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Einunddreißigstes Kapitel.
Fräulein Serles Leben

Dieses Gut ist seit drei Jahrhunderten in unsrer Familie,« begann Fräulein Serle, die Atlasschuhe auf den Kaminvorsetzer stellend. »Mein Vater war der einzige Sohn seiner Eltern, ein Bücherwurm, der sein Leben in der Bibliothek zubrachte. Mit fünfunddreißig Jahren verheiratete er sich. Ich glaube, daß meine Mutter älter war als er, aber dieser Punkt wurde nie berührt. Sie war eine reiche Erbin und eine gottesfürchtige Frau von strengen Sitten, deren Mutter Ehrendame bei der Königin Charlotte gewesen war. Ich erinnere mich ihrer nur aus früher Kindheit als einer großen schlanken Frau mit schmalem Gesicht und eiskalten Händen, schweigsam und pünktlich. Straminstickereien und Fräulein Burneys Romane, holländische Tulpen und chinesisches Porzellan waren ihre Liebhabereien.

»Aus Gesellschaft machte sie sich nichts, führte aber doch ein großes Haus und hatte stets zwei Vorreiter, wenn sie Besuche machte. Ich hatte eine drei Jahre ältere Schwester. Charlotte war auffallend hübsch, lebhaft und ein Wildfang; sie zerriß ihre Kleider, kletterte auf Bäume, gab vorlaute Antworten und wurde immer bestraft, war aber trotzdem der Liebling. Ich war unscheinbar, schüchtern und artig. Unsre Erzieherin, ein Fräulein Cloke, war furchtbar streng, die Eltern bekamen wir nur beim ersten und zweiten Frühstück zu Gesicht, die Mutter hat uns nie geküßt, selten angeredet. Gleichwohl lag ihr unsre Erziehung sehr am Herzen, besonders unsre Haltung – ich erschrecke heute noch, wenn ich einmal nicht bolzgerade sitze! Wir durften nie eine Blume abreißen, und wenn ich mir jetzt manchmal einen Strauß Rosen abschneide, habe ich immer noch Angst, ich könnte mitten im Tag zu Bett geschickt werden! Uebrigens haben die Dienstboten auch nicht gern Blumen im Zimmer, sie sagen, es mache Unordnung. Doch, ich wollte ja von meiner Mutter erzählen. Wenn sie ins Zimmer trat, mußten wir aufstehen und ebenso, wenn sie hinausging. – Sie sehen, das war eben alte Schule!«

»Ja, und ich danke Gott im stillen, daß ich nicht mehr in diese Zeit fiel!«

»Ermüde ich Sie, meine Liebe?«

»O nein! Es ist mir zu merkwürdig – so ganz aus einer andern Welt!«

»Wir führten ein einförmiges Leben – die Mutter ja nicht minder, aber bei ihr war's freier Wille. Von acht bis zwölf Uhr Unterricht, dann Spaziergang, das heißt viermal ans Parkthor und zurück, mochte das Wetter sein wie es wollte; um halb ein Uhr das zweite Frühstück, unser Mittagessen; nachmittags Unterricht, Handarbeiten, gymnastische Uebungen, soweit man sie zur Ausbildung der Schönheit für nötig hielt; Schlag acht Uhr Brot und Milch und ins Bett. Als ich Fünfzehn war, bekamen wir in Goosegreen Tanzstunde, durften aber nicht mit den Mitschülerinnen sprechen – wir waren ja die Fräulein Serle von Serlewood Park. Was für arme Tröpfchen wir in Wirklichkeit waren, ahnten sie nicht! Jugendlichen Umgang hatten wir gar nicht, denn die Kinlochs, die drei Meilen von hier ihren Sitz hatten, kamen nicht in Betracht, weil mein Vater und General Kinloch über ein Wegrecht im Prozeß lagen. Das war ein Haß, das Schauspiel der ganzen Grafschaft! Der General, ein heißblütiger Schotte, war meinem Vater im Mundwerk über, der Vater ihm mit der Feder; seine höflichen Briefe konnten den andern schon bis aufs Blut kränken. Schließlich verlor der General den Prozeß und mußte schweres Geld bezahlen, wir Kinder aber blickten in der Kirche immer sehnsüchtig zu den jungen Kinlochs hinüber und verwünschten den Familienzwist.

»Einmal im Jahr gingen die Eltern nach London, wir wurden aber nie mitgenommen, durften auch keinen Roman lesen, nicht reiten, nicht unsre Stimmen erheben, sondern sollten wie Pflanzen dahinleben. Charlotte lehnte sich manchmal wild aus gegen solchen Zwang und drohte davonzulaufen, worauf Fräulein Cloke sie für einen ganzen Tag und länger in ihrem Zimmer einschloß.

Endlich sollten wir in Cheltenham in die Welt eingeführt werden. Wir bekamen neue Kleider, ein neuer Wagen – mein jetziger – wurde angeschafft und der ganze Haushalt samt Pferden setzte sich in Bewegung. ›Die Welt‹, worein man uns führte, war sehr steif und feierlich, aber ich freute mich doch darüber, namentlich über das Tanzen und den Verkehr mit andern jungen Mädchen. Charlotte war im siebenten Himmel, denn sie strahlte als anerkannte Ballkönigin und wurde von einem steinalten Herzog für eine Schönheit erklärt. Unglückseligerweise lernte sie den jungen Kinloch kennen, damals ein bildhübscher Dragoneroffizier, und die beiden verliebten sich ineinander. Unsre Eltern waren rasend, die seinigen desgleichen, so wurden die Koffer gepackt und es ging zurück nach Serlewood!

»Anfangs ließ Charlotte den Kopf hängen wie ein sterbenskranker Vogel, aber bald zwitscherte sie wieder fröhlich, was daher kam, daß sie Mittel und Wege gefunden hatte, Briefe mit Malcolm zu wechseln und ihn heimlich zu treffen, bis sie eines schönen Tags verschwunden war. Sie hatten sich insgeheim trauen lassen! Diesen Tag vergesse ich nicht! Alle Vorhänge und Fensterläden wurden geschlossen, wie bei einem Todesfall, Charlottes Namen in der Familienbibel und meines Vaters Testament gelöscht. Ich erhielt strenges Verbot, einen Brief von ihr anzunehmen oder vollends sie zu sehen, allem nach muß sie aber trotzdem sehr glücklich geworden sein. Mit fünfunddreißig Jahren starb sie, drei Kinder hinterlassend, doch trug die Familie keine Trauer.

»Nach Charlottes Flucht wurde ich noch strenger gehalten als bisher. Mein Vater versenkte sich vollends in Bücher und Handschriften, die Mutter nahm mich gelegentlich mit zu steifen Anstandsbesuchen, mein eigentlicher Umgang aber war nur Fräulein Cloke. Mit zwanzig Jahren mußte ich noch um Erlaubnis bitten, wenn ich ins Dorf gehen oder ein andres Kleid anziehen wollte, all meine Briefe wurden gelesen. Ich glaube, die Eltern hatten immer Angst, ich könnte dem Beispiel der Schwester folgen, besonders weil ich ja jetzt eine glänzende ›Partie‹ war, so führte ich denn ein richtiges Klosterleben.

»Eines Tages wurde meine Mutter krank und starb nach ganz kurzer Zeit; nunmehr war ich mit dem Vater und Fräulein Cloke allein. Bekannte hatten wir gar keine mehr, denn in der Nachbarschaft hatte sich vieles verändert und wir standen mit den Neuangekommenen in keinem Verkehr. Mein Vater, der schon lange an den Augen gelitten, erblindete schließlich und ich wurde sein Sekretär und Vorleser, während Fräulein Cloke den Haushalt verwaltete – und uns. Er überlebte meine Mutter um volle dreißig Jahre und in dieser ganzen Zeit war ich seine einzige Gesellschaft, las ihm stundenlang vor, schrieb für ihn und führte ihn bei seinen täglichen Gängen im Park. Ich habe in dieser Zeit nicht eine Nacht außer dem Hause verbracht. Er wurde im Alter mild und zugänglich und ich verlor die Scheu, die ich als Kind vor ihm gehabt hatte, und solang die Mutter zwischen uns stand. Ihre Herzenskälte mußte sich damals ihm mitgeteilt haben, später aber wich sie von ihm und ich beklage die dreißig Jahre nicht, die ich ihm gewidmet. Ich habe ihn sehr geliebt und bin durch ihn fast eine Gelehrte geworden!

»Als er starb, übernahm Fräulein Cloke die Herrschaft über mich. Sie war eine grundgescheite, zum Herrschen geborene Persönlichkeit, groß und aufrecht, thätig und unternehmend. Ihren Gesetzen mußte man sich unterwerfen, und da sie mich darin erzogen hatte, waren sie mir zur andern Natur geworden. Ich lasse nie eine Thüre offen stehen oder meine Handschuhe in der Halle liegen, sitze nie mit übergeschlagenen Beinen, esse nie zweimal von einer süßen Speise und schneide jedes Buch ganz auf und schlage es in Papier ein, ehe ich zu lesen anfange. Vor einem Jahr ist sie hochbetagt gestorben – ich habe eben erst die Trauer abgelegt – und seither bin ich ganz allein.«

»Und finden Sie's nicht schrecklich traurig, so allein in diesem Zimmer zu sitzen, liebe Fräulein Serle?«

»Gewiß, meine Liebe, aber ich bin zu alt, um mein Leben anders zu gestalten – nächstens Siebzig! Ich hätte große Lust gehabt, diesen Sommer in ein Seebad zu gehen, aber meine Leute wollen nichts davon hören.«

»Haben Sie denn gar keine Verwandten?« fragte Peggy.

»Nur ganz entfernte und dann die Kinlochs, Charlottes Kinder und Enkel. Mein Erbe ist ein sehr lieber Mensch, der ihr ähnlich sieht; er ist Offizier und noch unverheiratet. Ein paarmal hat er mich besucht. Das war ein Vergnügen! Einmal kam er zur Jagdzeit und brachte noch einen Offizier, Namens Hesketh, mit, aber die Herren fanden nicht viel zu schießen, der Wildstand ist so schlecht. Der Heger sagt, daran seien nur meine Katzen schuld, aber Geoffroy lachte darüber und meinte, Katzen pflegten weder Schlingen zu legen, noch mit Centralfeuerpatronen zu schießen. Dann konnte ich ihn leider nicht mehr einladen, denn die Köchin erklärte mir, so späte Essensstunden ertrage sie nicht, und Pulsifor war so erschöpft, daß er acht Tage zu Bett lag, da mußte ich natürlich auch darauf verzichten.«

Peggy hörte nur mit halbem Ohr zu, denn viele Gedanken kreuzten sich in ihrem Kopf. Wie klein doch die Welt war! Wie merkwürdig, daß sie hier bei Hauptmann Kinlochs Tante saß! Sollte sie ihr erzählen, daß sie ihn kenne? Nein – es war besser, zu schweigen.

»Aber warum richten Sie sich denn so genau nach den Wünschen Ihrer Leute, Fräulein Serle?« fragte sie etwas geistesabwesend.

»Wahrscheinlich aus Gewohnheit, meine Liebe. Sie sehen ja, ich war immer von andern abhängig und der Gehorsam ist mir zur andern Natur geworden. Früher hatte ich meinen Eltern und Fräulein Cloke zu gehorchen, jetzt schreiben mir Pulsifor und Darling vor, was ich zu thun und zu lassen habe. Ich weiß wohl, daß ich lebendig eingemauert bin, aber ändern kann ich's nicht.«

»Aber warum denn nicht? Warum laden Sie sich nicht Freunde ein? Ich an Ihrer Stelle würde mir alle neuen Bücher kommen lassen, einen leichteren Wagen und jüngere Pferde anschaffen, eine nette gewandte Jungfer nehmen, die Ihre Hüte und Häubchen selbst machen würde, und die älteste Dienerschaft in den Ruhestand versetzen!«

Fräulein Serle hob beide Hände samt Taschentuch und Fächer in erschrockener Abwehr gen Himmel und sah dieses pietätlose Geschöpf so entsetzt an, als ob sie in ihrem altväterischen Räumen Cancan getanzt oder das » Ça ira« angestimmt hätte!

»O Liebe, so etwas dürfen Sie mir nicht sagen! Ich kann keine Gäste haben, weil Pulsifor viel zu hinfällig ist und doch natürlich dieses Haus wie sein Eigentum ansieht – er ist ja fünfundfünfzig Jahre in unsern Diensten! Neue Pferde sind außer Frage, denn Brownlow könnte sie nicht mehr lenken. Und neue Bücher? Mein Vater pflegte immer zu sagen, es wäre Unrecht, neue anzuschaffen, ehe ich alles kenne, was in unsrer Bibliothek ist, und da habe ich noch Tausende zu lesen.«

»Aber vielleicht sind die Tausende langweilig.«

»Langweilig? Aber mein Kind! Sie sind ja größtenteils in den alten Sprachen geschrieben, die ich zum Glück schon in der Jugend erlernt habe! – Eine nette Jungfer, das wäre nicht so übel, denn ich muß ja zugeben, daß Darling sehr launisch ist – und irgend etwas selbst zu machen, kam ihr auch früher nie in den Sinn, aber sie ist seit vierzig Jahren in meinem Dienst. In den letzten Jahren kränkelt sie freilich immer, aber nichtsdestoweniger ist sie eine höchst zuverlässige Dienerin.«

»Worin bestehen eigentlich ihre Dienstleistungen?«

Fräulein Serle mußte sich ein wenig besinnen, ehe sie darauf kam.

»Nun, sie erwartet mich im Schlafzimmer, bürstet mir manchmal das Haar, legt meine Sachen in den Schrank, bringt mir auch meist morgens den Thee und« – sie lachte hell auf, daß es ganz jugendlich klang – »hofmeistert mich!«

»Ich würde sie ganz entschieden gehen lassen.«

»Aber Kind, sie geht eben nicht! Sie hat mir oft und oft gesagt, daß sie in meinem Dienst sterben wolle. Erspart hat sie sich wohl was Ordentliches, aber sie steht nicht gut mit ihren Verwandten und ist wirklich zart – nein, nein, Darling könnte nicht in einem feuchten Pächterhaus mit Backsteinboden leben! Hier hat sie ihr schönes Zimmer nach Süden, Hühnersuppe am Mittag, ihren guten alten Portwein und das Hausmädchen zur Bedienung.«

»Und bitte,« fragte Peggy lächelnd, »wer bedient dann das Hausmädchen?«

»Das weiß ich nicht,« erwiderte das alte Fräulein, unberührt von der Satire, »das richtet Frau Drummond schon ein – aber ich höre Pulsifor die Kerzen anstecken, da müssen wir hinauf,« setzte sie förmlich angstvoll hinzu. »Ich zeige Ihnen selbst Ihr Zimmer.«

Jede der Damen erhielt einen schweren silbernen Leuchter mit einer dicken Wachskerze und wurde durch eine tiefe Verbeugung von Pulsifor geehrt, die von einem Blick begleitet war, der deutlich sagte: »Schwatzen, Ausbleiben oder Lesen im Bett gibt es nicht.«

Peggys Gemach war ein großer eirund abschließender Raum mit Wandteppichen behangen, in dessen Mitte eine riesige Bettstelle in indischer Schnitzarbeit stand. Fräulein Serle erzählte ihr einiges von der Geschichte dieser Wandbehänge und dieses Betts und sagte dann: »Nun wünsche ich Ihnen eine ruhsame Nacht! Wenn Sie je Angst bekommen sollten – ich schlafe nebenan. Müssen Sie wirklich morgen schon fort?«

»Freilich und zwar sehr frühe – es geht nicht anders.«

»Aber Sie müssen wieder kommen! Grey & Lavender sind mir Entschädigung schuldig.«

»Aber Fräulein Serle, ich bin doch nur eine Ladnerin!«

»Ladnerin hin, Ladnerin her, Sie sind eine Dame, so wahr ich Sophie Serle heiße! Wenn ich auch wenig vom Leben kenne, darin täusche ich mich nicht, und Sie habe ich nun einmal ins Herz geschlossen. Sagen Sie, Kind, sind Sie nicht aus guter Familie?«

»Fräulein scheinen nicht zu wissen, daß es ein Viertel auf elf Uhr ist,« krächzte eine Stimme durch den Thürspalt.

»O Himmel! Ich muß freilich gehen! Gute Nacht, Peggy, bitte, einen Kuß – gute Nacht!«

Peggy sah sich jetzt in ihrer Halle um. Welch ein Gegensatz zu ihrer jetzigen Behausung mit den sechs eisernen Bettstellen und Waschtischen! Auf dem Bett lag ein Nachthemd mit Hals- und Handkrausen und eine spitzenbesetzte Nachthaube von ungeheurem Umfang, ungefähr wie für die Großmutter im Rotkäppchen. Sie konnte nicht widerstehen, sie mußte sie aufsetzen und sich in dem halberblindeten Spiegel mit silbernem Rahmen besehen. Ernsthaft konnte sie bei dem Anblick aber nicht bleiben – sie mußte hellauf lachen.

»Was ist das, Darling?« fragte Fräulein Serle nebenan mit ganz erschrockenem Gesicht.

»Kann's nicht mit Bestimmtheit sagen,« versetzte Darling, »aber die junge Person scheint sich vergessen zu haben.«

Kein Wunder, daß ein helles Mädchenlachen hier. Schrecken erregte; die alten Mauern von Serlewood hatten Jahre und Jahre keines gehört.


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