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XVII.

Ich hatte eine Depesche an meinen Vater aufgegeben, und am andern Tage gegen Abend war er schon da. Als Sonderling liebte er es, seinen eigenen Weg zu gehen, ohne Rücksicht auf Form und Brauch. Man sollte sich immer wundern. So hatte er es schon oft gemacht: er tauchte auf und war da. Immer Droschke zweiter Klasse, die schwarzlederne Reisetasche, die das Alter schon bedenklich grau gemacht hatte, auf dem Rücksitze, sorglich bewacht von seinem Späherblick, dem auch sonst nichts entging, was während der Fahrt rechts und links an ihm vorüberzog. Das war sein erstes Vergnügen in Berlin: so in dem Rumpelkasten sitzend, die Hände auf den Familienschirm gestützt, seinen Einzug solo zu halten, die ewig kalte Zigarre im Mundwinkel, die er auf der Reise zwanzigmal anzündete und ebenso oft wieder ausgehen ließ, ohne sich von ihr trennen zu können.

Zu Hause rauchte er nur Pfeife, und da er durchaus den Tabaksgeschmack verspüren mußte, so war ihm der Stummel auch im kalten Zustande ein angenehmer Notbehelf, sozusagen das Surrogat für seine Gefühle – der Mundstift, mit dem er sich unterhielt aus Mangel an anderer Unterhaltung. Und das war unterwegs meistens der Fall, was größtenteils an ihm lag. Denn er liebte es nicht, neue Bekanntschaften anzuknüpfen, vor allem nicht jene unausstehlichen Reisebekanntschaften, die mit dem Gespräch über das Wetter beginnen und mit aufdringlicher Neugierde enden.

Er hatte dagegen ein schönes Mittel erfunden, das er regelmäßig während der langen Fahrt vom Oldenburgischen bis nach Berlin ins Treffen führte. Er spielte den Schlafenden. Die Bahnhofszigarre ohne Lust im Munde, die Hände über dem Leib gefaltet, saß er mit geschlossenen Augen auf seinem Eckplatze. Trotzdem er alles hörte, was gesprochen wurde, hoben sich die Lider nur dann, wenn er den Sprecher mit einem Blick von unten nach oben rasch fixieren wollte, um entweder sein Einverständnis mit dem Gehörten oder seine Verurteilung damit anzudeuten. In der Regel leuchtete zu gleicher Zeit auch der Glimmstengel dabei auf, was sich wie eine Ermunterung des Geistes ausnahm. Dann ließ er sich im vorigen Zustande ruhig weiterschaukeln.

Viel Gepäck liebte er nicht. Selbst auf größeren Reisen begleitete ihn nur die nötige Leibwäsche. Sein Sprichwort war: Ein Gott, ein Rock, ein Stock – es konnte auch ein Regenschirm sein.

Mein Vater war das, was man einen verbauerten Pastor nennt, wodurch sich aber die Bauern nur geschmeichelt fühlen konnten. Die Scholle haftete ihm an, und der Erdgeruch begleitete ihn, wohin er auch ging. Er blieb Er und wurde kein anderer, mochten ihn immerhin neue Verhältnisse umschmeicheln und neue Menschen in ihren Bereich ziehen. Selbst Milieu durch und durch, konnte ihn kein fremdes mehr unterkriegen. Seine Allmacht war sein Gott, und seine Macht war sein Wille. Aber dieser Wille entsprang nicht der Eigensucht, war nicht der des Stärkeren, sondern nur das gefügige Werkzeug seiner milden Vernunft, die immer nur das Gute wollte. So hing sein Wille mehr mit dem warmen Herzen zusammen, als mit dem kalten Verstande.

Jahrzehntelang eingekapselt in seiner Dorfpfarre, in einer Gemeinde, die zu den ärmsten der Gegend gehörte, wo Armut, Neid und Bosheit miteinander rangen, war der große Einsame entstanden, der wohl mit Seelengütern und auch mit äußeren dienen konnte, die geistigen aber in sich verschließen mußte. Und diese Einsamkeit hatte ihn noch mehr umstrickt, seitdem er Witwer geworden war, mit einer alten Gutsköchin die Wirtschaft führte und sich geistig noch mehr verschließen mußte.

Neben dem Diener der Kirche entwickelte sich der Weise, der manchmal das ganze Dogma der Theologie totschlagen wollte, weil er durch ewiges Predigen die schlimmen Leidenschaften seiner Pfleglinge doch nicht ausrotten konnte, der dann aber wieder reuig bei der Stange blieb, wenn es ihm gelungen war, wenigstens ein verirrtes Schaf zu der Herde zurückzubringen.

Dann erwachte in dem gläubigen Riesen das gläubige Kind, das um dieses einzigen willen die Besserung der Menschheit von der Zukunft erwartete und in der Tretmühle ruhig weiter ging. Sein Talisman war der Glaube – der Glaube an kein Wunder, sondern der Glaube an die Irrtümer dieser Welt, die Gott mitgeschaffen habe, und die er nun im Namen Gottes als ein Werkelsmann des Höchsten ruhig hinnehmen müsse, nicht als ein Gleichgültiger, auch nicht bloß als Mahnender, sondern auch als Helfender, vor allem aber als Verzeihender. Seine Weltanschauung war nicht die der Welt, sondern der Welt, die aus seinem Innern sproß, die äußerlich im kleinen um ihn lag und die, ob hier ob dort, doch überall dieselbe blieb.

Als er lange genug gepredigt hatte, ohne zu merken, daß der Buchstabe allein nützte, ging er aus der alten, schindelnbedeckten Kirche hinaus zu den Bauern. Er wollte doch sehen, weshalb das Haus Gottes immer so leer blieb, die Wirtshäuser aber voll waren. Er setzte sich an den Schanktisch, ließ sich ein Glas Wasser geben und unterhielt sich mit den Bauern, die schlechtes Bier und noch schlechteren Schnaps tranken, wie mit seinesgleichen.

Und als sie ihn fragten, weshalb er Wasser trinke, sagte er lachend: »Heute ist Sonntag, den Gott als Ruhetag geschaffen hat. Da trinke ich nur Wasser, in der Woche trinke ich Bier. Ihr aber macht's umgekehrt. Besser, ihr tränket in der Woche Bier und euren Fusel und bliebet wenigstens Sonntags bei klarem Verstande, denn dann würdet ihr wenigstens sehen, was ihr für einen guten Kerl an mir habt. Ich bin nicht nur dazu da, euren Toten den letzten Segen zu geben, ich möchte es auch bei den Lebenden tun, bevor ich ins Gras beiße. In der Kirche hört man schon den Holzwurm, so leer ist es. Und deshalb muß ich die Andächtigen in der Schenke suchen.«

Sie wurden kleinlaut, obgleich seine Derbheit ihnen sehr gefiel. Bald war er hier, bald dort im Dorfe zu finden. Er ersetzte den Tierarzt, gab den Ärmsten aus seiner Tasche und erteilte der Wöchnerin Ratschläge, wie es keine Sachverständige besser hätten tun können. Und immer hatte er seinen Humor bereit, der stets zündete, ohne zu verletzen. So wurde er Freund der Bauern, die ihn unentbehrlich fanden. Als einzigen Dank schleppte er nur ihre Gewohnheiten mit nach Hause, die ihm langsam anzuhaften begannen. Manchmal auch etwas anderes!

Als er sah, daß auch das ihm Sonntags keine Zuhörer brachte, außer einigen Greisen und Kindern, ließ er sich im Dorfe nicht mehr blicken. An zwei Sonntagen, während der Zeit des Gottesdienstes, trieb er seine Kühe selber aus, trotzdem er es nicht nötig hatte. Die Kanzel blieb leer. Auch das Heu brachte er selbst in Haufen.

Bald fehlte er an allen Ecken und Enden. Die Weiber jammerten nach ihm, die Kinder schrieen nach dem Vater Pastor, und den Männern schmeckte weder der Schnaps noch der Tabak. Und als es ihnen zu viel wurde und sie sich nach seinem Ausbleiben erkundigten, schnauzte er sie an: »Ihr kommt ja zu mir nicht, weshalb soll ich zu euch kommen! Ich glaube dem lieben Gott ein wohlgefälligeres Werk zu tun, wenn ich meine Kühe hüte, als auf euch zu warten.«

Das half. Von nun an predigte er vor besetzter Kirche, und was er sprach, kam aus gütigem Herzen. Allmählich ward der alte Kasten auch voll, denn man kam aus den umliegenden Dörfern und wollte den Mann hören, auf den der Kreistierarzt und der andere Doktor so weidlich schimpften, weil er ihnen ins Handwerk pfusche, ohne daß die Menschen und das Vieh kränker wurden.

So stand mir mein Vater vor Augen, und so kam er mir nun wieder ins Haus, mit seinen sechs Fuß, seinem breiten Nacken, auf dem der massive Kopf mit dem bartlosen, scharfgeschnittenen Gesicht und dem verwilderten, grauen Haar wie gegossen saß. Auch in seinem Äußeren war er der alte geblieben. Diesen langen, schwarzen Rock, den er niemals zuknöpfte, hatte er sicher schon vor Jahren getragen. Auch die Weste ging noch hoch bis zum Halse hinauf, so daß nur ein kleiner, weißer Ausschnitt zu sehen war. Der Schlapphut sah allerdings verdächtig neu aus, und ich erhielt auch bald das Geständnis, daß er in dieser Beziehung hatte ein Opfer bringen müssen. Er gehörte eben zu den Leuten, die alten Glanz gern auffrischen und innen und außen auf Sauberkeit halten. Die reine Seele allein mache es nicht, auch das Gewand müsse danach sein. Auch die große Natur hatte ihre kleinen Eitelkeiten, die in stets steifen Kragen und spiegelblanken Stiefeln bestanden. Und er konnte fuchswild werden, wenn die alte Olga daheim sich in dieser Beziehung etwas zu schulden kommen ließ. Er war nun einmal der Meinung, daß die Menschen immer zuerst auf die Wäsche und dann auf die Stiefel blickten.

Nun lagen wir uns in den Armen, er ahnungslos und ich mit bewegter Brust.

»Na, mein Junge, hoffentlich wirst du nun in Gesundheit das ›biblische‹ Alter erreichen und noch ein Ende drüber,« sagte er, während er mir den Rücken klopfte. »Die Totgesagten leben ja wohl doppelt ... Dein Großvater hat's auch so gehabt. Einmal lag er einen ganzen Tag. Er ist aber noch hübsch alt geworden. Er war noch drei Zoll größer, als ich, konnte aber kein Gewitter sehen. Jeder Schlag machte ihn zusammenzucken. Sonst war er aber ein Kerl, der seinen Mann stand, obwohl er man einfacher Küster war und Schulmeister obendrein. Und damals gab's noch weniger zu löffeln als heute. Auch hatte er sonst gute Eigenschaften. Er konnte seinen Kindern die Haare schneiden, und hat's auch manchmal bei anderen getan. Alles Werke, die dem lieben Gott wohlgefällig sind. Obschon's nicht in der Bibel steht, daß die reichen Leute davon ausgeschlossen sind.«

Sein von der Sonne gebräuntes Gesicht strahlte vor Vergnügen, während die großen, himmelblauen Augen, die unter den struppigen Brauen lagen, in meinem Zimmer umherschweiften, um zu mustern, ob alles noch am alten Platze sei.

Ich hatte ihn vorfahren sehen und war sofort hinunter geeilt, um ihn zuerst für mich allein zu haben. Nun fragte er nach Frau und Kind, nach Lina und dem alten Kutscher, die er immer zu meiner Familie gerechnet hatte. Sophie hatte ihm nie recht gefallen. Er konnte die Menschen nicht leiden, die wenig sprachen und denen man immer die Worte aus dem Munde ziehen mußte. Für ihn gehörten sie zur Sorte der Leisetreter, die die weitverzweigte Verwandtschaft mit dem Teufel bildeten, der nicht bloß immer mit einem Pferdefuß herumlaufe. Trotzdem hatte er es begreiflich gefunden, daß sich meine Frau so schwer von ihr zu trennen vermochte.

Der Junge war der erste, der hereingesprungen kam. Und zwar mit einem jauchzenden »Hurra, Großvater Pastor ist da!« Er wieherte förmlich vor Freude, ergriff des Alten Rockschöße und machte den Versuch, ein »Rundturnen« zu veranstalten, was aber der Riese dadurch verhinderte, daß er ihn wie ein Wiegenkind in seine Arme nahm und zu sich emporhob. Ein wahres Indianergeheul war die Folge. Die Beine strampelten und die Hände schlugen den Takt dazu.

»Ob der wohl 'mal Akrobat werden wird? Zappeln hat er schon gelernt,« sagte der Alte und ließ sein Lachen durch das Zimmer dröhnen. Dann hatte er Verlangen, die Mutter zu sehen.

Ich wußte nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. In diesem Augenblick war ich ärgerlich auf ihn, daß er mir seine Ankunft nicht mitgeteilt hatte, trotzdem die Rückantwort bezahlt war. Ich hätte ihm dann in der Droschke alles so schön auseinandersetzen können. Bevor ich aber noch etwas äußern konnte, kam Irma schon herein. Das hatte ich mir auch gedacht: daß sie mir diesen neuen Strich durch die Rechnung machen würde. Wo ich noch zögerte, hatte sie bereits zugegriffen.

»Na, Kleine, da bist du ja. Das ist man recht, daß du dich für mich alten Mann so geputzt hast. Das sieht man zu Haus nicht alle Tage.«

Er nannte sie stets Kleine, was mehr Schmeichelei als Zutraulichkeit war. Er hatte sie immer in sein Herz geschlossen gehabt und ihr jene offenen Zärtlichkeiten entgegengebracht, die bei alten Leuten erlaubt sind. Nun gab es mir einen Riß, sie wie früher mit ihm verkehren zu sehen, als wäre ihre Reinheit durch nichts getrübt und als hätte sie noch Anspruch auf die alte immerwährende Achtung. Und zum zweitenmal kam Ärger über mich, ihm nicht wenigstens schon brieflich die nötigen Angaben gemacht zu haben.

»Nun, Jung', nun laß 'mal, jetzt kommt deine Mutter ein bißchen 'ran.«

Er ließ Hans fahren und begrüßte meine Frau mit väterlicher Aufrichtigkeit, wobei er auch den Mann Gottes nicht vergaß, der doch schließlich auch gehört sein wollte. Aber nichts Salbungsvolles kam über seine Lippen, die Worte fielen wie unter Alltagsmenschen. Immer saß ihm der Humor im Nacken, der gesunde, sinnliche Humor, dem nichts Menschliches fremd war.

»Und noch immer so rund und drall,« schloß er dann. »Recht so, mein Kind. Das Herz kann nur gesund sein, wenn's der Magen auch ist. Da war die Frau Gutsbesitzer Petersen, das war 'ne gar gottesfürchtige Frau. Tat auch viel den Armen. Das so nebenbei. Sie konnte essen, so viel sie wollte und nahm doch nicht zu. Und nachher stellte sich's 'raus, daß sie ein krankes Herz hatte. Da hast du's. Das ist 'ne Geschichte, die furchtbar echt ist und die sich auch immer wiederholt. Also muß dein Herz gesund sein, Kleine, wenn er's dir nicht gerade schwer gemacht hat.«

Er hatte sich gesetzt und hielt sie nun an beiden Händen vor sich. Und sie lachte ihn lustig an, wie sonst in den sonnigsten Tagen unseres Zusammenseins. In der Eile hatte sie Zeit gefunden, zu der seidenen Bluse auch einen seidenen Rock, stahlblau mit hellen Streifen, anzuziehen, auch das Haar neu aufzustecken, und so prangte sie nun wie verjüngt in frisch aufgemusterter Schönheit. Nichts Beklommenes sprach aus ihr, völlig frei bewegte sie sich im Gefühl ihrer Unantastbarkeit. Ohne Zweifel hatte sie sofort gemerkt, daß noch nichts Bedeutungsvolles zwischen dem Alten und mir gesprochen worden war, und das hatte ihr die nötige Sicherheit gegeben.

Ich empfand große Unbehaglichkeit. Am liebsten hätte ich beider Hände auseinandergerissen, sie von ihm geschleudert und gleich die nötige Aufklärung gegeben. Heute mußte er doch noch alles erfahren, was schadete es also, ob es eine Stunde früher oder später kam. Aber der Junge war dabei, und im Nebenzimmer hörte ich schon das Geschirr zum Essen hereintragen.

Da sagte meine Frau: »Nett von dir, Großvater Pastor, uns so zu überraschen. Da kann Hans gleich mit dir fahren, er soll nämlich zu dir. Und wenn du willst, gehe ich mit.«

Der Alte ließ ihre Hände los und schlug vergnügt auf seine Schenkel. »Na, das ist man recht. Endlich seid ihr 'mal zur Vernunft gekommen. Bäume wachsen bei mir auch, und frische Milch gibt's jeden Morgen. Die könnt ihr sogar direkt von der Kuh nehmen. Und dem Jungen scheint's nötig ... Da hätt'st du dir's Geld fürs Telegramm auch sparen können. Ich dachte, es brennt' was anderes.«

Gleichzeitig mit ihm blickte sie mich an, so daß ich ihm kein Zeichen mehr geben konnte. Sie sagte nichts, aber sie zog den Kopf zu einem langen Nicken, als wüßte sie nun, woran sie sei. Dann plauderte sie ruhig weiter, und ich spielte den geduldigen Zuhörer, der blind zustimmen muß, mit fortgerissen von der Unterhaltung.


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