die erstaunte Frau, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Ihr braucht nun keine Miete mehr zu zahlen,« sagte Gabriel und streichelte die Katze.

»Und was soll aus dir werden?« fragte die Alte in heftiger Bewegung.

»Ich kann nicht nach Hause gehen,« antwortete der Knabe ruhig, »und jedenfalls muß ich den Hund Topas seinem Eigentümer zurückbringen. Weshalb weint Ihr, Mutter Quitte? Hab' ich nicht Gott, der für mich sorgt, und ist er nicht größer als alle Menschen?«

»Ja, mein Junge. Das gute Buch sagt: Er ist ein König des Himmels und der Erden

»Wenn Ihr das glaubt, warum seid Ihr dann traurig?«

Mutter Quitte trocknete sich die Tränen ab. In diesem Augenblick hörten sie ein scharfes Kratzen an der Tür des Stalles – Topas hatte Gabriels Stimme gehört.

»Wenn ich dir doch den Pfennig nicht gegeben hätte!« klagte die Alte, »dann hättest du den Hund nicht kaufen können und wärest nicht fortgegangen, daß ich dich vielleicht nie wiedersehe.«

Gabriel lächelte. »Ihr seht mich wieder, Mutter Quitte, wenn ich mein Glück gemacht habe. Und dann habt Ihr doch auch Gott, nicht wahr?«

»Ja, mein Junge. Heute fühle ich mich ihm so nahe, wie seit langen Jahren nicht. Mein Segen geht mit dir, wo du auch sein magst, und nun laß mich Tommy nehmen, damit er deinem Tänzer, den du gut loswerden mögest, nicht auf den Kopf springt. Leb' wohl, mein Junge, leb' wohl, und Gott segne dich für deine Güte und deine Freigebigkeit gegen ein einsames altes Wesen!«

Mit diesen Worten nahm Mutter Quitte die Katze auf den Arm, ging ins Haus und schloß Tür und Fenster, während Gabriel sich dem Stall näherte, den Holzriegel hochzog und seinen Gefangenen freiließ.

Wie ein lebendes Goldklümpchen umtollte der kleine Hund den Knaben; seine Freude drückte sich in den possierlichsten Sprüngen aus; dabei bellte er so laut, daß es Tommy sehr auf die Nerven fiel. Aber Gabriel rannte lachend mit seinem Gefährten in den Wald hinein und machte erst Halt vor dem Bache, in dem sie beide ihren Durst löschten. Dann steckte Gabriel das Buch des Lebens vorsichtig in seine Bluse, öffnete sein Bündel und gab Topas etwas Brot und Fleisch.

Das Herz wurde dem Knaben schwer, denn Topas war im Morgenlicht noch fröhlicher, hübscher, zärtlicher als zuvor. Mit den klaren Augen sah er Gabriel so vertrauensvoll an, daß es diesem Schmerz verursachte, wenn er an die Trennung dachte.

Schließlich war das Bündel wieder geschnürt und Gabriel fertig zum Weitergehen. Topas stand erwartungsvoll vor ihm. Die Augen strahlten ihn sanft an, wie goldener Sand unter sonnendurchleuchtetem Wasser erglänzt. Deutlich stand in ihnen geschrieben: »Was du auch beginnen magst, ich bin bereit, es mit dir zu tun.«

Nachdenklich zog Gabriel die seidenweichen Ohren durch die Finger. »Gott schuf auch dich, Topas, und er weiß, daß ich dich lieb habe. Wenn es ihm gefällt, werden wir deinen Herrn nicht gleich am ersten Tage finden.«

Damit sprang er auf und schaute nach einem guten Stock aus. Er prüfte die Biegsamkeit verschiedener Zweige, indem er sie wie eine Gerte durch die Luft sausen ließ. Als er schließlich einen Ast gefunden hatte, der stark genug war, zog er ihn durch den Strick, der das Bündel umschnürte und sah sich nach Topas um. Zu seinem Erstaunen aber war der Hund verschwunden. Er pfiff; doch nichts ließ sich sehen.

Gabriels Gesicht erblaßte und wurde dann blutrot, als er begriff, weshalb der Hund entflohen war. Tränen traten ihm bei dem Gedanken in die Augen, jemand könne das hübsche Geschöpf geschlagen haben, und Topas habe soviel leiden müssen, daß er selbst ihm mißtraute.

Bündel und Stock flogen auf die Erde, und der Knabe suchte ängstlich umher. Von Zeit zu Zeit ließ er einen Pfiff ertönen. Endlich entdeckten seine scharfen Augen einen goldenen Schein hinter einem Busche. Der Hund hatte sich, trotz seiner Furcht, nicht weit entfernt, aber er kroch am Boden und bettelte mit den Augen. Gabriel warf sich neben ihm nieder, drückte seine feuchten Augen gegen das seidige Fell und streichelte seinen Spielkameraden. Topas leckte ihm das Gesicht und vergaß für immer seine Furcht. Er folgte Gabriel zu dem Platze, an dem das Bündel lag, und der Knabe klopfte ihm beruhigend den Rücken, während er den Stock aufhob und ihn über die Schulter schwang.

Als sie sich dann wieder auf den Weg machten, schlug Topas freudig mit den Ohren.

Gabriel ließ alle Sorge um die Zukunft beiseite und trieb unterwegs mit seinem Spielgefährten Possen. Er warf einen Stock fort; Topas holte ihn wieder und gab durch kurzes, scharfes Bellen den Wunsch kund, das Spiel fortzusetzen; tat Gabriel ihm den Gefallen, dann sauste er mit fliegenden Locken, einem Sonnenlichtstreifen gleich, davon.

Manchesmal lief Gabriel mit ihm um die Wette; er konnte gut laufen; kein Junge in der ganzen Schule war behende genug, ihn zu überholen. So erlebte Topas einen sehr fröhlichen und ereignisreichen Morgen.

Als die Sonne hoch am Himmel stand, waren beide hungrig und froh, ausruhen zu können. Sie fanden einen großen Baum, in dessen Schatten Gabriel wieder sein Bündel öffnete. Nach dieser Mahlzeit hing es arg zusammengeschrumpft am Ende des Stockes über seiner Schulter.

Am Nachmittag tollten sie nicht mehr. Gabriel und Topas hatten einen langen Weg hinter sich; gegen Abend sahen sie in der Ferne die Dächer der Stadt.

Der Hund jagte nicht mehr nach Vögeln und Schmetterlingen, sondern trottete gemächlich hinter seinem Herrn her. Nach einer Weile nahm Gabriel ihn auf den Arm; es war ihm eingefallen, Topas könne ihnen vielleicht ein Nachtquartier verdienen, und Gabriel wollte den kleinen Beinen, die so gewandt tanzen konnten, ein wenig Erholung schaffen.

Es war fast dunkel, als sie ein Kornfeld und bald darauf ein Landhaus erreichten. Im Hofe spielten ein paar Kinder, die bei dem Anblick des staubigen Jungen an der Pforte ins Haus liefen und schrien: »Da kommt ein Bettler.«

Die Mutter trat aus der Tür, und ihre Miene bekundete deutlich, daß sie die beiden staubigen Wanderer fortzujagen gedachte.

Gabriel setzte den Hund nieder und nahm den Hut ab; seine Augen blickten klar aus dem dunklen Gesicht.

»Ich bin kein Bettler,« sagte er einfach. »Ich will in die Stadt gehen, um diesen Hund seinem Herrn zurückzubringen, aber es wird dunkel, und ich bitte, daß Sie uns im Heu schlafen lassen.«

»Wie kann ich wissen, ob du nicht ein Dieb bist?« antwortete die Frau. »Die Geschichte, daß du in die Stadt wandern willst, um einen gelben Hund seinem Herrn zurückzubringen, klingt nicht glaubwürdig.«

»Er ist ein Hund von edler Rasse,« erklärte Gabriel, »wenn Ihr uns in der Scheune schlafen lassen wollt, soll er Euch etwas vortanzen.«

Die Kinder baten einstimmig darum, den Hund tanzen zu sehen, und die Mutter willigte ein; so richtete sich Topas, als Gabriel es ihm befahl, auf, und die zarten, staubigen Füßchen tanzten nach der Flöte; die Kinder klatschten vor Freude in die Hände. Sie hätten den kleinen Hund bis in die Nacht hinein tanzen lassen, aber das erlaubte Gabriel nicht.

»Wir sind weit hergekommen,« sagte er, »laßt uns jetzt ausruhen, morgen früh soll Topas euch mehr vortanzen.«

Sie waren es zufrieden und begleiteten die Fremdlinge nach der Scheune, in der ein sauberer, duftender Heuboden war.

Der kleine Hund dachte an die vergangene Nacht, er winselte leise, wedelte mit dem Schwanze und sah Gabriel an, als wolle er ihn bitten, ihn nicht allein zu lassen.

Gabriel verstand ihn und streichelte sein seidiges Fell. Es dauerte noch etwas, bis er die Kinder los wurde, die Topas weiter liebkosen und mit ihm spielen wollten; aber schließlich gingen sie fort, und die müden Wanderer konnten sich im Heu ausstrecken. Gabriel war Gott von Herzen dankbar für den langen, glücklichen Tag, als Topas sich an ihn schmiegte. Wenn sein Herr sich morgen fände –, da bliebe nichts übrig, als seinen Spielgefährten aufzugeben; aber trotzdem würde er dankbar bleiben für den einen Tag und die eine Nacht, die sie gemeinsam verbracht hatten.

Heller Sonnenschein strahlte durch die Ritzen der Läden, als die Reisenden erwachten. In der Ferne hörte man Geräusch von Menschen und Pferden, die den Hof verließen. Gabriel erhob sich und schüttelte das Heu ab. Topas sprang umher und begrüßte entzückt den Anfang eines neuen Tages. Sinnend betrachtete ihn der Knabe. Sollte dies wohl der letzte Morgen sein, den sie zusammen verbringen durften?

Er griff nach dem kleinen Buch unter seiner Bluse, nahm es heraus und öffnete es. Es war dunkel in der Scheune, aber wie immer strahlte dieses Buch das ihm eigene Licht aus; in kleinen, flammenden Buchstaben erschien ihm diese Stelle:

» Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht; sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht

Getröstet steckte Gabriel das geliebte Buch in sein Versteck zurück, nahm das Bündel und trat aus der Scheune, der Hund in Sprüngen hinter ihm her.

Kaum hatten die Kinder des Hauses die beiden erblickt, als sie ihnen entgegeneilten. Sie versuchten durch Singen, Pfeifen und Rufen den Hund zum Tanzen zu bringen, doch dieser richtete seine goldigen Augen nur auf seinen Herrn und beachtete außer ihm niemand. Die Mutter kam mit einem viel freundlicheren Gesicht als am Abend vorher an die Tür.

»Geh' drüben an die Pumpe und wasch' dich,« sagte sie. Gabriel gehorchte gern, und trocknete sein Gesicht mit Gras, das lang und üppig neben dem Brunnen wuchs. Das saubere Gesicht war so einnehmend, daß die Frau, als sie es sah, den Kindern Ruhe gebot. »Seid still und wartet, bis sie ein wenig gefrühstückt haben; dann kann der Hund noch einmal tanzen.«

Gabriel und Topas genossen ihre Mahlzeit mit Behagen. Dann pfiff der Knabe. Der Hund tanzte bereitwillig, und die Kinder tanzten vor Vergnügen mit. Sie waren alle so fröhlich, daß der Knabe für den Augenblick ganz sein Vorhaben vergaß.

»Wenn du deinen Hund hergeben willst, will ich ihn dir abkaufen,« sagte die Frau schließlich, denn die Kinder hatten ihr beim Schlafengehen und beim Aufstehen keine Ruhe gelassen, sie hatte ihnen versprechen müssen, dieses Anerbieten zu stellen.

Gabriel sah ihr offen ins Gesicht. »Ach, liebe Frau, er gehört mir nicht, und ich kann ihn deshalb nicht verkaufen.«

»Wo wohnt denn sein Herr?«

»Das weiß ich nicht, denn der Hund hatte sich verlaufen, als ich ihn fand. Ich muß ihn zurückgeben, wenn es möglich ist.«

»Ach was – Narrenkram,« sagte die Frau, die selbst gern den Hund gehabt hätte und wohl wußte, daß er mit seinen gewandten Füßchen Geld verdienen konnte. »Ich will dir so viel Kupfer geben, wie du in deiner Mütze tragen kannst, wenn du ihn hierläßt, deiner Wege gehst und niemand etwas davon erzählst.«

Gabriel schüttelte den Kopf. »Ach, er gehört mir nicht« war alles, was die Frau aus ihm herausbringen konnte. Sie dachte, er sei traurig, weil er die Mütze voll Kupfer nicht anzunehmen wagte aus Furcht, in Ungelegenheiten zu kommen. Sie ahnte jedoch nicht, daß, wenn der goldhaarige Hund des Knaben Eigentum gewesen wäre, alles Geld der Welt ihn nicht zu bewegen vermocht hätte, das einzige Herz, das auf Erden für ihn schlug, zu verkaufen. So mußten die Pächtersfrau und die Kinder das Paar ziehen lassen.

Gabriel hatte am Abend vorher ein Flüßchen entdeckt, das sich durch die Felder schlängelte; dorthin eilte er, ehe er sich auf den Weg zur Stadt machte, zog die Kleider aus und nahm ein erfrischendes Bad. Mit fröhlichem Gebell beteiligte sich Topas an diesem neuen Spaß, er schüttelte sich und schwamm umher, wie ein Hund, der das Wasser liebt.

Als sie schließlich ans Ufer stiegen, sich trockneten und Gabriel angezogen war, traten sie frisch und sauber ihren Weg zur Stadt an.

Gabriel war gar nicht so dumm, wie seine Brüder glaubten. Er wiederholte sich den Vers, den er morgens in der Scheune gelesen hatte, und als er Topas betrachtete, der nach seinem Bade so glänzend und hübsch aussah, wurde ihm klar, wie unklug es sein würde, jedem, der ihm begegnete, zu erzählen, daß er nach Topas' Herrn suche. Er wußte, daß es Leute gäbe, die sich kein Gewissen daraus machen würden zu behaupten, das hübsche Tier gehöre ihnen, wenn sie es auch nie zuvor gesehen hätten; Gabriel beschloß also, sehr vorsichtig zu sein und beständig daran zu denken, daß, wenn er sich nicht fürchtete, Gott ihm Kraft und Verstand geben würde, wie es im Buche des Lebens stand.

Sie kamen in die Stadt; aber in dem Augenblick, als ihr Fuß das Pflaster berührte, veränderte sich Topas' Gebahren. Er hielt sich so dicht an Gabriel, daß der Knabe sehr acht geben mußte, ihn nicht zu treten. »Was ist dir, mein Kleiner?« fragte Gabriel, verwundert über das seltsame Verhalten. »Weißt du nicht, daß du nach Hause gehst?«

Aber Topas gab ihm keine Antwort durch Bellen. Er ließ den buschigen Schwanz hängen, sah Gabriel nur mit halbgeschlossenen Augen an und drückte sich fest an seine Fersen; er schien sogar zu zittern, als sie durch die belebten Straßen gingen.

»Du mußt dich nicht fürchten, Topas,« sagte Gabriel strenge. »Einen Feigling mag niemand leiden.«

Aber Topas drängte sich nur noch dichter an ihn heran und äugte manchesmal furchtsam von links nach rechts. Schließlich wurde er so unruhig, daß Gabriel ihn auf den Arm nahm. »Wenn wir seinem Herrn begegnen, kann er ihn so vielleicht besser sehen,« dachte der Knabe und sah den vorübergehenden Männern, Frauen und Kindern forschend ins Gesicht. Aber sie starrten ihn nur erstaunt an, wenn sie das schöne Hundeköpfchen bemerkten, das unter seinem Arm hervorsah.

Ein gutmütig aussehender Mann lächelte ihm zu und sagte im Vorübergehen: »Gehst wohl nach dem Schlosse, was?«

Diese Bemerkung setzte den Jungen sehr in Erstaunen, so daß er sich nach dem Manne umsah.

Jemand war Gabriel in den letzten fünf Minuten gefolgt. Als er sich umsah, drehte ihm dieser Mensch, ein Orgelspieler, schnell den Rücken und fing an, eine Melodie herunterzuorgeln. Beim ersten Ton erschrak Topas, zitterte heftig und drückte sich so dicht an Gabriel, daß dieser, der die Bewegung nicht mit der Musik in Verbindung brachte, ganz ängstlich wurde.

»Topas, was ist mit dir?« fragte er und eilte vorwärts, um einen Platz zu finden, an dem er sich setzen könnte, um ausfindig zu machen, was seinem Spielgefährten fehle.

Sobald der Orgelspieler den Knaben forteilen sah, hörte er auf zu spielen und winkte einen dicken Polizisten heran, der in der Nähe stand.

»Man hat mir meinen Hund gestohlen,« rief er. »Kommen Sie mit mir und ergreifen Sie den Dieb. Ich bezahle Sie.«

Der Dicke gehorchte und murmelte beim Gehen vor sich hin: »Ist denn die Stadt voll gestohlener Hunde?«

»Es ist mein tanzender Hund,« rief der Orgelspieler. »Der Junge drüben trägt ihn unterm Arm und läuft mit ihm fort. Er wird es leugnen, aber ich gebe Ihnen eine Silbermünze. Vor acht Tagen ist er mir abhanden gekommen.«

»Halt, du Dieb,« brüllte der Polizist und setzte sich in Bewegung. Der Orgelspieler lief, trotz seiner schweren Last, so schnell er konnte, hinterher. Die Aufregung teilte sich den Vorübergehenden mit, so daß Gabriel, der seinen Hund fest an sich gedrückt hielt, stillstand, um zu sehen, was vor sich ginge.

Wie groß war sein Erstaunen, als er sich von dem dicken Polizisten und dem schwarzäugigen Orgelspieler gestellt sah.

»Laß den Hund los,« befahl der Polizist strenge.

»Nicht, bevor ich ihm einen Strick umgelegt habe,« warf der Orgelspieler ein und zog einen Strick hervor, den er Topas um den Hals legte. Dann zog er den Hund rauh mit sich fort.

»Gehört er Euch?« fragte Gabriel mit weitoffenen Augen und Mund. »Nein, das kann nicht sein. Er fürchtet sich vor Euch. Seht doch nur!«

»Ha, dieser Bursche hat mich um mein ganzes Einkommen gebracht,« schrie der Orgelspieler, »und nun versucht er, noch obendrein Anspruch auf mein Eigentum zu machen!«

»Glaubt ihm nicht!« rief Gabriel und sah flehend zu dem Polizisten auf. »Er kann ihm nicht gehören. Der Hund liebt mich. Laßt mich es Euch beweisen.«

»Platz da, Platz,« befahl der Orgelspieler, denn die Menge umdrängte ihn. »Würde der Hund für mich tanzen, wenn er nicht der meinige wäre? Seht!« Er zog eine kleine Peitsche aus der Tasche und schlug damit auf die Orgel, bei welchem Geräusch Topas erschreckt zusammenfuhr. Dann setzte er den Hund auf die Erde und fing an zu spielen, worauf das zitternde Tier sich auf den Hinterbeinen aufrichtete und zu tanzen begann. O, was für kleine, unsichere Schritte es machte! Es schüttelte nicht einmal seine goldenen Locken.

Gabriels Herz klopfte heftig. Meinten diese Menschen, Topas richtig tanzen zu sehen?

»Ach, glaubt mir doch, laßt mich es Euch zeigen!« rief er und versuchte näher heranzukommen; aber der dicke Polizist stieß ihn in grober Weise zurück.

»Könnt Ihr Eure Schulden bezahlen?« fragte er den Orgelspieler und trat dicht an ihn heran. Der Mann hörte auf zu drehen und reichte dem Polizisten verstohlen eine Silbermünze, so daß niemand es sah. Darauf wandte sich der Dicke an Gabriel. »Nun scher' dich fort!« sagte er strenge. »Wenn du hier noch einen Augenblick herumlungerst, sperre ich dich ein!«

Gabriel wurde bleich, rang hilflos die Hände und sah dem Orgelspieler nach, der Topas unter den Arm nahm und mit ihm eiligst in eine Seitenstraße einbog.

Der Knabe fühlte, daß er ihnen folgen müsse. Er heftete den tränenfeuchten Blick auf den dicken Polizisten und sagte zu ihm: »Ich habe diesen Hund gefunden.«

»Dann bist du ein großer Narr, daß du ihn nicht auf das Schloß gebracht hast,« erwiderte dieser. »Er ist auffallend genug, um vielleicht der Prinzessin zu gefallen; dann hätte der Orgelspieler sich einen anderen Sklaven suchen müssen.«

Mit diesen Worten entfernte sich der Polizist lachend.

Gabriel stand still, denn ihm stockte der Atem. Die Prinzessin mußte wohl einen Schoßhund kaufen wollen. Ach, wenn er ihr doch seinen kleinen Freund hätte übergeben können, wieviel besser wäre das gewesen, als dieses seltsame, verkehrte Ereignis, das sich mit solcher Schnelligkeit abgespielt hatte, daß der Junge vor Herzklopfen kaum atmen konnte.

Der Schmerz über den Verlust seines einzigen Freundes überwältigte ihn, und die Tränen strömten ihm aus den Augen. Als er bemerkte, daß man ihn neugierig beobachtete, stahl er sich fort, stolpernd, ohne zu wissen wohin.

Schließlich kam er in einer ruhigen Straße an eine Steinbank, die in eine Mauer eingelassen war. Er setzte sich und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. In seiner Verzweiflung erinnerte er sich des großen Königs des Himmels und der Erden.

»Lieber Gott,« murmelte er atemlos, »was nun? Was habe ich Böses getan, daß du mich und Topas nicht behütet hast?«

Der Wind, der leise die Baumkronen bewegte, war die einzige Antwort; einen Augenblick lauschte er dem beruhigenden Säuseln, dann zog er das Buch des Lebens unter der Bluse hervor und schlug es auf.

Wie wunderbar waren die Worte, die er vor sich sah. Wie sie leuchteten und zu leben schienen auf dem vergilbten Papier:

» Seid getrost und unverzagt, fürchtet euch nicht, und laßt euch nicht vor ihnen grauen; denn der Herr, dein Gott, wird selbst mit dir wandeln, und wird die Hand nicht abtun, noch dich verlassen

Gabriel preßte die zitternden Lippen zusammen. Er kannte niemand in dieser belebten Stadt. Er besaß kein Heim, keine Freunde, kein Geld, außer einigen Kupferpfennigen. Woher sollte ihm Hilfe kommen?

»Lieber Gott,« flüsterte er, »ich habe niemand mehr in der Welt als dich. Topas ist fort, und ich bin sehr traurig, denn er ist elend. Laß mich ihn retten. Ich fürchte mich nicht, lieber Gott, ich fürchte mich vor nichts. Ich vertraue auf dich.«

Getröstet durch eine leise, wenn auch noch unbestimmbare Hoffnung, die sich in sein Herz stahl, sah der Knabe auf, und das erste, worauf sein Blick fiel, war ein großer Anschlagzettel an der gegenüberliegenden Mauer, auf dem mit großen Buchstaben stand:

»Belohnung! – Ihre Königliche Hoheit die Prinzessin hat ihren goldhaarigen Hund verloren. Eine reiche Belohnung dem, der ihn aufs Schloß zurückbringt!«

Gabriels Herz schlug hoch. Welch' anderen goldhaarigen Hund gab es in der Welt als Topas? Die Farbe kehrte in Gabriels Wangen zurück. Aber – würde ein Orgelspieler es wagen, einen Hund, der der Prinzessin des Landes gehörte, als sein Eigentum zu erklären? Und doch – und doch – die Fröhlichkeit und Vertrauensseligkeit des kleinen Hundes ihm gegenüber bewiesen, daß er von seinem Besitzer, der ihn die niedlichen Kunststücke gelehrt hatte, gut behandelt worden war. Der Orgelspieler behandelte ihn nicht gut; würde jemand, der Topas wirklich kannte, wohl daran denken, die Peitsche zu gebrauchen, um ihn zur Arbeit zu zwingen!

Gabriel erkannte, so jung er auch war, daß hier ein Geheimnis vorlag, das aufgedeckt werden mußte. Hatten ihm nicht die leuchtenden Worte im Buche des Lebens gesagt, er solle sich nicht fürchten, und der größte aller Könige würde seine Hand nicht von ihm abtun, noch ihn verlassen!

Er sprang von seinem Platz auf, um fortzueilen, besann sich jedoch und öffnete sein kleines Bündel mit trockenem Brot und Fleisch; denn man konnte nicht wissen, wann sich wieder Gelegenheit zum Essen bieten würde. Er verzehrte den Rest seines Vorrates bis auf die letzten Krumen. Dann erhob er sich entschlossen und eilte die Straße hinan.

Er fragte den ersten Mann, der ihm begegnete, nach dem Weg zum Schlosse.

Dieser zuckte die Achseln. »Wo ist dein goldhaariger Hund?«

»Ich habe keinen,« erwiderte Gabriel, »aber ich habe im Schlosse zu tun.«

Der Mann lachte über die dürftige Erscheinung des Bauernburschen. »Und weißt nicht, wo es ist? Na, immer der Nase nach. Auf dem richtigen Wege bist du!«

Gabriel eilte weiter. Er war seinem Ziel viel näher, als er gedacht hatte; denn bald begegnete ihm ein traurig dareinschauender Mann mit einem gelben Hund unter dem Arm, dann ein zweiter, dann noch einer, und so wurde ihm sein Weg zum Schlosse leicht erkennbar an dem seltsamen Zuge von Männern, Frauen und Kindern, die alle zurückkamen, einen gelben Hund trugen und je nach der Größe ihrer getäuschten Hoffnungen plauderten oder schalten.

Als Gabriel das Schloßtor erreichte, sah er, daß noch eine Menge Bittsteller innerhalb der Gartenanlagen warteten. Der Knabe hatte nicht gewußt, daß es so viele verschiedenartige gelbe Hunde in der Welt geben könnte.

Dem Pförtner war der Befehl erteilt worden, jedem, der einen goldhaarigen Hund zur Besichtigung brachte, Einlaß zu gewähren, aber Gabriels Hände waren leer, und der Pförtner sah ihn böse an.

»Ich möchte die Prinzessin sprechen,« sagte der Junge.

»Das glaube ich,« sagte der Pförtner. »Scher' dich fort.«

»Aber ich möchte ihr von ihrem goldhaarigen Hund erzählen.«

»Kannst du denn nicht sehen, daß wir schon halb unter »goldenen« Hunden begraben sind?« antwortete der Mann mißgelaunt.

»Nein. Ich habe auf dem Wege nach hier nur gelbe Hunde gesehen. Ich muß der Prinzessin etwas erzählen.«

Der Pförtner konnte sich über diese Einfältigkeit des Lachens nicht enthalten. »Glaubst du denn, daß Landstreicher wie du zu der Prinzessin gelassen werden?« entgegnete er. »Augenblicklich hat sie für nichts anderes Interesse als für den verlorenen Hund. Sieh' ihren Kammerdiener drüben, wie er erhitzt und müde aussieht. Er sucht die Hunde heraus, die wert sind, von der Prinzessin besichtigt zu werden; wenn er dich erblickt und von deinem Wunsche hört, ohne daß du einen Hund vorzuzeigen hast, dann geht es dir schlecht. Mach', daß du fortkommst!« Die Handbewegung, die diesen Worten Nachdruck gab, ließ keine Widerrede zu.

Gabriel trat schweigend zurück; aber sein Mut war nicht gebrochen. Vielleicht wurde die Prinzessin des Wählens müde und fuhr spazieren. Jedenfalls blieb ihm nichts weiter übrig, als zu warten. Er sah den herrlichen Palast und die Anlagen und dachte, ob Topas hier wohl umhergetollt haben könnte. Was mochte der Hund wohl jetzt bei dem Orgelspieler tun? Solchen Gedanken durfte er jedoch nicht nachhängen, denn sie brachten ihm Tränen in die Augen, und er mußte aufpassen, scharf achtgeben.

Schließlich wurde sein geduldiges Warten belohnt. Eine schöne Karosse, von milchweißen Pferden gezogen, fuhr in den Hof ein.

Gabriels Herz klopfte laut. Er wußte, jetzt hieß es schnell handeln, ehe ihn jemand daran hindern konnte; so trat er vorsichtig hinter einen großen blühenden Strauch am Fahrwege.

Die Kutsche kam heran, und das goldene Gittertor wurde weitgeöffnet. Gabriel sah deutlich ein junges Mädchen mit bekümmertem Gesichtsausdruck allein auf dem Vorderplatz sitzen, ihr gegenüber eine ältere Dame.

Während der Wagen langsam zum Tore hinausfuhr, das sich klirrend hinter ihm schloß, trat Gabriel aus seinem Versteck, sprang behende auf den Wagentritt und sah der jungen Dame gerade in die Augen.

»Prinzessin,« rief er atemlos, »ich weiß von einem goldhaarigen Hund, und man läßt mich nicht« – aber schon schrie die Hofdame gellend auf, und der Pförtner, der Gabriel erkannte, stürzte herbei und riß den Knaben gewaltsam von dem Tritt herunter.

»Laßt ihn los, augenblicklich!« rief die Prinzessin mit blitzenden Augen, denn der Blick, mit dem Gabriel sie angesehen, hatte ihr Herz getroffen. »Haltet die Pferde an!«

Sofort stand der Wagen. › Ich will die Hand nicht von dir abtun, noch dich verlassen‹, klang es in Gabriels Ohren, trotzdem es ihm im Kopfe brauste. Als er sich frei fühlte, wartete er nicht auf eine weitere Erlaubnis, sondern trat wieder an den Wagen.

»Hört auf zu schreien, Gräfin Gertrud!« rief die Prinzessin.

»Aber, Hoheit, der Bettler berührt den Atlas mit seinen Händen!« rief die Hofdame, die eine anstrengende Woche hinter sich hatte und von Herzen wünschte, daß es nie einen goldhaarigen Hund in der Welt gegeben hätte.

»Prinzessin, hört doch, und Ihr werdet froh werden,« erklärte Gabriel. »Ich bitte um nichts anderes, als daß man mich anhört. Ich glaube, ich weiß, wo Euer Hund ist, und daß er leidet.«

Jeder, der Gabriel ansah und ihn so sprechen hörte, mußte ihm Glauben schenken. Tränen der Erregung traten ihm in die Augen. Seine Worte schnitten der Prinzessin ins Herz. Wie oft hatte sie gedacht, ob wohl ihr verlorener Liebling solche Liebe wie bei ihr wiedergefunden hätte.

Sofort befahl sie, man solle den Wagenschlag öffnen und Gabriel einsteigen lassen.

»Aber Hoheit!« rief Gräfin Gertrud, einer Ohnmacht nahe.

»Sie können aussteigen, wenn Sie wollen,« sagte die Prinzessin mit leisem Lächeln; aber Gräfin Gertrud hielt sich das Riechsalz an die Nase und blieb im Wagen sitzen. Darauf wurde dem Kutscher befohlen, durch einen abgelegenen Waldweg zu fahren.

Gabriel saß neben der Prinzessin auf dem feinen Atlaskissen. Er begann seine Erzählung, wie er den schmutzigen, braunen, kleinen Hund in den Händen der ihn quälenden Jungen fand, und berichtete getreulich alles bis zu dem Augenblick, als der Orgelspieler ihn fortführte.

Das junge Mädchen hörte ihm mit festgefalteten Händen gespannt zu.

»Und du nanntest ihn Topas,« sagte sie, als der Knabe schwieg, »ich nannte ihn Goldlock. Ach, wenn es derselbe wäre! wenn er es doch wäre!«

»Sicherlich gibt es auf der Welt nicht zwei so schöne Hunde,« sagte Gabriel.

»Das ist auch meine Ansicht,« antwortete die Prinzessin.

»Wenn er nicht so wunderbar schön gewesen wäre, dann wäre er jetzt in Sicherheit, denn dann hätte ich ihn behalten. Er liebte mich,« sagte Gabriel schlicht.

»Du bist ein ehrlicher Bursche,« rief die Prinzessin dankbar aus, »und du sollst dessen froh werden, einerlei, ob Topas und Goldlock ein und derselbe sind oder nicht. Aber du sagtest, er tanzte so graziös.«

»Ja, Hoheit, und er schüttelte dabei den Kopf vor Vergnügen, daß ihm die Locken um den Kopf flogen.«

»Dann ist er es!« rief die Prinzessin außer sich. »Seine Augen waren gleich Topasen. Der Name, den du ihm gegeben hast, ist der beste. Den soll er behalten. Ach, er hat in einer Scheuer geschlafen und kalte Abfälle gefressen! Mein Goldlock!«

»Ja, Hoheit, und täte es gern noch; denn er fürchtet sich vor seinem dunkelhaarigen Herrn und tanzt zitternd, daß man ihn kaum wiedererkennt.«

»Grausamer Junge, halt ein! Führe mich sogleich zu ihm. Zeige meinen Leuten, wo du ihn verlassen hast.«

»Wir müssen sehr vorsichtig zu Werke gehen, denn wenn der Orgelspieler erst merkt, daß nach ihm gesucht wird, wird niemand den goldenen Hund je wiedersehen. Der Mann wird sich hüten, ihn bei sich finden zu lassen.«

»Da hast du recht. Ich kann Leute ausschicken mit dem Befehl, jedem Drehorgelmann in der Stadt nachzuforschen.«

»Wenn Sie es ganz in der Stille tun könnten, dann ginge es wohl; aber ich habe einen besseren Plan.«

»Sprich!« erwiderte die Prinzessin.

»Wenn wir allein sind, Hoheit,« sagte Gabriel. Über diese Dreistigkeit war die Hofdame so erstaunt, daß sie vergaß, ihr Riechsalz zu gebrauchen.

»Nach dem Palaste zurück!« befahl die Prinzessin.

Gräfin Gertrud übermittelte dem Kutscher den Befehl.

»Beabsichtigen Hoheit, diesen – diesen Burschen mit ins Schloß zu nehmen?« fragte sie.

»Jawohl. Er hat meinen Hund lieb, und daher gebe ich augenblicklich mehr auf seinen Rat als auf den des Oberhofmeisters.«

»Dann habe ich nichts weiter zu bemerken,« entgegnete Gräfin Gertrud und lehnte sich in die Kissen zurück. Die beiden anderen Insassen waren über diese Mitteilung froh.

Wie groß war das Erstaunen der Wache, als sie den Wagen, mit dem Bauernburschen darin, zurückkehren sah, der gelassen neben der Prinzessin saß, dann mit ihr an der Treppe des Palastes ausstieg und den Damen folgte.

Als sie im Schloß waren, trug die Prinzessin Sorge dafür, daß Gabriel gut verpflegt wurde. Ein Kammerdiener mußte ihm Essen vorsetzen und zwar in einem so prunkvollen Gemach, daß Gabriel sich erst etwas besinnen mußte, um sich zu vergewissern, daß er nicht träume.

Nachdem er ein mit wohlriechenden Essenzen bereitetes Bad genommen und gehorsam die feinen Kleider angelegt hatte, die ihm gebracht worden waren, wurde er in einen prachtvollen Saal geführt, wo die Prinzessin, von ihren Damen umgeben, ihn erwartete.

Als er eintrat, richteten sich aller Augen auf ihn, und besonders Gräfin Gertrud setzte ihr Glas auf, in heller Verwunderung darüber, daß dieser hübsche Jüngling mit den ernsten, furchtlosen Augen, der sich in dem Sammet und Atlas so wohl zu fühlen schien, der Bauernbursche sein könne, der vorher auf den Wagentritt gesprungen war.

Die Prinzessin lächelte ihm huldvoll zu und sagte: »Wir sind jetzt bereit, den Plan zu hören, den du zur Befreiung des goldhaarigen Hundes vorzuschlagen hast.«

»Möchten Eure Hoheit dann freundlichst diesen Damen befehlen, uns allein zu lassen?« erwiderte Gabriel.

»Ach ja, richtig – ich vergaß, daß du mir allein die Mitteilung zu machen wünschtest.«

Die Prinzessin befahl allen, den Saal zu verlassen. Ihre Gefährtinnen gehorchten unwillig, besonders Gräfin Gertrud. Sie blieb dicht hinter der geschlossenen Tür stehen, bereit, beim leisesten Schrei ihrer Herrin hineinzustürzen; denn Gräfin Gertrud konnte nicht glauben, daß ein Junge, der baumwollene Hemden trägt, eine Persönlichkeit sei, die unbeargwöhnt mit einer königlichen Prinzessin alleingelassen werden könnte. Einige Augenblicke hörte man nur ein leises Gesumme von Stimmen hinter der Tür; dann scholl ein fröhliches Lachen an Gräfin Gertruds Ohr. Es war das erstemal, daß die Prinzessin seit dem Verschwinden ihres goldenen Hundes gelacht hatte.

Ehe Gabriel an dem Abend sich in seinem prächtigen Zimmer zum Schlafen niederlegte, nahm er das kleine braune Buch, das mit seiner schäbigen Kleidung zusammengepackt worden war. Sein Herz war voll Dankbarkeit gegen Gott für die Hilfe, die ihm an dem Tage zuteil geworden, und als er das Buch öffnete, war es ihm, als spräche eine liebevolle Stimme: › Du erhältst stets Frieden nach gewisser Zusage; denn man verläßt sich auf dich.‹

»Lieber Gott, ich verlasse mich auf dich,« murmelte er; dann kletterte er in das weiche Bett und schlief traumlos.

Der König und die Königin hatten die Bitte ihrer Tochter, Gabriels Plan auszuführen, bewilligt, und so fuhren am nächsten Morgen zwei junge Menschen in einem einfachen dunkelfarbigen Wagen aus dem Schloßparke. Der Kutscher hielt vor einem Zuckerwarenladen an. Ein großer Mann in unauffälliger Kleidung, der auch in dem Wagen saß, sprang zuerst heraus und half dem jungen Mädchen aussteigen. Ihr folgte ein junger Bursche. Dann fuhr der Wagen fort.

»Vergessen Sie nicht,« sagte das junge Mädchen zu dem großen Mann gewandt, »daß Sie, ohne aufzufallen, in unserer Nähe bleiben sollen.«

Er verbeugte sich untertänig, und im nächsten Augenblick standen das Mädchen und der Knabe, die einfach wie Leute aus dem Mittelstande gekleidet waren, vor dem Fenster des Zuckerbäckers und betrachteten ein aus rosa und weißem Zucker hergestelltes Schloß, das einen Kuchen zierte, der mit so wunderbaren Bonbons belegt war, daß einem bei dem Anblicke das Wasser im Munde zusammenlief.

»Haben Hoheit je so etwas Großartiges gesehen,« rief Gabriel entzückt.

Die Prinzessin lachte. Ihre Backen waren rosig, und ihre Augen glänzten. Es war das erstemal, daß ihre kleinen Füße das Straßenpflaster der Stadt berührten, und sie war froh über dieses Abenteuer.

»Finde Topas, und der ganze Inhalt dieses Fensters soll dein sein,« entgegnete sie.

»Es liegt mir nichts daran, irgend etwas zu erhalten, wenn wir ihn finden, Hoheit,« sagte Gabriel schlicht.

»Du mußt mich nicht so nennen. Es könnte dich jemand hören.«

»Ich weiß es wohl. Die Gefahr ist vorhanden,« sagte Gabriel; »aber der Herr, der uns folgen soll, erklärte, ich würde meinen Kopf verlieren, wenn ich mir Vertraulichkeiten gegen Euch erlaubte.«

Die Prinzessin lachte wieder. Sie fühlte sich wie in einer neuen Welt, wie ein Vogel, dessen Käfigtür geöffnet worden war.

»Wir brauchen deinen Kopf, bis wir Topas gefunden haben,« rief sie, »denn du hast kluge Einfälle. Übrigens heiße ich Luise, merk' dir das für den Notfall. Wohin wenden wir uns zuerst?«

»Diese Straße gerade hinunter,« sagte der Knabe und ging voran. »Ich erwarte, daß Gott uns den Weg zeigen wird,« fügte er hinzu. Seine Gefährtin sah ihn erstaunt an; Gabriel bemerkte es.

»Wißt Ihr nichts von Gott?« fragte er.

»Natürlich. Wer weiß das nicht?« erwiderte sie kurz.

»Ich wußte es nicht,« antwortete Gabriel, »bis ich das Buch des Lebens fand. Es spricht zu mir in flammenden Worten. Habt Ihr ein solches Buch?«

»Nein, aber ich will dir deins abkaufen,« sagte die Prinzessin.

»Das kann niemand,« erklärte der Knabe, »denn ich schätze es über alles. Heute morgen suchte ich darin nach einer Weisung für diesen Tag, und die Worte, die mir entgegenleuchteten, waren so schön:

Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen‹.«

Gabriel lächelte der Prinzessin mit solcher Glückseligkeit zu, daß sie ihn verwundert ansah.

»Du kannst dich nicht weigern, mir das Buch zu verkaufen,« sagte sie schließlich, »denn ich könnte dir den Kopf abschlagen lassen, wenn ich es wollte. Ich bin die Tochter des Königs.«

»Gott ist größer als alle Könige,« sagte Gabriel, »und er würde das nicht zugeben. Er half mir gestern, Eure Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, und heute werden uns seine Engel begleiten, um Topas zu finden. Das Buch des Lebens ist für alle Menschen. Ich bin überzeugt, Ihr könnt auch eins bekommen.«

Plötzlich horchten Knabe und Mädchen auf, denn der Wind trug ihnen einzelne Töne einer fernen Musik zu. »Vorsicht, größte Vorsicht,« mahnte Gabriel und ergriff die Prinzessin, die zu laufen begann, beim Arm, zum Entsetzen des großen Mannes im dunklen Anzug, der sich in geringer Entfernung hinter ihnen hielt, sie aber nicht aus den Augen ließ. »Ihr dürft nicht zu eifrig sein,« fügte der Knabe, ebenso erregt wie sie, hinzu. »Eine Drehorgel ist etwas sehr Alltägliches. Wir hören sie sogar zuweilen auf dem Lande.«

Sie verfolgten jedoch beide den Ton und versuchten, ihren Eifer, so gut sie konnten, zu unterdrücken. Als sie des Orgelspielers ansichtig wurden, seufzten sie beide, denn er hatte keinen kleinen Hund bei sich.

Die Prinzessin wollte sich ungeduldig abwenden.

»Wartet,« sagte Gabriel, »wir interessieren uns für Drehorgelmusik.« Er veranlaßte sie, einen Augenblick stehenzubleiben, während ihre Blicke nach allen Richtungen hin schweiften. Der Orgelspieler hoffte, ein paar Kupferpfennige von den beiden zu bekommen, denn sie waren anständig angezogen und hatten anscheinend Freude an dem Spiel. Er sah sie fest an und hielt ihnen seine Mütze hin.

Die Prinzessin hatte eine Menge Pfennige in ihrem Beutelchen. Gabriel hatte sie bedachtsamerweise hineingetan statt der Handvoll Silbermünzen, mit denen sie die Straßenmusikanten zu entlohnen gedachte.

»Ihr gehört heute zu den gewöhnlichen Leuten, Hoheit; sonst könnt Ihr Euch keine Hoffnung auf Topas machen,« hatte er sie erinnert; so warf das ungeduldige Mädchen rasch einige Kupfermünzen in die hingehaltene Mütze und ging eilig davon, als verschwendete sie nur ungern die Zeit.

Auf dem Kasten des nächsten Orgelspielers, dem sie begegneten, saß ein Affe mit einer roten Mütze und roten Jacke, und Gabriel bestand darauf, still zu stehen und ihm zuzusehen, obschon der Anblick seiner Mätzchen der Prinzessin nur das Herz schwer machte; denn sie ahnte, daß Topas auch irgendwo zu solchen Unwürdigkeiten gezwungen würde.

Der kleine Affe schien diese nicht zu empfinden; er sprang fröhlich zu seinem Herrn und brachte ihm die Kupfermünzen, die Gabriel in die Mütze geschüttet hatte.

Der dritte Orgelspieler, den sie trafen, wurde von einem kleinen italienischen Mädchen begleitet, das ein rotseidenes Tuch um den Kopf trug. Sie schlug das Tamburin und sang dazu, und wieder überredete Gabriel seine Gefährtin, einen Augenblick stehenzubleiben und zuzuhören.

Wenn sie nur erst Topas gefunden hätten; dann würde Ihre Königliche Hoheit, die Prinzessin des Landes, gar nichts lieber tun, als frei in den Straßen umhergehen, umherhören und umherschauen wie jedes andere junge Ding, das seinen freien Tag hat; aber Topas lag ihr schwer im Sinn, und sie war es nicht gewöhnt, daß man sie zwang, auf etwas zu warten.

»Hört auf mich,« murmelte Gabriel, als sie weitergingen, nachdem die kleine Italienerin, lachend vor Freude über die Gabe, alle ihre weißen Zähnchen gezeigt hatte. »Seht nicht so böse aus. Ihr müßt fröhlich scheinen. Das ist die einzig richtige Art und Weise.«

So tat sich die Prinzessin Zwang an. Bei der vierten Orgel sahen sie einen gelben Hund, dem man eine kleine Mütze aufgesetzt hatte; er saß aufrecht und hielt einen Teller für das Geld zwischen den Zähnen. Die kleine Prinzessin preßte die Lippen aufeinander, um sich zu beherrschen. Der Hund hatte lange Ohren und weiße Pfoten. Gabriel fühlte sein Herz bis in den Hals hinauf klopfen; doch, als der Mann anfing zu spielen, faßte er schnell nach dem wollenen Kleid seiner Begleiterin. Es war nicht der Orgelspieler von gestern, aber das machte für Gabriel nichts aus. Sie warteten, bis das Stück zu Ende gespielt war; die Prinzessin ließ währenddessen kein Auge von dem gelben Hund. Dann kam das kleine Geschöpf sehr niedlich auf den Hinterpfoten auf sie zu und präsentierte seinen Teller; die beiden Kinder warfen Kupfermünzen hinein und sahen in die gelben Augen des Hundes.

»Hi–Oh–Hi–Oh« – mischte sich eine andere Melodie in die neue, die ihr Orgelspieler jetzt begann. Bei dem Geräusche blickten Gabriel und die Prinzessin über die Straße hinüber, wo ein zweiter Straßenmusikant stand und orgelte. Er machte ihnen mit dem Kopfe ein Zeichen und zeigte lächelnd seine Zähne.

»Achtet nicht auf ihn,« sagte der Mann mit dem gelben Hund und spielte eifrig gegen den anderen Orgelspieler an, so daß es eine schrille Disharmonie gab. »Es ist Pedro mit seinem kleinen braunen Tier. Er versucht, mir die Zuhörer abspenstig zu machen, als ob ich nicht den klügsten Hund der ganzen Welt hätte und noch dazu von der Farbe, die die Prinzessin in Mode gebracht hat. Ich zweifle nicht daran, daß Ihre Hoheit, wenn sie meinen Hund sähe, mir soviele Goldstücke für ihn geben würde, wie ich Finger an der Hand habe; aber sie soll ihn nicht haben, sie hat Freuden genug und braucht den Kindern auf der Straße nicht ihre Freude zu nehmen.«

Das Mädchen in dem braunen Wollkleide preßte die Hände zusammen, daß sie schmerzten; ihr Herz schlug hoffnungsvoll; aber Gabriel schüttelte den Kopf, und so schwieg sie. Er hatte schon bemerkt, daß der Hund nicht Topas war, wenn er ihm auch in Größe und Form sehr ähnelte.

Pedro kam inzwischen von der anderen Seite der Straße herbei. Er nickte grüßend mit dem Kopfe und drehte eifrig seine Orgel. Hinter ihm trottete ein wenig versprechender, kleiner, brauner Hund mit hängendem Schwanz und hängenden Ohren. Der Mann sah heute in guter Stimmung und erfolgreicher Tätigkeit anders aus als der Orgelspieler von gestern, und als er laut lachte, machte der Herr des gelben Hundes ein böses Gesicht. Er rief ihm etwas auf italienisch zu, schulterte dann seine Orgel und zog mit dem Hunde ab, der sichtlich froh war, wieder auf allen Vieren laufen zu können.

Pedro lüftete lachend den Hut vor den zögernden Kindern. »Er meint, ihr hättet ihm alle eure Pfennige gegeben. Ich glaube es aber nicht und will euch jedenfalls ein Stück vorspielen.«

»Du läßt ihn entschlüpfen,« flüsterte die Prinzessin atemlos, in der Absicht, dem gelben Hunde nachzugehen.

»Saht Ihr nicht, daß es nicht Topas war?« fragte Gabriel, für Pedro bei der lauten, lebhaften Musik unverständlich, und faßte wieder nach einer Falte des wollenen Kleides, um das Mädchen zu veranlassen, nicht von dem Platze zu weichen. »Wartet,« sagte er laut und tat sehr interessiert, »ich möchte die Musik hören.«

»Laß mich gehen, mir ist das Herz schwer,« erwiderte die Prinzessin und wandte sich zur Seite.

Gabriel tat, als sei er böse auf sie, und zog ein paar Pfennige aus der Tasche, bei deren Anblick es in den Augen des Orgelspielers aufblitzte und er lauter spielte als gewöhnlich.

»Könnt Ihr stark sein, Prinzessin?« fragte der Knabe eifrig. »Seht jetzt nicht hin, aber Topas ist hier.«

Die Prinzessin schrak zusammen, und statt zu gehorchen, sah sie erst scharf auf den jämmerlichen, kleinen, braunen Hund und dann suchend die Straße entlang – aber umsonst.

»Wenn diese Pfennige für mich bestimmt sind, mein Junge,« sagte der Orgelspieler und hörte auf zu spielen, »sollen du und deine Schwester meinen Hund tanzen sehen. Er ist ein Weltwunder, wenn er auch nicht schön aussieht. Wir können nicht alle königlicher Herkunft sein und goldhaarige Hunde besitzen.«

Gabriel warf ihm die Münzen zu. Er wollte Topas noch nicht näherkommen, weil er fürchtete, der kleine Hund würde ihn trotz seiner neuen städtischen Kleidung erkennen, während vielleicht Gabriels eigener Bruder fremd an ihm vorübergegangen wäre.

Der Knabe schlug laut die Hände über dem Kopf zusammen. Der Orgelspieler hielt dies für ein Zeichen der Freude; aber es war ein verabredetes Signal. Ein schriller Pfiff tönte durch die Luft. Der Orgelspieler kannte den Pfiff und wußte, daß die Polizei damit herbeigerufen wurde. Er wunderte sich, welch' armer Teufel wohl in Not geriet, aber das ging ihn nichts an. Er nahm eine Peitsche aus der Rocktasche und schlug damit scharf auf die Orgel.

Bei diesem Geräusche fuhr der kleine Hund zusammen. Die Prinzessin bemerkte, daß Gabriel die Augen fest auf ihn gerichtet hielt und begriff nicht, aus welchem Grunde wohl ihr Gefährte dieses elende, dunkelfarbige Tier mit ihrem fröhlichen kleinen Liebling verwechseln könnte.

Die Musik setzte ein. Der Hund stellte sich geduldig auf die Hinterfüße und stelzte so langsam umher, daß der Orgelspieler ihn wütend ansah und von neuem auf das Instrument schlug. Da bewegte der kleine Tänzer sich schneller, aber die Ohren flogen ihm nicht um den Kopf, und er tanzte nur ruckweise. Aber trotzdem schlug der Prinzessin das Herz zum Zerspringen. Sie besann sich auf Gabriels Erzählung, wie er im Bache die braune Farbe von dem schmutzigen Fell abgewaschen hatte. Ihre Augen standen voll Tränen bei dem Gedanken, daß dieses Hündchen möglicherweise der Gegenstand ihres Suchens sein könne. Sie hatte gerade noch Fassung genug, sich ganz still zu verhalten und Gabriel alles zu überlassen. Jetzt kam auch der große Herr in Begleitung eines Polizisten heran. Gabriel erkannte sofort, daß es derselbe Beamte war, der ihn gestern fortgejagt hatte.

Der große, würdevolle Kammerherr sah mit Verachtung auf den steifen kleinen Tänzer herab.

»Dieser törichte Bauernjunge bringt uns nur in Ungelegenheiten,« dachte er, »aber er soll dafür büßen.«

Gabriel kannte die Gesetze des Landes; er wußte, daß er, wenn er den Orgelspieler fälschlicherweise anklagte, anstatt seiner ins Gefängnis gesteckt werden würde; aber Gabriel hatte nur die goldbraunen Hundeaugen gesehen und war seiner Sache sicher. Nun gab es keinen Zweifel mehr, und freudig schlug dem Jungen das Herz.

»Kommt fort von hier, Hoheit,« flüsterte der Kammerherr der Prinzessin ins Ohr, »dies ist eine Komödie.«

»Bleibt zurück und wartet,« entgegnete sie strenge, und er gehorchte.

Inzwischen hatte der Orgelspieler die Hinzugekommenen bemerkt und riß in Erwartung einer reichen Einnahme seinen Mund so weit auf, daß jeder Zahn darin sichtbar wurde. Gleich darauf hörte er auf zu spielen, und der braune Hund stellte sich wieder auf seine vier Beine; sein erbarmungswürdiger Anblick schnitt der Prinzessin ins Herz.

Der Orgelspieler hielt seine Mütze hin.

»Ich finde nichts Besonderes an dem Tanzen Eures Hundes,« sagte Gabriel und sah ihn scharf an. »Bei mir würde er es besser machen.«

»Es nützt nichts, die Peitsche zuviel zu gebrauchen,« sagte der Orgelspieler, aber Gabriel war schon neben dem Hunde niedergekniet und hatte ihm etwas zugeflüstert. Sofort geriet das kleine Tier außer sich vor Entzücken. Es sprang dem Knaben an die Brust und krampfte sich dort so fest, daß Gabriel das Experiment, das er hatte machen wollen, aufgab, nämlich dem Manne zu zeigen, wie sein Sklave tanzen konnte.

Gabriel stand auf, den keuchenden Topas im Arm.

»Ich erkläre,« sagte er laut, »daß dies der gestohlene Hund der Prinzessin ist.«

Der Orgelspieler schnaubte und wurde bleich. »Das ist eine Lüge,« rief er, »der Prinzessin Hund ist goldhaarig.«

»Dieser Hund ist goldhaarig,« sagte Gabriel.

Selbst auf den Kammerherrn machte die feste Gewißheit, die in des Knaben Ton lag, Eindruck. Der Orgelspieler wandte sich an den Polizisten und hob drohend die Faust. »Es ist der Junge von gestern!« schrie er. »Wenn dies der Prinzessin Hund ist, dann hat er ihn gestohlen. Ich fand das arme Tier ohne Freund und Heimat und hatte Mitleid mit ihm.«

»Warum habt Ihr ihm dann das Fell gefärbt?« fragte Gabriel.

Der Orgelspieler sah verzweifelt die Straße auf und ab. Es war ihm klar, daß heute ein Silberstück bei dem Polizisten nichts ausrichten würde.

Der Kammerherr wies strenge auf den Angeklagten. »Führt ihn ab,« sagte er zum Polizisten. »Sollte es sich wirklich herausstellen, daß dies der Hund der Prinzessin ist, dann hat er Verrat geübt.« Darauf winkte er dem Kutscher, und der dunkle Wagen mit den feurigen Pferden kam heran. Die Prinzessin und der Kammerherr stiegen ein; Gabriel folgte mit dem Hunde auf dem Arm, und fort ging's im Trab.

Um Mittag hatte es sich schon in der Stadt herumgesprochen, daß Ihre Königliche Hoheit, die Prinzessin des Landes, gekleidet wie ein Mädchen aus dem Volk, durch die Straßen gegangen war.

Im Wagen weinte die Prinzessin Freudentränen über ihren wiedergefundenen Liebling.

»Wenn du es wirklich bist, Goldlöckchen, wenn du es bist!« wiederholte sie, aber der Hund drängte sich dicht an den Einen heran, der seine Topasaugen trotz allem erkannt hatte.

»Der Hund ist in einem solchen Zustande, daß Hoheit ihn nicht anrühren können,« sagte Gabriel, »aber wenn Hoheit mir eine einzige Stunde Zeit lassen wollen, dann will ich ihn in seiner alten Schönheit vorführen.«

An diesem Nachmittag herrschte Freude im Palaste. Alle hatten unter dem Einfluß des Kummers der Prinzessin gelitten; denn sie war der Abgott des Königs und der Königin. Jetzt, da Topas wieder wie ein lebendiger Sonnenstrahl durch die Schloßgänge und den Garten streifte, wurden viele lobende Worte dem Bauernburschen zuteil, dem es gelungen war, das Hündchen in sein Heim zurückzubringen.

Am Abend ließ sich Gabriel bei der Prinzessin melden, und sie befahl, daß er zu ihr geführt werde.

Gleich darauf trat er ein in der dürftigen Kleidung, die er getragen hatte, als er auf den Wagentritt gesprungen war. Er trug in der Hand ein kleines vergilbtes Buch und sah die Prinzessin fest an mit dem ehrlichen Blick, durch den sie zuerst bewogen worden war, Gabriel anzuhören.

»Ich komme, um Lebewohl zu sagen, Hoheit,« sagte er.

Ihre Stirn legte sich in Falten. »Was ist dir als Belohnung gegeben worden?«

»Nichts, Hoheit.«

»Was trägst du da in der Hand?«

»Das Buch des Lebens.«

»Tritt näher und laß mich es sehen.«

Die Hofdamen waren, wie gewöhnlich, um ihre Herrin versammelt und blickten neugierig auf den Bauernburschen.

Nur Topas, der bei Gabriels Eintritt sein Atlaskissen verlassen hatte, das in derselben Farbe wie sein goldhaariges Fell leuchtete, sprang mit allen Zeichen der Zuneigung an ihm hoch.

Gabriel trat näher und überreichte der Prinzessin das Buch.

Sie öffnete es und ließ ihren Blick über die vergilbten Seiten schweifen.

»Ich sehe keine feurigen Buchstaben,« sagte sie und gab es zurück. Der Knabe öffnete es, und wie gewöhnlich flammte ein Vers vor ihm auf. Er wies mit dem Finger darauf und las die Worte laut:

» Er rufet mich an, so will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not; ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen

»Das ist eine schöne Verheißung,« sagte die Prinzessin, »aber flammende Buchstaben sehe ich nicht.«

»Ich aber sehe sie, Hoheit,« entgegnete Gabriel schlicht, und ein Blick in seine Augen bestätigte ihr, daß er die Wahrheit sprach.

Sie sah ihn gespannt an. »Wohin gehst du und was wirst du tun?« fragte sie nach einer Pause.

»Das weiß ich nicht,« antwortete Gabriel, »aber Gott wird es mir zeigen.«

»Durch dieses Buch da?«

»Ja, Hoheit.« Gabriel neigte den Kopf und schritt auf die Tür zu, Topas dicht hinter ihm. Wollte Gabriel spazierengehen, wohlan, er würde mitgehen.

Der Knabe lächelte trübe. Er wußte, der goldgelbe Hund liebte ihn, und auf der Welt gab es sonst niemand, der danach fragte, ob er käme oder ginge. Er beugte sich nieder, nahm das kleine Geschöpf auf seinen Arm und brachte es zur Prinzessin. »Man wird ihn zurückhalten müssen, Hoheit, damit er mir nicht folgt.«

Die Prinzessin nahm den Hund entgegen, aber er riß sich los, um von neuem an seinem enteilenden Freund hochzuspringen.

»Warte,« sagte die Prinzessin und erhob sich. Gabriel stand erwartungsvoll still und sah sie an; sie lächelte ihm freundlich zu. »Ich versprach dem eine hohe Belohnung, der mir meinen Hund zurückbrächte. Du hast noch nicht einmal die schönen rosa und weißen Süßigkeiten bekommen, die ich dir heute morgen in Aussicht stellte.«

Gabriel mußte auch lächeln.

»Wo ist dein Heim, Gabriel, und weshalb kehrst du nicht dahin zurück?«

»Ich habe kein Heim. Es ist eine lange Geschichte, die Euch nicht interessieren dürfte, Hoheit.«

»Aber sie interessiert mich wohl,« sagte die Prinzessin mit dem freundlichsten Lächeln, »denn wenn du kein Heim hast, kannst du in unseren Diensten bleiben.«

Ein Leuchten lief über Gabriels ernstes Gesicht. »Welch' ein Glück wäre das!« rief er.

Keine Antwort könnte der Prinzessin besser gefallen haben, als die Freude, die sich in seinen Augen widerspiegelte. »Topas möchte dich nicht missen und ich ebensowenig. Wenn du älter sein wirst, wird Seine Majestät, mein Vater, sich deiner annehmen. Fürs erste sollst du Page werden.«

»Aber Hoheit!« widersprach Gräfin Gertrud, »habt Ihr das bedacht? Die Pagen sind von hoher Herkunft. Wird der Bauer da hineinpassen? Gebt ihm eine Börse voll Gold und laßt ihn ziehen.«

Die Prinzessin überlegte einen Augenblick die Sachlage, ohne den Blick von dem erregten Gesicht des Knaben abzuwenden, während Topas seine kalte kleine Schnauze an Gabriels herabhängende Hand drückte.

»Gabriel ist mein Freund, ob Prinz oder Bauer,« sagte sie langsam, »und es wird denen schlecht ergehen, die ihn nicht gern haben.« Ihr Blick begegnete dem Gabriels, und dann lächelte sie so herzensfröhlich wie am Morgen, als sie noch das braune Wollkleid trug.

»Und nun laß Topas tanzen,« fügte sie hinzu, »wie er es bei dir im Walde getan hat.«

Der Knabe sah glücklich auf den Hund herab und hob den Finger. Gleich setzte der Hund sich in Positur, und Gabriel begann zu flöten.

Trotz aller Zurückhaltung mußten die Hofdamen herzlich Beifall lachen, denn sie hatten noch nie etwas Niedlicheres gesehen. Für keine von ihnen, selbst nicht für die Prinzessin, hatte Topas so getanzt wie heute.

»Ach,« flüsterte die Prinzessin, »wieviel mächtiger als die Peitsche ist die Liebe!«

Als die Musik und das Tanzen beendet waren, nickte sie Gabriel, dessen Herz vor Glück überfloß, noch einmal herzlich zu.

»Geh' jetzt,« sagte sie, »und laß dich in deine neuen Pflichten einweihen; die höchste hast du freilich schon begriffen. Sie heißt: treu sein!«


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