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Dreißigstes Kapitel.
Fräulein Serle wird ungehorsam

Yoxby heißt die Station,« sagte Fräulein Serle, als sie, immer noch leise schluchzend, am Bahnhof ausstieg. »Da bezahlen Sie den Kutscher und nehmen Sie eine Fahrkarte für sich, erste Klasse.«

Damit überreichte sie Peggy einen umfangreichen gehäkelten Geldbeutel mit zwei silbernen Ringen. Sie hatten noch längere Zeit auf den Abgang des Zuges zu warten, und während des Aufenthalts im Bahnhof fand die alte Dame ihr Gleichgewicht wieder, ja Peggy wunderte sich im stillen, wie heißhungerig sie jeden kleinsten Eindruck in sich aufnahm. Der Automat, eine auffallend gekleidete Dame, ein wohlfrisierter Pudel mit Bändern und Glöckchen waren für sie große Sehenswürdigkeiten.

Endlich ging der Zug ab, ein Zug, der sich Zeit ließ, an jeder Haltestelle anhielt und die beiden Damen nach Verlauf einer Stunde auf dem sehr bescheidenen Bahnsteig von Yoxby absetzte. Der Stationsvorstand selbst kam an den Wagen, hob Fräulein Serle heraus und geleitete sie mit wahrer Ehrfurcht an ihren Wagen, eine Art von Arche Noah mit dunkelblauem Verdeck und gelb lackiertem Wagenkasten. Ein Paar uralter Rosse und ein ehrwürdiger Kutscher mit langem weißem Bart standen ganz im Einklang mit dieser Kutsche, weniger der flinke junge Diener, der den Schlag aufriß.

Mit der Geschwindigkeit eines mäßigen Fußgängers, hoch tretend und sich gewaltig in die Brust werfend, führten die Rosse ihre Herrin dahin. Die Gegend war freundlich und der Julinachmittag klar und warm. Peggy sah mit Entzücken wieder einmal grüne Hecken und sog mit Wonne die reine, würzige Luft ein, die den alten Rumpelkasten durchströmte, Heu- und Geißblattdüfte herzu tragend. Wie anders als im Laden! Die ganze Landschaft machte den Eindruck weltentrückter Stille; man fuhr an Bauernhöfen und kleinen Taglöhnerhäuschen vorbei, und nur an einem einzigen Herrenhaus, das aber seine Fensterläden gegen neugierige Blicke verschlossen hatte.

»Das ist Yoxby Hall, das den Giffards gehört, meinen nächsten Nachbarn, die aber selten auf dem Land sind,« bemerkte die alte Dame. »Und hier kommt Serlewood.«

Als der Wagen vor einem feierlichen Parkthor mit Pförtnerhaus zu beiden Seiten hielt, kam eine alte Frau herausgehumpelt, um die Herrschaft mit tiefen Knicksen zu begrüßen, wofür ihr ein herablassendes Nicken der Federkiele auf dem alten Hut zu teil wurde. Jetzt rollte das Gefährt wohl zehn Minuten lang durch einen Park, wo überall schönes Bauholz geschichtet lag, und dann kam ein geradliniger Bau mit großer säulengetragener Altane in Sicht. Mit einigem Befremden gewahrte Peggy rechts und links vom Weg ganze Reihen von Tellern und Untertassen.

»Das ist für die im Freien lebenden Katzen,« beantwortete Fräulein Serle ihre stumme Frage, »denn die Dienstboten wollen nur eine bestimmte Anzahl im Haus haben. Die Haushälterin hat drei, Darling und das Zimmermädchen haben je zwei, ich persönlich eigentlich keine. Der Parkhüter hat immer etwas auszusetzen an den Katzen, weil sie schreckliche Wilderer seien, da aber niemand hier jagt, sehe ich nicht ein, was das schaden soll, und nun, meine Liebe, steigen Sie, bitte, schnell aus, Pulsifor kann nicht lange unter der offenen Thüre stehen!«

Pulsifor war vermutlich der ehrwürdige Haushofmeister, der auf den Stufen der Terrasse stand, ein vertrocknetes Männchen mit langen silberweißen Haaren und breiter schwarzer Halsbinde. Er empfing seine Gebieterin mit Würde und Anstand, als er aber sah, daß die Begleiterin auch Miene machte, ins Haus zu treten, starrte er Fräulein Serle an, als ob sie ihm zumuten wollte, einen lebenden Gorilla oder ein Känguruh einzulassen, und wurde vom Wirbel bis zur Zehe eitel Ablehnung.

Plötzlich entsann er sich jedoch seiner Dienerpflicht, schlurkte durch die breite, mit Fliesen belegte Halle und riß die Thüre zum Empfangszimmer auf, einem großen, halbdunkeln Gemach mit abgeschossenen Wandbehängen, verblaßten Teppichen und gänzlich entfärbten Straminstickereien auf Sofakissen, Fußbänken und Kaminschirmen, dessen vier Glasthüren auf einen im Rokokostil angelegten, jetzt sehr verwilderten Garten hinausgingen.

»Ich fürchte, ich bin etwas zu spät daran, Pulsifor,« sagte die Schloßherrin entschuldigend.

»Ja, Fräulein Sophie,« erwiderte er, eine Taschenuhr im Umfang einer stattlichen Zwiebel herausziehend. »Es ist noch zehn Minuten bis sechs Uhr; in fünf Minuten wird angerichtet werden.«

Sein Blick streifte Peggy mit dem deutlichen Ausdruck: »Beeile dich also, fortzukommen.«

»Diese junge Dame wird hier speisen – ja – auch über Nacht bleiben, Pulsifor,« verkündete Fräulein Serle, halb furchtsam, halb würdevoll. »Meine Liebe – wie war doch Ihr Name?«

»Hayes – Margaret Hayes.«

Pulsifor schien zur Salzsäule erstarrt zu sein. Endlich fand er nach kurzem, scharfem Hüsteln die Sprache wieder.

»Fräulein Sophie – darf ich bitten – einen Augenblick in der Halle?«

»O gewiß, gewiß,« versicherte sie sichtlich erschreckend und eilte zur Thür hinaus, die er langsam hinter ihr und sich schloß. Nach kurzer Zeit ging sie aber wieder auf, und das gerötete Antlitz der alten Dame wurde sichtbar.

»Wir speisen erst um halb sieben Uhr,« rief sie Peggy zu. »Ich habe das Essen aufschieben lassen, so haben wir noch Zeit, uns bereit zu machen.«

Während Pulsifor, hüstelnd und etwas von »im Bett ermordet werden« vor sich hinbrummend, davonschlurkte, führte Fräulein Serle ihren Gast eine monumentale, sanft ansteigende, eichene Treppe hinauf in ihr eigenes Zimmer, wo ein altes Weibchen, ganz in wollene Tücher eingemummt, der Herrin harrte.

»Darling, diese junge Dame wird hier übernachten.«

Darlings Gesicht drückte maßloses Staunen und maßlose Mißbilligung aus. Seit zwanzig Jahren hatte Serlewood keinen Gast mehr beherbergt, und nun hatte ihr Fräulein, die ja so unbesonnen und urteilslos war, eine landfremde Person aufgelesen, die eine Diebin, eine Erbschleicherin, eine Komödiantin sein konnte. Sie maß Peggy mit feindseligem Blick vom Scheitel bis zur Sohle, sagte aber kein Wort, was für Fräulein Serle von übelster Vorbedeutung war. Wenn Darling schwieg, so konnte sie sich auf kalte, lieblose Behandlung, scharfe Bemerkungen über »was der selige Vater dazu gesagt haben würde« gefaßt machen – sie durfte ja nur an die schwarzen Strümpfe denken! Als Fräulein Sophie sich unterfangen hatte, von weißen zu schwarzen Strümpfen überzugehen, hatte Darling wochenlang kein freundliches Wort mit ihr gesprochen!

»Machen Sie das eichene Zimmer neben diesem für Fräulein Hayes zurecht,« fuhr das alte Fräulein, allen Mut zusammenraffend, fort, »und sorgen Sie auch für Kamm, Bürste, Morgenschuhe. Dann legen Sie dem Fräulein auch eins von meinen Nachthemden zurecht! – Ich kleide mich immer um zu Tisch, meine Liebe,« fuhr sie gegen Peggy gewendet fort, »da Sie aber nicht in der Lage sind, es auch zu thun, erwarten Sie mich vielleicht unten im Salon – ich brauche nicht lange.«

Peggy that, wie ihr geheißen wurde, besah sich alle Herrlichkeiten des dämmerigen Raumes, Herrlichkeiten aus vergangener Zeit, und wunderte sich, daß in all diesen Blumenvasen und Schalen auch nicht eine einzige Blume war. Sobald das Gong erklang, rauschte Fräulein Serle in violettem Samt mit langer Schleppe, rosig schimmerndem Schmuck von Topasen und einem Elfenbeinfächer in der Hand zur Thüre herein.

»So, mein Kind, jetzt gehen wir hinüber – ich werde Sie führen!«

Das merkwürdige Paar betrat ein saalartiges Speisezimmer, worin der mit reichem Silbergeschirr beladene Eßtisch den einzigen hellen Fleck bildete, und wurde von dem ehrwürdigen Herrn Pulsifor und einem etwas jüngeren Gehilfen bedient. Die Mahlzeit entsprach den Bedürfnissen und Gepflogenheiten alter Leute und bestand eigentlich aus Krankenkost, die in lautlosem Schweigen verzehrt wurde, bis Herr Pulsifor nach dem Sagopudding beiden Damen ein kleines Glas Portwein vorsetzte und sich zurückzog.

»Wir sind sehr altmodische Leute, wie Sie sehen,« fing Fräulein Serle zu plaudern an. »Alles geschieht zur selben Stunde wie bei meinen Eltern, die meisten von. den Leuten waren sogar noch in ihrem Dienst. Pulsifor ist über achtzig Jahre alt und mein Kutscher nicht viel jünger; ich mußte seinen Enkel als Groom anstellen, damit er ihm hilft, auf den Bock hinauf und herunter zu klettern.«

»Ein wundervolles altes Haus! Sie hängen wohl sehr daran, gnädiges Fräulein?«

»Gewiß, meine Liebe, und ich erhalte es genau wie zu meines Vaters Zeiten, der vor zwölf Jahren in hohem Alter starb. Wollen wir jetzt in den Salon gehen?«

Fräulein Serle zog dort die dichten Vorhänge auf und Peggy rief hinausblickend: »Was für ein lieber alter Garten!«

»Was möchten Sie jetzt beginnen?« fragte das alte Fräulein. »Ich lege in der Regel Patience, bis der Thee kommt – das ist um acht Uhr. Um neun Uhr halten wir die Abendandacht und Punkt zehn Uhr gehen wir zu Bett.«

»Ich möchte an diesem schönen Abend am liebsten in den Garten gehen, oder wäre Ihnen das zu ermüdend?«

»In den Garten nach Tisch! Aber, Kind, denken Sie doch nur an den Tau! So etwas thue ich nie!«

»Es ist aber ganz trocken und wir brauchen ja nicht durchs Gras zu gehen. Ich habe Gärten so gern und bin so lang in keinem gewesen.«

»So gehen Sie denn in Gottes Namen, aber meine Gummischuhe müssen Sie anziehen und ein warmes Tuch umlegen.«

»O bitte, bitte, lassen Sie mich gehen, wie ich bin.«

»Nein, Kind, ich kann auch entschieden sein – ohne Gummischuhe kein Garten!« rief Fräulein Serle, eine alte Klingelschnur in Bewegung setzend. »Das Gewächshaus wird leider geschlossen sein, Simnons nimmt den Schlüssel immer mit. Der Garten selbst ist nicht mehr so gut gehalten wie früher; Simnons sagt, er habe keine Zeit dazu.«

»Er ist wohl auch schon sehr alt?«

»Nein, kaum Fünfzig, erst seit sechs Jahren hier. – Darling, bitte, meine Gummischuhe!«

»Sie wollen hinausgehen, Fräulein Sophie?« fragte die vermummte Gestalt, die unter der Thüre erschienen war, halb entsetzt, halb empört.

»Nein, die junge Dame braucht sie.«

Peggy bekam also geräumige Gummischuhe und einen Kragen mit Kapuze und durfte dann ungestört umherwandeln. Die Gewächshäuser waren schön im stande, der Reife nahe Pfirsiche, Trauben und Tomaten schimmerten durch die Glasscheiben, der Garten aber war bis auf die Spargelbeete in trauriger Verfassung. Gleichwohl freute sich Peggy der Rosen und des Lavendels, die sie wie alte Freunde grüßten. Plötzlich unterbrach eine schrill tönende Glocke das andächtige Schweigen des Sommerabends, und Peggy eilte dem Haus zu, weil sie das Zeichen zum Thee darin vermutete, sah aber mit einem Mal mindestens zwanzig Katzen aus allen Richtungen herbeikommen, um sich über ihre gefüllten Schüsselchen herzumachen.

Das alte Fräulein war noch in ihre Patience vertieft, als Peggy wieder eintrat, und als sie damit fertig war, spielten sie Tricktrack bis zur Theestunde. Nachdem sie Thee getrunken halten – einen sehr feierlichen Thee in pomphaftem Silber aufgetragen – ordnete Pulsifor die Stühle in Reih und Glied und schob ein Tischchen mit Bibel und Gebetbuch vor die Herrin.

»Meine Liebe, würden Sie nicht so gut sein, an meiner Stelle zu lesen? Ich weiß nicht, was es ist, aber mit dieser Brille sehe ich gar nichts!«

Peggy schlug gehorsam die Bibel auf, fühlte sich aber etwas befangen, als sie eine endlose Schar von Dienstboten, einen wahren Hofstaat von Greisen, ins Zimmer treten sah.

Mit etwas unsicherer Stimme fing sie an, gewann aber bald die Ruhe wieder und trug das Kapitel aus der Bibel gut und eindrucksvoll vor. Dann kamen die Abendgebete aus einem großen alten Gebetbuch in Schweinsleder, doch plötzlich wurde sie mit Schrecken inne, daß sie laut und andächtig für König Georg und Königin Charlotte betete, und sie verhaspelte sich etwas bei dem Versuch, Königin Viktoria wieder in ihre Rechte einzusetzen. Endlich war die Andacht erledigt und die Leute standen auf, wobei Pulsifor förmlich aufgehoben werden mußte. Sobald er wieder stand, räumte er die Bücher weg und zog an der Spitze seiner Heerschar ab.

»Wie mir das wohl thut, wieder einmal eine junge Stimme zu hören und ein junges Gesicht zu sehen!« rief Fräulein Serle. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich zu Ihnen hingezogen fühle und wie dankbar ich Ihnen bin! Was ohne Sie aus mir geworden wäre, ist nicht auszudenken, denn wenn ich auch, wie Sie sehen, Herr in meinem Hause bin« (Peggy hatte nicht den Eindruck), »so bin ich doch auswärts hilflos wie ein Kind!«

»Es war ja so wenig, was ich für Sie thun konnte, und dieser Ausflug hierher ist für mich eine wahre Wonne! Ich bin ein Landkind und die Fahrt durch die grünen Wiesen und Ihr Garten werden mir lang im Gedächtnis bleiben; es war wie ein frischer Trunk auf staubiger Straße.«

»Um diese Zeit pflegte ich früher zu lesen, aber meine Augen sind so schwach geworden, daß ich jetzt immer nur dasitze und vor mich hinträume, heute aber kann ich plaudern!« rief das alte Fräulein seelenvergnügt. »Fräulein Cloke pflegte immer zu sagen, ich sei eine schreckliche Plaudertasche, aber nun habe ich schweigen gelernt, denn ich habe ja, niemand zum Plaudern. Mit Dienstboten spreche ich, wie Sie bemerkt haben werden, nie, das war schon ein Grundsatz meiner seligen Mutter. – Sie haben nie von mir gehört? Ich möchte Ihnen so gern ausführlich sagen, wer ich bin!«

»O Fräulein Serle, das ist wahrlich überflüssig! Ihr Heim und Ihr Wesen sagen mir genug, aber ich bin Ihnen schuldig, zu sagen, wer ich bin, und ich will's auch sagen,« setzte Peggy bewegt hinzu.

»Jedenfalls hat das Alter den Vortritt! Bitte, ziehen Sie sich einen bequemen Stuhl vors Feuer – es wird kühl!«


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