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V.

Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging, als eine männliche Stimme im Nebenzimmer erschallte, die ich für die eines fremden Arztes hielt. Ich konnte nicht mehr verstehen, was gesprochen wurde, denn sie schienen sich am Fenster zu befinden. Nur die Lebhaftigkeit meiner Frau fiel mir auf. Die Unterhaltung näherte sich dann und wurde an meinem Lager fortgesetzt, nachdem die unteren Fenster zugeschlagen waren.

»Da sieh ihn an, – so ist er gestorben,« sagte Irma. »Kennst du ihn wieder?«

»Aber Dummchen, wie kannst du so fragen.«

Es war die Stimme eines Mannes, die ich nie zuvor gehört hatte, die aber einen kräftigen Wohllaut besaß, so daß ich auf Jugend schloß. Ich wußte nicht, wie er aussah, ob er groß, klein, hübsch oder häßlich war, aber meine unheimliche Eingebung sagte mir, daß die äußeren Eigenschaften jedenfalls überwiegen würden: Parfüm strömte von ihm aus – ein Duft von Heliotrop, der sofort das Zimmer füllte. Er schien das Taschentuch zu schwenken, denn die Luftwellen führten mir den Duft zu.

»Ich ihn nicht wiedererkennen, deinen lieben, guten Männe,« fuhr er fort.

»Ich bitte dich um alles in der Welt, laß jetzt deinen Spott.«

»Aber ich spotte doch nicht, Liebe. So hast du ihn doch immer genannt.«

»Doch tust du es, ich merke es dir an. Alfred, ich bitte dich, achte meine Gefühle. Er war der beste Mensch, der Vater meines Kindes.«

»Alles Dinge, die du mir zu oft gesagt hast, als daß ich sie vergessen haben sollte,« kam es ihm unwillig über die Lippen. »Du weißt doch, daß er nicht gerade mein Freund war.«

»Er hatte dir nie etwas getan.«

»Gerade deswegen. Es ärgerte mich immer, ihn hassen zu müssen, ohne ihn näher zu kennen.«

»Also ohne jeden Grund.«

»Logik einer Frau! Er stand doch zwischen uns, er hatte dich errungen, er war dein Besitzer, hatte dich den ganzen Tag um sich.«

»Aber lieber, guter Alfred – laß das doch jetzt. Komm! Nicht hier solche Reden.«

Sie kämpfte mit dem Weinen, wie eine vom Gewissen bedrängte Frau, die sich im Augenblick nicht zu helfen weiß. »Mein Gott,« fuhr sie leise fort, »alles kam so unerwartet, daß ich sofort an dich schrieb. Und nun dankst du mir so. Das ist nicht schön von dir. Ich kann doch meine Gefühle nicht wie ein Paar Handschuhe wechseln. Gott, wie bin ich verlassen.«

Er lenkte ein. Auch seine Stimme sank zur Weichheit, als er plötzlich zärtliche Worte gebrauchte. »Aber meine Kleine, Süße, wie kann man nur gleich –. Du und verlassen! Hast du mich nicht! Reizendes Dummchen, das kostet Strafe.«

Sie wehrte ihn ab. »Alfred, ich beschwöre dich. Laß das wenigstens heute. Habe doch ein Einsehen, denke an meine Trauer. Und wenn jemand käme. Komm', komm', ich kann die Luft hier nicht mehr ertragen.«

Sie ächzte wie unter einer ungeheuren Bürde. Nochmals bat und beschwor sie ihn, dieses Zimmer zu verlassen. Sie könne ihm heute keinen Kuß geben, und wenn es zwischen ihnen aus sei.

»So schwöre mir jetzt an seiner Leiche, daß du ihn nie geliebt hast. Was sind deine Qualen gegen die, die ich jeden Tag gehabt habe.«

»Quäle mich doch jetzt nicht. Du weißt, wem mein Herz gehört. Das habe ich dir hundertmal gesagt und mehr. Ich kann hier nicht mehr stehen, oder ich falle um. Laß mich doch erst alles überwunden haben.«

Sie hauchte nur noch die Worte hervor.

Seine Leidenschaft machte ihn unerbittlich. »Nein, schwöre mir jetzt, daß du ihn nie geliebt hast. Ich will es. Es gibt eine Genugtuung, die niemals wiederkommt.«

Sie wollte etwas sagen, vielleicht seinen Wunsch erfüllen, als der Papagei im Nebenzimmer zu sprechen begann: »Frau Doktor, wo ist Ihr Mann?«

Wie zwei Diebe schreckten sie zusammen. Ich merkte es an ihrem Geräusch, an ihrem Schweigen. In meiner Einbildung sah ich sie wie zitternde Sünder dastehen, denen alle Farbe entschwunden ist. Aber das Weib beherrschte sich zuerst, während der Mann noch unter dem Eindrucke der Angst litt.

»Es war nur der Papagei,« stieß sie hervor, »Wie mir das Herz zittert. Das dumme Mädchen hätte ihn auch zudecken können. Ich sagte es ihr noch.«

»Ein ganz wohlerzogenes Tier, wie es scheint,« spöttelte er, jedoch nicht mehr so mutig wie zuerst. »Aber nicht gerade liebenswürdig, dich jetzt daran zu erinnern. Oder sieht er vielleicht den Eindringling in mir? Dann darf er auf meine Freundschaft nicht hoffen.«

Wiederum bat sie: »Komm',« aber er kehrte sich nicht daran. »Noch ein paar Augenblicke, ich muß mich doch erst von dem Schreck erholen,« sagte er kurz. Aufs neue empfand ich die Duftwellen des Heliotrops, die er, ohne zu wollen, mir herüberfächelte.

Sie sagte nichts mehr, schloß aber die Tür. Es war, als hätte die unerwartete Störung durch den Vogel beide gefaßter gemacht, auf ganz andere Gedanken gebracht. Die Herzensangelegenheiten bewegten sie nicht mehr, denn sie sprachen nun von anderen Dingen. Die Stimmung war fort, der romantische Zug war gleichsam verflogen, und so waren sie zu vernünftigen Menschen geworden, die den Schauer meiner Nähe nicht mehr empfanden.

»Weißt du, wo ich ihn zuletzt mit dir sah?« begann er zu plaudern. »Es war im Opernhause, bei Tristan und Isolde. Ihr saßet im Parkett, und ich saß zwei Reihen hinter euch. Ich sah immer nur deinen weißen Hals. Manchmal fühlte ich das Verlangen, dich durch die Vorderreihen anzupusten. In der Pause kamst du dann allein heraus.«

»Ich mußte dir doch wenigstens einmal die Hand drücken, meine Gedanken waren ja nur bei dir.«

»Daß es auch gerade Tristan sein mußte, mit seinen großen Liebesgefühlen,« sagte er wieder. »Dann gingt ihr in die Weinstube von Lutter und Wegener, und ich setzte mich in eure Nähe.«

»Ich war empört über deine Keckheit. Du fixiertest mich fortwährend, so daß ich vor Angst kaum einen Bissen essen konnte.«

»Schönes Kompliment für mich.«

»Es ist wahr, wie leicht hätte er etwas merken können. So unvorsichtig warst du immer.«

»Der gute Männe, der und merken! Er befand sich ja immer in der Auto-Hypnose.«

Noch einmal machte sie den Versuch, ihn von dieser Tonart abzubringen, aber es nahm sich nur wie schwacher Widerstand aus.

»Wie habe ich mich immer vorgesehen,« sagte sie wieder. »Oft habe ich gezittert und mir gelobt, dich nie wiederzusehen. Wenn ich dann aber wieder die Briefe von der Post holte und deine Handschrift sah – dann war's vorbei mit allen guten Vorsätzen. Ich mußte ja wieder zu dir gehen, ob die Beine wollten oder nicht. Mein Herz war stärker. Und er war immer so ahnungslos. Eigentlich war ich doch ein recht schlechtes Geschöpf. Sag' 'mal – hast du mich nie verachtet?«

»Rede doch nicht so etwas.«

»Nein, sage mir die Wahrheit.«

»Nie. Du bist wie ein Kind.«

Sie lachte unmerklich. »Ich und ein Kind.«

»Aber plage dich doch nicht jetzt damit. Es ist ja alles vorüber.«

Sie seufzte: »Das sagst du so. Vorüber ist eigentlich nichts im Leben. Die Erinnerung kehrt immer zurück. Und sie ist verkörpert in meinem Jungen.«

»Die Zeit wird alles verwischen, bei ihm und bei dir.«

Sie schwiegen eine Weile, dann begann sie wieder: »Ich möchte wohl wissen, was er mir getan hätte, wenn er dahinter gekommen wäre.«

»Aber zerbrich dir doch jetzt nicht mehr den Kopf darüber. Freue dich lieber, daß er ahnungslos gestorben ist.«

»Das ist es ja eben. Die Aussprache zwischen uns hat gefehlt. Wir hätten einmal zusammenprallen müssen. Vielleicht wäre dann alles besser gewesen. Er hätte mir gewiß verziehen, wenn ich ihm meine innersten Gefühle geschildert hätte.«

Schwermut sprach wieder aus ihr, ihre Zuversicht war verschwunden.

»Weshalb hast du ihn geheiratet!« stieß er unwillig hervor.

»Ja, das ist die große Frage. Weshalb heiraten wir Mädchen überhaupt! Wenn wir das selbst manchmal wüßten. Schließlich wollen wir nur versorgt sein und hoffen dabei immer auf das große Wunder.«

»Aber nun ist es ja gekommen,« unterbrach er sie in derselben ungemütlichen Weise wie vorher, »Was philosophierst du denn noch?«

Sie seufzte aufs neue, »Wir malen uns die Wunder immer anders aus. Das ist gewöhnlich so im Leben: wenn sie dann da sind, gefallen sie uns nicht.«

»Das soll doch nicht etwa auf mich gehen. Dann Adieu. Mein ausführliches Beileid noch schriftlich.«

Er hatte es nicht ernst gemeint, denn er blieb, zugleich aber auch zurückgehalten durch Schmeichelworte von ihr, womit sie alles wieder gut machen wollte.

»Das sind ja nur alles Redensarten – Dummheiten, die mir so in den Kopf kommen. So schnell gewöhnt man sich nicht an ein neues Dasein. Sei mir nicht böse, Geliebter.«

»Bald dein Verlobter.« Er hatte übermäßig laut gesprochen.

»Um Gottes willen, sprich leise.«

»Wer soll es denn hören? Er? Die Toten schweigen.«

»Die Küchenfenster sind auf, sie sind hier dicht nebenbei.«

Er dämpfte seine Stimme, und sie tat dasselbe. Dann aber riß sie der Gegenstand der Unterhaltung wieder hin, und sie sprachen laut wie zuvor.

»Heute darfst du dich nicht lange aufhalten, es könnte auffallen,« sagte sie wieder, »aber morgen Vormittag kannst du dreist kommen. Du bist eben mein Verwandter, der aus der Provinz gekommen ist.«

»Muß ich mich auch danach benehmen?«

Sie verstand ihn und ging auf den Scherz ein. »Es gibt doch auch in der Provinz Leute, die Allüren haben. Im übrigen wirst du ja deine Sache schon machen. Schick' mir einfach morgen früh ein Telegramm, dann kann ich auch die Mädchen darauf vorbereiten. Es hat dich ja noch niemand gesehen, selbst Sophie nicht. Nur, daß ich sie heute einmal zu dir schickte, das geht sie gar nichts an. Dienstboten sind überhaupt Sache.«

»Was wird dein Junge zu dem neuen Onkel sagen?«

»Er wird sich freuen ...« Nach einer Weile fuhr sie fort: »Weißt du – du könntest mich eigentlich im Café Bauer erwarten – in einer Stunde etwa. Dann laß ich lieber nicht anspannen, und wir erledigen alles gemeinschaftlich. Willst du? ... Wenn nur der Arzt erst hier wäre. Ich werde jetzt wirklich nach dem ersten besten schicken. Hier um die Ecke hat sich ja einer niedergelassen. Nun komm' aber, ich will dir einmal die Polizei zeigen. Das muß morgen gleich zuerst erledigt werden. Nicht wahr, du bist so gut und schreibst dann sofort. Wo sind denn nur die Schlüssel zu seinem Schreibtisch? Warte – er hatte sie immer im Nachttisch liegen, hier sind sie. Es muß auch ein Testament da sein. Entweder hier oder auf dem Gericht. Er war ja immer die Ordnung selbst. Nun komm.«

Er hörte aber nicht drauf, »Was wird nun, wenn alles vorüber ist?« fragte er wieder, »du mußt doch ans Reisen denken.«

»Wir wollten ja fort, alles war ja schon besprochen. Der Junge bekommt ja bald Ferien. Dann wollten wir an die See. Er selbst hatte es diesmal so verordnet. Hansens wegen. Und ich wäre so gerne ins Gebirge gegangen. Da hätte sich der Junge ebenso gut erholt. Die See ist mir zu langweilig.«

»Jetzt kannst du ja machen, was du willst.«

»Die Sache mit der Lebensversicherung muß doch erst geordnet werden.«

»Ach, das wird schnell gehen,« wandte er ein.

»Ich kann mich doch mit dem ganzen Gelde nicht schleppen. Das muß doch wieder untergebracht werden.«

»Das geht schneller als du glaubst. Geld nimmt man immer gern. Er hat doch seinen Bankier.«

Sie seufzte: »Ach, ich weiß ja gar nicht, wie diese Dinge stehen. Darüber sprach er selten. Es müssen Papiere vorhanden sein – Konsols oder so etwas. Es wird sich schon alles vorfinden. Lassen wir das nur jetzt, du peinigst mich damit.«

»Wieso peinigen? Das sind doch nicht gleichgültige Dinge – jetzt, wo du plötzlich allein stehst. Schlimm genug, daß er dich nicht in alles eingeweiht hat. Es kann ja ebenso gut gar nichts da sein.«

»Aber so hör' doch nur davon auf – denk doch nur an die Stunde. Geldsachen waren mir immer fürchterlich.« Wiederholtes Seufzen kam über ihre Lippen, während sie unruhig auf- und abschritt. Sie mußte unter diesen Fragen leiden, die ihr mein Bild wieder lebendig machten.

»Mit dreißigtausend Mark kommt man nicht weit,« fuhr er unbeirrt fort.

Sie schwieg. Eine Pause der Beklemmung trat ein, die nun beide durch denselben Gedanken ausfüllten, den er aber dann rasch aufgriff. »Das heißt, du hast mich ja noch.«

»Wer weiß auch.« Diesmal hörte sich ihr Seufzen wie ein leises Stöhnen an, aus dem der Zweifel wie ein Schmerz sprach.

»Weißt du,« sagte er, indem er unvermittelt wieder auf die Reise zu sprechen kam, »ihr geht diesmal nach Tirol, und wir treffen uns dort. Ganz unauffällig. Oder besser noch – ich erwarte euch dort.«

»Nein, nein, das geht nicht – um keinen Preis. Das wimmelt ja da von Berlinern.«

»Ach, du Dummchen – es gibt verschwiegene Nester, wo sich kein Teufel um uns bekümmert. Wir müssen eben unsern Plan machen.«

»Nein, aber das geht nicht,« warf sie nochmals ein. »Wir dürfen uns eine Zeitlang nicht sehen. Vergnügen hätten wir ja doch nicht, die Trauer stände immer dazwischen.«

»Ach, das ist ja äußerlich. Geliebt hast du ihn ja doch nie.«

»Du bist unbändig in deiner Leidenschaft. Manchmal fürchte ich mich vor dir. Deshalb wäre es gut, wenn ich einmal ganz allein mit meinem Jungen bliebe.«

»Du würdest dich ja doch riesig freuen, wenn ich plötzlich auftauchte.«

»Diesmal nicht, ich schwöre es dir.«

Er verschluckte ein Lachen, »Was sind Weiberschwüre! Chloroform der Seele. Der Körper bleibt hübsch munter, und die Sinne opfern nach wie vor.«

»Weißt du – du bist ein Scheusal.«

»Aber doch ein süßes, das bitte ich mir aus.«

Ihr Widerspruch war nicht mehr so lebhaft. Sie schien es aufzugeben, gegen seine Überlegenheit zu kämpfen, unter der sie sich anscheinend machtlos fühlte. Vielleicht reizten sie auch seine Lockungen, vielleicht empfand sie die Wahrheit in seinen Worten, daß sie doch mächtige Sehnsucht nach ihm empfinden würde und ihn dann vergeblich rufen müßte.

»Es muß mehr Luft hier sein,« sagte sie dann plötzlich und riß die Fenster wieder auf. Es war, als wollte sie sich selbst befreien von der Enge ihrer Gefühle, die zwiespältig in ihrer Brust wühlten.

Sie gingen und schlossen die Tür.


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