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Fünfunddreißigstes Kapitel.
Kathleen küßt ihren Vetter

An der Nordwestgrenze waren schon längere Zeit Unruhen ausgebrochen und schließlich kam's zu einem jener Feldzüge, die im geschäftigen Europa kaum beachtet und schnell vergessen werden, thatsächlich aber zu den gefährlichsten und schwierigsten Kriegen gehören. Man hat dabei den Kampf mit einem fanatisierten, rücksichtslosen Feind, wie mit einem unzugänglichen, unfruchtbaren Boden aufzunehmen.

Die Scharfschützen waren in erster Linie dazu bestimmt, an den Feind zu kommen, und Hauptmann Kinloch hatte das Capua einer vergnüglichen, angenehmen Garnison zu verlassen. Der erste Akt war wie immer ein mühseliger Marsch mit ungeheuren Wagenreihen, eigensinnigen Kamelen und faulen Maultieren, die ihr Möglichstes thaten, gar nicht an die Stätte zu kommen, wo ihre Gebeine bleichen sollten. Dann folgte der Aufstieg in die Berge, wobei die Lasten auf Mannschaft und Maultiere verteilt werden mußten, und schließlich der Kampf selbst mit schweren Verlusten, ungeheuren Schwierigkeiten und Gelegenheit zu persönlichem Heldentum, wie sie die mechanische Kriegsweise in Europa gar nicht mehr bietet.

Nach einiger Zeit waren die aufrührerischen Stämme glücklich unterworfen, Geld und Gewehre wurden ausgeliefert. Die Macht des indischen Kaiserreichs war behauptet worden, aber teuer erkauft, denn nichts ist bekanntlich kostspieliger als der Ruhm.

Viele, viele fehlten in der braunen Schlangenlinie, die so heldenmäßig die Pässe emporgeklettert war; stumme, ruhmlose Tote, die ohne Trommelklang und Ehrensalven in fremde Erde gebettet worden waren. Hauptmann Kinloch hatte auf schwanker Tragbahre hinter die Schußlinie geschafft werden müssen, war mit dem Leben davongekommen, sehr zur Verwunderung der Regimentsärzte. Mit einer Kugel in der Brust und einer zerschossenen Schulter hätte er eigentlich von Rechts wegen sterben sollen, aber zäh wie er in der Arbeit war, hielt er auch am Leben fest, wovon wenige ahnten, wie freudlos es war.

* * *

Es war gegen fünf Uhr an einem Januarabend in Lucknow. Die Stimme des Muezzin rief die Gläubigen zum Gebet, die Regimentsmusik spielte einen Marsch, und beide Klänge trug ein leiser Abendwind nach der offenen Veranda, wo Hauptmann Kinloch in Kissen gebettet auf einem Triumphstuhl lag. Er war allein, denn sein Vetter war auf den Bahnhof gegangen, um seine Frau abzuholen, die von Bogalpore kam, weil sie Geoffroy vor seiner Abreise noch sehen wollte. Ob das ein Abschied auf Nimmerwiedersehen oder nur für einige Monate sein würde, war den Aerzten noch zweifelhaft; die Wunden waren zwar geheilt, aber ein allen Mitteln widerstehendes Fieber zehrte an dem Kranken.

»Du wirst ihn furchtbar verändert finden, Katie,« sagte Hesketh zu seiner Frau, als sie vom Bahnhof nach Hause fuhren, »laß dir nur keinen Schrecken anmerken. Hoffentlich ist er dir gegenüber mitteilsamer über seine Angelegenheit, als bei mir. Ein Sterbender hält sich meist an weibliches Mitgefühl ...«

»Aber ich glaube nicht, daß er stirbt!« entgegnete Frau Kathleen kühn. »Geoffroy Kinlochs Begräbnis, das könnte ich mir gar nicht vorstellen.«

»Du wirst es nicht mehr so undenkbar finden, wenn du ihn siehst. Er will durchaus angekleidet werden und im Stuhl liegen, wo er noch viel geisterhafter aussieht als im Bett. Allerdings haben die Kinlochs von jeher ein zähes Leben. Der alte General hatte Wunden, wo nur welche Platz finden, und kam doch immer wieder auf, und Geoffroy hat eine eiserne Natur. Will's Gott, bringen wir ihn durch, aber das ganze Regiment ist in Sorge um ihn, ich weiß mir fast nicht zu helfen vor Telegrammen. Ich bringe ihn natürlich selbst bis Bombay und möglicherweise hilft ihm die Seereise auf. Das Rote Meer soll freilich von jedem Truppenschiff sein Opfer fordern.«

Was auch Kathleens Gefühle sein mochten, als sie Geoffroy Kinloch nach zweieinhalb Jahren wiedersah und so wiedersah, sie bot alle ihre Kraft auf, gefaßt und heiter zu erscheinen, goß ihm Thee ein, erzählte von ihrer Reise und von ihren Kindern und versuchte, sogar zu lächeln. Das Rote Meer sollte ihn als Opfer fordern! Ach nein, der Aermste konnte sicher nicht bis Bombay gebracht werden! Das waren ihre Gedanken, wenn sie den zum Skelett Abgemagerten mit seiner Pergamenthaut ansah. Am nächsten Tag, als sie mit ihrer Handarbeit und Briefen von ihren Jungen wieder bei ihm saß, wandte sich das Gespräch naturgemäß der Heimat zu.

»Ob ich wohl die weißen Klippen Englands noch einmal zu sehen bekomme?« sagte er mit matter Stimme.

Kathleen gab nicht gleich Antwort; sie mußte erst ihrer Stimme ein wenig sicherer werden.

»Warum denn nicht?« sagte sie dann hastig. »Ich glaube es sicher, aber schließlich muß man auf alles vorbereitet sein. Vor meiner Abreise von England habe ich auch ein kleines Testament gemacht und mein persönliches Eigentum lieben Freunden bestimmt; man kann ja an der Cholera sterben oder unterwegs verunglücken. Bei dir ist's natürlich ein andrer Fall.«

»Ja. Kenneth ist mein Erbe. Er soll auch meinen Degen und meine Medaillen haben, Herbert meine Flinten und Ponies, meine Uhr aber dein Hans. Mein bares Geld – viel ist's ja nicht – sollen die Witwen der armen Burschen bekommen, die neben mir gefallen sind. Vielleicht findest du unter meinen Sachen etwas, was du Tante Sophie als Andenken schicken kannst.«

Kathleen saß ein paar Minuten schweigend da, dann fragte sie ganz leise: »Und das Mädchen? Was soll ich der geben?«

»Ein Mädchen? Was meinst du nur?«

»Ist dir niemand lieb? Gibt's keine, der du einen Gruß, ein Andenken schicken möchtest?«

»Nein – keine,« versetzte er langsam mit Bedacht.

Ein Eichhörnchen lief über die Veranda und blinzelte die weißgekleidete Dame mit dem traurigem Gesicht und den hinfälligen Kranken neugierig an.

»Tante Sophie scheint sich sehr um mich zu sorgen, Katie,« begann Kinloch nach geraumer Weile. »Sie hat zweimal telegraphiert. Ich wäre dir von Herzen dankbar, wenn du ihr schreiben wolltest.«

»Gerne. Wo ist sie denn jetzt?«

»An der Riviera. Sie macht ja große Reisen. Wer das je gedacht hätte!«

»Ich glaube, sie ist all ihre Tyrannen von Dienstboten losgeworden und hat jetzt eine unvergleichliche, unermüdliche Gesellschafterin. Wo sie die nur aufgetrieben hat?«

»So viel ich weiß, in einem Laden,« erwiderte Kinloch lächelnd. »Und allem nach muß es ein Juwel sein: jung, schön, liebenswürdig, gebildet, praktisch.«

»Hat sie den Namen nicht genannt?«

»Das weiß ich wahrhaftig nicht mehr. Du kannst übrigens ihren Brief lesen – mir war's nicht sehr wichtig. – Aber, Kathleen, was machst du für ein erwartungsvolles Gesicht und was für heißhungrige Augen? Gerade wie dein Robert, wenn er ein Geschenk herannahen sieht.«

»Ich bin nämlich dran, mir etwas zusammenzureimen, Geoff. Erinnerst du dich der Frau Goring?«

»Ob ich mich der Frau Goring erinnere!« erwiderte er mit einem unsicheren, gedämpften Auflachen. »Liebe Katie, geistesschwach bin ich denn doch nicht. – Sie steht ja aber im schwarzen Register bei dir?«

»Nein, gar nicht mehr.«

»Und darf ich wissen, wie sie deine gute Meinung wieder erworben hat?«

»Ganz kurz vor meiner Abreise traf ich sie rein zufällig, und da hat sie mir ihr Schweigen erklärt.«

»Und wo ist sie? Weshalb hat sie Goring verlassen?«

»Das erfuhr ich eben, aber sie hat mich beschworen, es niemand und besonders dir nicht zu sagen.«

Hierauf Schweigen – ein absichtliches und darum verräterisches Schweigen, das Kathleen Hesketh endlich auf die richtige Fährte brachte. Jetzt war ihr auf einmal alles klar: Kinloch hatte Peggy geliebt und Goring war ihm vorgezogen worden. Nun begriff sie alles, was ihr sonst rätselhaft gewesen war!

»Die Ursache der Trennung macht ihr keine Schande, denn nur Goring hat gefehlt,« sagte sie zögernd.

»Das glaube ich aufs Wort. Und wie geht es ihr?«

»Sie ist gesund und mutig und verdient ihr Brot.«

»Auf welche Weise?«

Kathleen sah den Frager prüfend an. – Warum sollte sie es ihm eigentlich nicht sagen? Er würde ja das Geheimnis bald mit ins Grab nehmen, und Peggy mußte ihr das verzeihen. Diesem geisterhaften Gesicht mit dem angstvoll gespannten Ausdruck konnte man nichts verweigern.

»In einem Warenhaus in Barminster – Grey & Lavender. Ich ging hin, um Einkäufe zu machen, und wer eine Dame neben mir bediente – war Peggy! Ich schrie beinahe laut auf vor Ueberraschung! Dann sprachen wir uns ein paar Minuten allein und sie sagte mir, Goring habe ihr eröffnet, daß sie gar nicht seine Frau sei!«

Ihr Zuhörer schreckte so heftig zusammen, daß er sein Krankentischchen umstieß.

»O Geoff, bitte, bitte rege dich nicht auf!« rief Kathleen in Todesangst. »Da kommt dein Wärter. Er macht ein Gesicht, als ob ich Prügel verdient hätte!«

»Schon gut, Hogan!« sagte der Kranke ungeduldig. »Lesen Sie nur die Scherben auf, aber ich will keine andre Kraftbrühe – ich brauche gar nichts.« Und sobald der Krankenwärter den Rücken gekehrt hatte, kam ein ungestümes: »Weiter! Weiter!« über die farblosen Lippen.

»Geoff, hast du nie davon gehört, daß Goring eine Frau in Indien hatte?«

»Wäre ich in diesem Fall sein Trauzeuge gewesen?«

»Eine Lokomotivführerstochter, die er in Jhansi geheiratet hatte, sechs Jahre vor seiner Bekanntschaft mit Peggy.«

»Nie davon gehört.«

»Und doch ist's so. Er glaubte, sie sei tot – nun du kennst ja diese Art von Geschichten ...«

»Lügen willst du sagen. – O ja!«

»Jedenfalls glaubt Peggy, daß er ihr die Wahrheit gesagt hat. Sie verließ ihn sofort, suchte eine Schulfreundin auf, die in dem nämlichen Geschäft ist und ihr die Anstellung verschafft hat. Dort ist sie noch – falls sie nicht deiner Tante Gesellschafterin wurde.«

Kinloch schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Sie schien sich ganz wohl und heimisch zu fühlen hinter dem Ladentisch und war so hübsch und behende!«

»Wie heißt sie dort?«

»Sie nennt sich Fräulein Hayes. Nach dieser Begegnung hat sie mir dann zweimal geschrieben, und dann bin ich abgereist. Hier ist's ja immer so eine Sache mit Briefen. – Ich schrieb ihr auf Weihnachten, bekam aber keine Antwort, dagegen eine Karte an meinem Geburtstag. Geoff, ich bin fest überzeugt, Peggy ist das Juwel von Gesellschafterin bei deiner Tante!«

»Kathleen, wie echt irisch, solche Behauptungen ins Blaue hinein aufzustellen! Es gibt viele Läden in Barminster und viele hübsche Mädchen auf der Welt!«

»Ja, aber nicht viele Peggys! Sag einmal – wo ist der Tante letzter Brief?«

»Der ... der wird in meiner Mappe sein – und die Mappe – ja, wo die sein mag?« Er griff sich an den Kopf.

»Sei nur ganz ruhig, ich finde immer alles,« rief Frau Kathleen, aufspringend und den Träger herbeirufend.

Nach kurzer Zeit war der Träger mit einem Koffer zur Stelle. Die Mappe fand sich und darin ein kreuzweise beschriebener Briefbogen von Tante Sophies Hand, ein wahres Gitterwerk.

»Weshalb die Tante nur immer kreuzweis schreibt,« bemerkte Kinloch aufgeregt. »Briefpapier und Porto sind doch so billig geworden! Hier Katie!« – Die Hand, die ihr den Brief hinhielt, zitterte stark. War das nur körperliche Schwäche?

»O ja, da steht's!« rief Frau Kathleen alsbald. »Einen köstlichen Monat haben wir in Rom im Hotel Quirinal verlebt, meine Gesellschafterin und ich! Wir sind beide furchtbar eifrig in Besichtigung der Kunstwerke; sie ist das gescheiteste und prächtigste Mädchen von der Welt und hat nur den Fehler, so hübsch zu sein, daß sie überall auffällt. Zum Glück ist sie aber über ihre Jahre verständig und besonnen, wie ich über meine Jahre lebenslustig bin. Ich glaube, ich habe dir schon geschrieben, daß sie Hayes heißt, Peggy Hayes ...«

Kinloch atmete tief auf und griff nach dem Brief, um die merkwürdige Stelle selbst zu lesen. Dann lehnte er sich erschöpft im Stuhl zurück und schloß die Augen.

»Welch gesegnete Fügung für Peggy, für die Tante und – für dich, Geoff!« wagte Frau Kathleen zu sagen. »Ich weiß nämlich jetzt alles

»Von wem?« fragte er, die Augen aufschlagend.

»Von niemand! Mein eigener Kopf und dein Schweigen haben mir's klar gemacht. Du und Goring, ihr waret in ein und dasselbe Mädchen verliebt ...«

Kinloch nickte.

»Und sie hat den Unrechten gewählt, sehr zu ihrem Schaden. Mir ist jetzt vieles klar, Geoff – jene Zeit in Dublin, wo er sie so schlecht behandelt, so schamlos vernachlässigt hat. – Das wäre eine Gelegenheit gewesen für dich – und den Teufel! Ich hab' die furchtbar braven Menschen nie leiden mögen, aber solche, die brav bleiben, auch wenn sie anders sein könnten, solche wie du, die sind mir interessant und lieb.«

»Mit andern Worten, du machst die Entdeckung, daß ich kein Schurke bin!«

»Nein, Geoffroy – du bist ein Prachtmensch!«

Und sie beugte sich über ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn und küßte ihn herzlich.


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