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IX.

Ich kam erst kurz vor Beginn meiner Sprechstunde nach Hause und bestellte mir sofort Kaffee in mein Zimmer. Irma merkte mir meine schlechte Laune sogleich an.

»Es lag wohl ein schwerer Fall vor, daß du so lange bliebst?« fragte sie.

»Ein sehr schwerer,« gab ich zurück und lachte. Aber mein lautes Lachen mußte für sie kein vergnügtes sein, denn erschrocken trat sie einen Schritt zurück.

»Ist dir etwas passiert?« fragte sie wieder.

»Seit gestern nichts mehr,« gab ich kurz zurück. Der gute Bordeaux lag mir noch im Kopf und ließ meine Gefühle explodieren. Ich hatte mich an meinen Schreibtisch gesetzt, um die Krankenbesuche einzutragen, und kaum hatte ich die Schublade aufgezogen und das Buch hervorgeholt, so kam mir der Einfall, die »gute Stimmung« zu benutzen.

»Sage 'mal – weshalb hat denn der Schlüssel gestern früh hier in meinem Schreibtisch gesteckt?« begann ich in einem Tone, den sie an mir bisher nicht gewohnt war. »Ich weiß ganz genau, daß ich ihn in meinen Nachttisch gelegt hatte ... Und wer hat denn hier herumgekramt unter meinen Papieren? Das waren fremde Hände.«

Ich sah sie groß an, anders wie sonst, vielmehr prüfend und herausfordernd. Und sie hielt meinen Blick aus, nicht wie die Angeklagte, sondern wie die Klägerin, die mit dem strafenden Gericht noch zurückhält. Ich nahm ihr Bild in meine Augen auf wie in einen Apparat. Ihre Lippen waren zusammengekniffen, aber wieder leicht verzogen, die Nasenflügel bewegten sich merklich, tiefe Schatten lagen unter den Augen, die mich unaufhörlich anstarrten. Nun, da ich sie tiefer und eingehender betrachtete als je, sozusagen mit einem Polizeiblick, fiel mir das herbe ihrer Züge auf, das nicht nur eine Folge ihrer Blässe war. Etwas Erschlafftes lag in ihrem Gesichte, das schlecht zu ihrer Gesundheit paßte. Ihre Brust ging schwer und langsam, sie hob und senkte sich wie unter kraftvoller Beherrschung.

»Was für fremde Hände denn?« sagte sie endlich. »Wer sollte denn außer mir hier gewesen sein?«

Ihre Furchtlosigkeit verwirrte mich. Trotzdem fuhr ich mit derselben Strenge fort: »Es hat doch hier jemand nach der Police gesucht, die liegt ja hier ganz vorn.«

»Aber, mein Gott, das war ich doch, Franz. Das ist doch ganz erklärlich, ich glaubte doch ... An so 'was denkt man doch immer zuerst.« Ihre Stimme sank, aber ihr Blick blieb derselbe mutige, der durch nichts zu beirren war.

Ich fühlte mich eingeschüchtert, wollte aber den Kampf nicht aufgeben. »Ich hörte doch deutlich, wie du nicht allein warst, wie du mit einem Manne sprachst, der dir alles besorgen sollte. Ihr habt ja ganz sonderbare Reden geführt.

Plötzlich lachte sie und zeigte ihre gesunden Zähne, wodurch ihr Gesicht wieder runder wurde und den kindlichen Ausdruck bekam. Jetzt wußte ich – das Lächeln hatte ihr seit gestern gefehlt, dadurch war sie mir fremd erschienen.

Sie trat auf mich zu, ließ die Finger in meinem noch vollen Haar spielen und sagte begütigend: »Nun kommst du schon wieder mit solchen Reden. Schon gestern fiel es mir auf. Du hast einen bösen Traum hinter dir, das ist das ganze. Den mußt du abschütteln und mir nie wieder so etwas sagen. Beinahe hätte ich gewünscht, ich wäre nicht so verlassen gewesen in meinem Schmerz. Sophie war hier, weiter niemand. Und was könnte die mir wohl sein, höchstens der Junge, und der begreift noch zu wenig ...«

Sie legte die Arme von hinten um meine Schultern und rieb ihre Wangen an meinem Gesicht, wie ein kleines Mädchen, das sich nach einem Unrecht beliebt machen will. Meine ganze Heftigkeit schwand, mein wilder Polizeiblick wurde zahm, ich schämte mich, das auszusprechen, was ich noch auf der Zunge hatte, denn so heucheln konnte keine Schuldige.

Ich empfand ihren heißen Atem, die ganze Wärme ihres noch jugendfrischen Körpers und wurde noch schwächer. Mit kräftigen Armen zog ich sie zu mir heran und küßte sie heiß und wiederholt, als hätte ich dadurch vieles gut zu machen, was sie nicht erfahren dürfte. Und ihr Gesicht strahlte wieder, ihre Augen waren beweglich wie immer, und ihr Wesen strömte die Wonne des guten Hausmütterchens aus. Sie klatschte mir die Wange und sagte bittend: »Aber nun nicht mehr böse sein, und nicht mehr Frauchen mit dem Mittagessen warten lassen, nein? Und so ohne allen Grund. Lina hat den schönsten Flammeri für dich gemacht.«

Ich lachte und war versöhnt. Sie war schon an der Tür, als ich ihr noch zurief: »Aber so leg' doch endlich das schwarze Kleid ab.« Sie hatte es merkwürdigerweise heute wieder angezogen. Fortwährend hatte mich dieser Anblick gestört, ohne daß ich gewußt hätte, was sie eigentlich so unangenehmes an sich habe.

»Laß mich doch,« gab sie mit Laune zurück. »Weißt du – ich will es jetzt für alle Tage tragen. Die Rüsche ist ja schon ab, und heute abend noch kommen blanke Knöpfe 'ran. Ich will nichts Schwarzes mehr in meinem Kasten haben. Das ist keine gute Vorbedeutung. Und fliegen wir aus, bin ich wieder hell.« Mit einem Kußhändchen verschwand sie.

Kaum war ich allein, ärgerte ich mich, nicht noch offener gewesen zu sein. Nun, da ich ihre Nähe nicht mehr empfand, lag wieder etwas Kaltes zwischen uns, das drohend von mir Besitz ergriff. Das Mißtrauen, einmal genährt, schoß höher auf. Ich malte mir aus, hier auf demselben Stuhle hätte am Tage vorher ein fremder Mann gesessen und unter meinen Papieren gesucht. Und sie hätte sich ebenso an ihn gelehnt wie soeben an mich und noch heißere Worte gebraucht.

Ich riß den Kasten auf, soweit es ging, und suchte fieberhaft nach irgendeiner Spur für meinen Verdacht. Ich bildete mir ein, den Abdruck eines fremden Fingers sehen zu müssen, der mich hinwiese auf den richtigen Pfad. Nichts, als eine heillose Unordnung, die ebenso gut von einer Frau wie von einem Manne stammen konnte. Langsam legte ich wieder alles glatt, brachte die Mappe mit der Police an den richtigen Platz und auch den Depotschein für mein Testament, das ich an Gerichtsstelle niedergelegt hatte.

Der Warteraum war noch leer. Ich hatte also noch etwas Zeit. Die Erwähnung des Flammeri hatte mich an Lina erinnert. Ich rief sie herein und ließ auch den Kutscher zu mir rufen.

»Lina,« begann ich, »für die aufrichtigen Tränen, die Sie gestern geweint haben, schenke ich Ihnen diesen Taler. Kaufen Sie sich etwas Schönes dafür. Und dann machen Sie die Speise ebenso vortrefflich wie bisher.« Eigentlich wollte ich sie nur dadurch gewinnen, um sie vorsichtig auszuhorchen.

Ihr Vollmondgesicht zeigte Verklärung. Vorsichtig wischte sie sich die Hand an der Schürze ab und reichte mir zum Danke die dicken Fingerspitzen. »Ich freue mich ja so sehr, daß der Herr Doktor wieder gesund sind,« brachte sie dann gerührt hervor. »Aber den Taler gebe ich nicht aus, den hebe ich mir zum Andenken auf.«

»Es war wohl gestern gleich viel Besuch hier?« fragte ich möglichst gleichgültig, während ich von der Seite ihre Miene studierte.

»Nur die Hauswirtin, der junge Arzt und Doktor Schopp.«

»Weiter niemand?«

Sie sann nach. »Richtig – der alte Anten kam ja auch.«

»Niemand sonst?« Ich setzte die Eintragungen fort, um möglichst harmlos zu erscheinen.

Sie verneinte abermals, fügte dann aber hinzu, daß es doch möglich sei. Sophie würde das jedenfalls besser wissen, denn sie sei immer vorn gewesen.

Es klopfte, und mein Kutscher trat ein, wie es schien, mit einem sehr bösen Gewissen, denn er blieb an der Tür stehen und wagte nur vorsichtig den Blick zu mir zu erheben; dagegen schielte er verdächtig auf Lina.

Ich stellte mich breitbeinig vor ihn hin und musterte ihn einige Augenblicke scharf. »Na, Karl,« redete ich ihn an, »es gefällt Ihnen wohl nicht mehr hier bei mir. Dem kann ja geholfen werden. Sie werden sich nun wohl nach einem Arzt umsehen müssen, der eine größere Praxis hat.« Er wollte etwas einwenden, aber ich unterbrach ihn sofort: »Lassen Sie nur, es hilft nichts, acht Tage bleiben Sie noch hier, dann können Sie losgehen. Ihren Lohn kriegen Sie.«

Er warf Lina einen giftigen Blick zu. »Das habe ich wohl Ihnen zu verdanken, wie?« schrie er sie an und fletschte dabei förmlich die Zähne, denn es sprach wirklich tierische Wut aus ihm. Heimlich ballte er die Faust, so daß Lina mit erhobenem Arm zurückwich.

»Lina hat kein Wort gesagt,« fuhr ich dazwischen, »ich weiß aber, was für dummes Zeug Sie gesprochen haben. Nun 'raus.«

Er verbiß sich seinen Ärger und schielte uns beide zu gleicher Zeit an, als traute er dem Frieden noch nicht. Dann aber ging er in sich, »wenn's denn nicht anders sein soll, Herr Doktor, dann muß es wohl. Ich glaubte ja eben, daß der Herr Doktor –. Alle waren wir schon der Meinung. Schön war's ja nicht von mir. Bitte auch dafür um Verzeihung. Ja.«

Ich winkte ihm ab, und er verzog sich rückwärts.

Lina folgte ihm erst in einem gehörigen Abstand. Ich lachte hinter ihnen her. Eine gewisse Befriedigung überkam mich, auf so schlaue Weise die Bestätigung dafür erhalten zu haben, mir die Unterhaltung dieser beiden wenigstens nicht erträumt zu haben. So stimmte sicher auch alles übrige.

Lange blickte ich die Photographie meiner Frau an, die auf dem Schreibtisch stand, dann das Bild meines Jungen, das das Gegenstück dazu bildete. Und schließlich starrte ich ins Wesenlose, wie man zu tun pflegt, wenn man eigentlich an nichts mehr denkt.

Das Schlagen der Uhr riß mich aus meiner Betäubung. Um halb fünf begann meine Sprechstunde, und es war schon voll, aber noch immer ging die Klingel nicht. Ließ sich denn heute niemand sehen? Ich suchte nach einem Grund dafür, vielleicht hielt man mich doch schon für gestorben und zog es nun vor, lieber die lebenden Ärzte aufzusuchen.

Dieser Galgenhumor versetzte mich in eine heitere Stimmung, die aber nicht lange währte.

Ich benutzte die Gelegenheit, um zu sehen, was Hans mache, den ich seit früh nicht gesehen hatte. Ich fand Mutter und Sohn zusammen. Sie saß am Fenster vor ihrem Nähkorbe, und er zeigte ihre seine Schularbeiten. Wie ein Wilder schoß er auf mich zu und versuchte sofort seine Reitübungen, indem er meinen Kopf als den Hals eines Pferdes betrachtete und meinen Leib als den Sattel. Ein Abknutschen begann, dem ich nur mit Gewalt ein Ende bereiten konnte.

»Aber, so laß ihn doch,« sagte Irma, ohne aufzublicken, »er wollte schon zu dir hinein, aber du solltest nicht gestört werden.«

»Eben, so laß mich doch, Väterchen, ich will auch mal wieder etwas von dir haben,« jauchzte er in seiner klugen Weise. »Bald wärst du gestorben, und da hätten wir ein Jahr lang trauern müssen. Nicht wahr, Muttchen?«

Er sprach nur nach, was man ihm eingeredet hatte, und so nahm ich den Scherz auf. »Was du sagst, ein ganzes Jahr? Das ist aber mal lange.«

»Muttchen sagte es mir. Länger trage man nie Trauer. Und weißt du, ich muß dir noch 'was sagen – wir wären dann nach Tirol gefahren. Nun kommst du doch aber mit.«

»Was der Junge alles wieder zusammenredet,« warf sie ein, immer noch das Gesicht gesenkt. Sie suchte nach irgend etwas in ihrem Nähzeug, und so irrten die Augen fortwährend hin und her, ruhelos, und wie mir schien, auch zwecklos. Die Röte schoß ihr bis zu den Haarwurzeln.

»Also solche Pläne hattet ihr schon geschmiedet,« sagte ich gefaßt, während mir sofort einfiel, wo ich das Wort »Tirol« erst ganz kürzlich in nächster Umgebung gehört hatte.

Der Junge, der nun wieder vor mir stand und meine Hände festhielt, nickte großartig. Vom Fenster her klang es wieder dazwischen: »Es ist ja Unsinn, was er spricht. Man läßt ein paar Worte fallen, und so'n Kind schnappt alles gleich verkehrt auf.«

»Aber Muttchen!« rief er außer sich. »Wir haben doch darüber gesprochen, du sagtest, du möchtest lieber nach Tirol, die alte See passe dir nicht mehr.«

»Na, na, weshalb soll Muttchen das auch nicht gesagt haben,« beruhigte ich ihn. »Die Ferien fangen ja auch bald an.«

Jetzt erst sah sie auf. »Gerade der Ferien wegen habe ich so etwas gesagt, ich will es gern glauben. Er jammerte ja so, daß wir nun vielleicht nicht weg könnten. Gott, ich weiß gar nicht mehr, was alles gesprochen wurde. Mir war es ja ganz wirr im Schädel.« Sie zeigte ein flüchtiges Lächeln und nähte dann ruhig weiter.

Sophie kam wie gewöhnlich leise hereingeschlichen und wollte den zweiten Platz am Fenster einnehmen. Sofort gab ihr meine Frau einen Auftrag für die Küche, so daß sie wieder hinaus mußte. Ich hatte dabei die Empfindung, sie wollte sie gerne fort haben.

»Nun, reisen wir nach Tirol, Väterchen?« fragte Hans wieder, der nicht locker lassen wollte.

Meine Frau aber fuhr ihn ärgerlich mit der Bemerkung an, daß er nun endlich davon ruhig sein solle. »Du siehst doch, daß Vater nicht viel Zeit hat. Wir gehen an die See, wie er es bestimmt hat. Und du kleiner Naseweis wirst natürlich mit uns kommen. Nicht wahr, Franz?«

»Weshalb sollen wir aber diesmal wirklich nicht nach Tirol?« wandte ich ein. »Da leben wir ebenso billig, und außerdem gibt es da verschwiegene Nester, wo sich kein Mensch um uns bekümmert.« Ich betrachtete sie scharf.

Sie nähte unaufhörlich weiter, ohne Erregung zu zeigen. Endlich riß sie den Faden ab und machte den Versuch, einen neuen einzufädeln, wobei sie den Kopf erheben mußte. Die Hände schwankten leicht, und das helle Tageslicht fiel auf marmorbleiche Züge. »Wie meinst du das? Müssen wir uns verstecken?« fragte sie dann im Unterhaltungstone.

Ihre Gleichgültigkeit verblüffte mich, so daß ich mich wieder in dem alten Irrgarten befand, wo meine Vorstellungen verschlungene Wege waren. »Du weißt doch, ich bin für die Einsamkeit, wenn's sich um die Erholung handelt,« gab ich zurück.

»Gut, gehen wir also nach Tirol, wie du willst. Ich wäre sehr dafür. Wenn du meinst, daß das dem Jungen dienlicher ist –. Bis jetzt warst du anderer Ansicht.«

Sie schlug die Augen zu mir auf. Und nichts Trübes war in ihnen zu erblicken. Ich wurde weder aus ihr noch aus mir klug und ließ sie ruhig sitzen. Es war auch soeben ein Patient eingetreten, und so mußte ich wieder an meine Berufspflichten gehen, begleitet von einem Händeklatschen des Jungen, der nun außer sich vor Freude im Zimmer herumzutanzen begann.


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