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11. Die unschuldig Verurteilten

Ein König besuchte eines Tages das Staatsgefängnis und ließ sich die Verbrecher vorführen. Er fragte den ersten, der angekettet war: »Welches Verbrechen hast du begangen?«

»Gar keins, Majestät, ich bin unschuldig«, antwortete er. –

Der König erwiderte nichts und wandte sich zum zweiten, dessen Augen unheimlich funkelten: »Warum bist du hier?«

»Oh, Majestät, man hat mir Unrecht getan«, gab er zur Antwort. »Die Richter haben mich ohne wirkliche Beweise verurteilt, ohne auf meinen Verteidiger zu hören.«

Der dritte, ein Wucherer, beschuldigte seine Feinde, ihn verleumdet zu haben, weil sie ihm sein sauer erworbenes Vermögen nicht gönnten. Der vierte, der betrügerischen Bankerott gemacht hatte, behauptete, nur seine unglücklichen Unternehmungen hätten den Zusammenbruch herbeigeführt und ihn am Bezahlen seiner Schulden verhindert. Man hätte ihm nur noch Zeit gönnen sollen. Der folgende, ein Mörder, warf sich dem Landesfürsten zu Füßen und flehte um Erlaß der weiteren Strafe, weil er seine Tat nur aus Irrtum beging. – Und so beteuerten alle Sträflinge ihre Unschuld. Die schwersten Verbrecher: Räuber, Mörder, Einbrecher, Gauner und andere waren nach ihrer eigenen Meinung bloß unglückliche Dulder.

Der König hörte sie alle, wohl gegen zweihundert, an und sagte zum letzten: »Du brauchst mir's nicht erst zu versichern, daß du auch unverdient hier bist, sonst wärst du eben nicht hier.«

»Wehe mir, nein, Majestät! Ich bin ein Verbrecher und hätte noch schlimmere Strafe verdient. Mein Gewissen peinigt mich furchtbar.«

»Dann freilich«, rief lächelnd der gütige König, »bist du nicht würdig, hier in Gesellschaft dieser Ehrenmänner länger zu verweilen. Entferne dich! Du bist frei. Aber hüte dich, je wiederzukehren.«


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