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XV.

In meiner Verwirrung hatte ich Schopp abreisen lassen, ohne ihn nach einem Vertreter für mich zu fragen. Und so mußte ich mich selbst auf die Suche machen. Der unglückliche Doktor Klungel fiel mir ein. Ich glaubte, ihm keine bessere Bestätigung meiner endgültigen Verzeihung geben zu können, als wenn ich ihm meine Patienten überwiese. Ich erwog auch gar nicht lange. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, daß anfangs verkannte Menschen sich später als Größen entpuppt hatten, oder doch wenigstens als brauchbare Menschen. Er wohnte ganz in der Nähe, und auch das lockte mich.

Als ich die Treppe des Hochparterres hinaufstieg, kam mir ein eleganter, modisch gekleideter, junger Herr entgegen, dessen ganze Haltung und kühn aufwärts gekehrter Schnurrbart mir schon von oben das berühmte Bartbindenmotto: »Es ist erreicht« zuzurufen schienen. Als wir uns anblickten, packte uns die gleiche Verblüffung, wie sie ungefähr zwei Menschen zeigen, die sich schon gesehen zu haben glauben, ohne sich zu kennen. Seine Verblüffung mußte aber unbedingt stärker sein, denn er wich mir so eilig seitwärts aus, daß er beinahe die Stufe verfehlt hätte. Jedenfalls hatte er noch die Geistesgegenwart, leicht den Hut zu lüften, was ich mehr als eine Entschuldigung für das Streifen meines Armes auffaßte.

Auch ich berührte die Krempe meines Zylinderhutes, sandte ihm aber unwillkürlich einen Blick nach, und er, schon an der Haustür, tat dasselbe, wie mir schien nun stark verdutzt. Ich dachte darüber nach, wo ich diesen patenten Kerl schon gesehen haben könnte, kam aber bald darüber hinweg. In einer Stadt wie Berlin starren sich Menschen so oft an, daß die sogenannten Gesichtsbekanntschaften nach Hunderten zählen.

Trotzdem die Sprechstunden bei Doktor Klungel noch nicht vorüber waren (junge Ärzte pflegen manchmal den ganzen Vormittag dazu zu verwenden), war er doch nicht zu Hause. Er sei »ganz plötzlich« weggerufen worden, sagte mir nach meinem Klingeln die dicke, stark nach Fett riechende Frau, die ich für seine Wirtin oder Haushälterin hielt. Es sei soeben »schon« ein Herr hier gewesen. Wahrscheinlich also der, dem ich begegnet war. Ich empfahl mich, ohne weder meinen Namen genannt noch meine Karte dagelassen zu haben.

Am späten Nachmittage hatte ich mehr Glück. Die Dicke, die diesmal eine blaue Latzschürze vorgebunden hatte, was ihr das Ansehen einer Hauskokette gab, ließ mich in den »Wartesaal« eintreten. Es lag mir an einer gewissen Überrumpelung, um erst flüchtig Umschau zu halten.

Mit dem »Saal« hatte sie nicht zu viel gesagt, denn der schmale Raum zog sich an drei Fenstern vorüber, deren Größe mir etwas zwecklos erschien. Dann aber sah ich, daß man ein großes Zimmer durch eine Tapetenwand geteilt hatte, die an der Decke mitten durch die Rosette führte. Vielleicht war dahinter eine Dunkelkammer, ein Alkoven oder sonst irgend etwas.

Ich zerbrach mir nicht weiter den Kopf darüber, denn die acht Stühle, die mit abgezirkelter Genauigkeit vor der langen Wand aufgepflanzt waren, interessierten mich besonders. Sie sahen neu wie aus dem Laden aus und zeigten noch ihre glänzende Politur. Ich stellte mir vor, wie schön eine Inschrift über ihnen an der Wand sich ausnehmen würde, auf welcher zu lesen wäre: »Kommet herein, ihr alle, denen etwas fehlt, und nehmet sofort Platz.«

Sieben der Stühle waren leer, auf dem achten hockte ein alter Arbeiter, der mit seinen eingefallenen Wangen düster vor sich hinstarrte. Er roch nach Kampher und trug die linke umwickelte Hand in einer schwarzen Binde. Den alten Hut hatte er neben sich auf den Boden gestellt. Für seine Begriffe hatte wohl dieser langweilige Raum etwas Feines und Geheiligtes.

Alles sah noch frisch aus. Selbst die ausgelegten Bücher und Zeitschriften auf dem runden Tische, die den Wartenden die Zeit vertreiben sollten, hatten noch etwas Unangetastetes. Die Fingerflecke fehlten, die für den regen Besuch bei einem Arzt sprechen. Ich hatte Muße, darin zu blättern. Ein Band illustrierter Unterhaltung, Eichendorffs Gedichte, die Götterwelt der Germanen, das Leben Jesu von Renan (Volksausgabe), ein Richard Wagner-Album und ein »Ratgeber mit Menschen umzugehen«.

»Eine merkwürdige Leseblüte,« dachte ich. Namentlich der »Ratgeber« erschien mir wie ein guter Witz, – am besten angebracht bei einem Arzte. An der Wand hing ein großer Stahlstich, die Auferstehung der Tochter Jairi, flankiert von zwei kleinen Postamenten, auf denen die Gipsfiguren von Glaube und Hoffnung standen. Alles dies schien nicht ohne Absicht angebracht zu sein. Es sollte die Leidenden erheben und trösten, ihre Gedanken während der Wartezeit auf bestimmte Dinge lenken.

Als Pastorssohn gefiel mir das, und ich dachte unwillkürlich an meines Vaters Haus, wo eine derartige Ausschmückung zum täglichen Brot gehörte. Dabei ärgerte ich mich ein wenig, in meinem Wartezimmer daheim nicht ähnliche Wahrzeichen verteilt zu haben. Und sofort nahm ich mir vor, das halbe Dutzend Jagdbilder, die noch aus Sanitätsrats Zeiten dort hingen, durch andere aus dessen Nachlaß zu ersetzen. Auf dem Boden mußte noch eine ganze Kiste voll stehen.

Ich dachte noch darüber nach, als draußen die Klingel wieder ging, und die Türhüterin den Herrn einließ, dem ich heute mittag auf der Treppe begegnet war. Ohne Hut und Stock wegzulegen, setzte er sich. Mein Anblick schien ihn abermals stark zu verblüffen. Er nahm eins der Bücher vom Tisch und blätterte darin, dann legte er es ebenso schnell wieder fort. Am Fenster stehend, konnte ich ihn beobachten. Er hatte glänzend braunes Haar, das in der Mitte gescheitelt war und etwas kraus an den Ohren lag. Dies Haar fand ich besonders schön. Auch sein Auge hatte etwas Feuriges, während mir die Züge zu weich erschienen. Jedenfalls war sein Gesicht in diesem Augenblick sehr blaß, so daß ich ihn nicht für ganz gesund hielt.

Ich wollte schon ein Gespräch mit ihm anknüpfen, um meine Neugier zu befriedigen, als er sich nervös erhob, die Kapsel seiner goldenen Uhr springen ließ und mit dem Benehmen eines Menschen hinausging, der noch einmal wiederzukommen gedenkt. Er hatte kein Wort gesprochen, weder guten Tag noch Adieu gesagt, sondern beim Eintritt nur flüchtig genickt. Draußen klappte etwas heftig die Tür.

Gleich darauf steckte Doktor Klungel den Kopf ins Wartezimmer und, mich erblickend, zeigte er freudige Überraschung. Ich bat ihn, erst seinen Patienten abzufertigen, weil er starke Neigung hatte, mich zu bevorzugen. Nach fünf Minuten war ich mit ihm allein.

»Was verschafft mir denn die große Ehre, Herr Doktor Reller?« fragte er und erging sich dann in aufrichtigen Dankesworten, als ich ihm den Zweck meines Kommens mitgeteilt hatte. Nach dem Irrtum, den er begangen habe, müsse er diese Aufmerksamkeit geradezu als Auszeichnung betrachten, und ich könne versichert sein, daß er sich meines Vertrauens nach jeder Richtung hin würdig zeigen werde.

Es traf sich auch alles ganz vorzüglich, denn er hatte noch keine Vertretung übernommen und wollte erst Ende August auf einige Wochen zu seiner alten Mutter nach Osnabrück fahren. Sie war die Witwe eines Musikprofessors in Hannover und lebte nun still und zurückgezogen mit ihrer bereits reifen Tochter. Beider Frauen ganzes Leben drehte sich nur um den Sohn und Bruder.

Unaufgefordert machte er mir diese Andeutungen. Er schien mir jetzt gar nicht mehr so gigerlhaft wie zuerst, vielmehr viel bescheidener und doch zugleich freier. Auch jetzt, an seiner gedämpften Stimme und der Angewohnheit immer die eine Seite des Gesichts dem Sprecher zuzuneigen, merkte ich ihm den Zwang an, aufmerksam zu hören.

Er hauste in keiner der Dutzendwohnungen, wo die jungen Ärzte gewöhnlich die »möblierten Herren« sind und die eigentlichen Mieterinnen in die hinteren Räume verdrängen. Vielmehr war er umgeben von seinen eigenen Möbeln, die er sich von Hause hatte schicken lassen. Mutter und Schwester hatten die besten Stücke herausgesucht, denen man zwar das ehrbare Alter ansah, die aber von einem wohligen Hauch vornehmer Gemütlichkeit umgeben waren. Alles war mit Geschmack gestellt, auch im Nebenzimmer, in das er mich hineinbat und das sein eigentlicher Studierraum war ...

Ein hübscher Stutzflügel stand in der Ecke, eine Büste von Beethoven krönte den Schrank, und an der Wand hing die Totenmaske desselben Meisters. Seine Nebenleidenschaft war die Musik, was mir auch erklärlich erschien. Er hätte sich auch ganz dieser Kunst gewidmet, wenn sein Vater nicht dagegen gewesen wäre. Man habe immer gefürchtet, daß sein Gehörleiden ihn später daran hindern werde, aber Gott sei Dank schreite es nun nicht mehr weiter; er hoffe es wenigstens. Übrigens habe ihm das Studium der Medizin viel Anregung bereitet, und er sei nun mit Leib und Seele Arzt.

»Gut, daß Doktor Schopp nicht hier ist,« dachte ich. »Was würde er wohl dazu sagen?« Und in diesem Augenblicke freute ich mich schon über sein Erstaunen, wenn er nach seiner Rückkehr von meiner Wahl hören würde. Recht so! Weshalb hatte er mir auch eine solche Traumdiagnose gestellt.

»Man muß sich vorläufig noch so durchschinden,« sagte Klungel wieder und fügte hinzu, daß er Aussicht habe, bald Kassenarzt zu werden. Ich verstand ihn vollkommen. Das war das Mekka aller der jungen unbemittelten Kollegen, die in der Riesenstadt den Kampf mit dem Dasein aufnahmen und inzwischen auf die reiche Frau warteten oder auf die verirrte Taube, die ihnen das grüne Blatt einer hohen Protektion unerwartet ins Haus brächte. Das konnte auch in Gestalt eines Nabobs oder einer Prinzessin geschehen, die sich zufälligerweise auf der Straße den Fuß verrenkt hatten und denen ein patientenloser Doktor auf gut Glück in die Arme lief. Leider war Berlin zu wenig romantisch veranlagt, um sich auf solche Wunder einzulassen. Es warteten auch schon zu viele darauf.

Während wir uns weiter unterhielten, setzte ich meine stille Prüfung im Zimmer fort. Die Wohnung war mir immer der Mensch. Auch hier wie nebenan und drüben zeigte sich der suchende Sinn an den Wänden und überall dort, wo der Blick sich angezogen fühlte. Klingers Brahmradierungen lagen auf dem Flügel; philosophische und ästhetische Werke häuften sich auf den Tischen. Medizinische Folianten lagen friedlich neben schön-wissenschaftlichen Büchern. Auf einem kleinen Tischchen lag aufgeschlagen Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung«. Auch mein Buch »Mißbrauch der Hypnose« bemerkte ich, sogar aufgeschnitten! –

»Ich habe es mir gestern gekauft, – aus Dankbarkeit für Sie,« sagte er lächelnd.

»Aber wo ist denn unser Freund Äskulap?« sagte ich launig, indem mir einfiel, daß es neuerdings Händler gab, die mit den Gipsfiguren des medizinischen Schutzpatrons von Tür zu Tür der neugebackenen Ärzte zogen.

»Er kommt noch,« erwiderte er vergnügt. »Ich habe noch keinen rechten Platz für ihn.«

Wiederum mußte ich daran denken, was Schopp dazu sagen würde, über dessen Schreibtisch der Gesundheitsheilige in halber Lebensgröße thronte.

Unaufgefordert setzte er sich an den Flügel und spielte mit Ausdruck und Fertigkeit etwas, was ich nicht kannte. Er mußte jäh abbrechen, weil die Dicke eintrat.

»Äskulap winkt,« sagte er und verschwand.

Ich blieb noch, weil ich ihn über einige meiner Patienten informieren wollte. »Man soll doch einen Menschen nie zu früh beurteilen,« war mein Gedanke währenddessen. Ich wunderte mich über die Vielseitigkeit dieses Mannes, über seine künstlerischen Neigungen, die in so großem Gegensatze zu seinem etwas geckenhaften Äußeren standen. Sein sogenanntes korrektes Auftreten war wohl nur eine Formsache bei ihm, die er abstreifte, sobald er sich gehen lassen konnte.

Schon nach einem Weilchen kehrte er zurück. Es war nichts besonderes – der Arbeiter hatte nur sein Rezept vergessen.

»Die Patienten gehen alle vorbei, mein Schild ist noch zu neu,« sagte er lustig. »Oder die Gegend hier ist zu gesund.«

Mir fiel der Herr wieder ein, der es vorhin so eilig gehabt hatte, und ich äußerte meine Annahme, daß er jetzt aufgetaucht sein könnte. Er sann nach. Auch meine ungefähre Beschreibung konnte ihn nicht auf den Richtigen bringen. Ohne uns dann noch weiter mit ihm zu beschäftigen, erledigten wir unsere Angelegenheit.

Inzwischen war seine Sprechstunde zu Ende gegangen, und da er auch gerade fort mußte, und wir denselben Weg hatten, wartete ich solange, bis er zum Ausgehen fertig war.

Es war sechs Uhr vorüber, die Zeit, wo die meisten Werkstätten bereits geschlossen hatten und nun das arbeitende Berlin sich mit Erholungsgelüsten wie ein neubelebter, schwarzer Menschenstrom durch die Straßen wand.

Die City erwachte allmählich zum Vergnügen des Abends. Nur träge schlich die Sehnsucht nach Ruhe durch die Reihen. Sie malte sich auf den matten Gesichtern der Arbeiterinnen, die, nach dem Schweigen während des Tages, nun lustig das Raketenfeuer ihres Geschwätzes prasseln ließen, das doch, auch so bald, wieder verpuffte; sie zeigte sich in den abgehärteten Zügen der Blusenmänner, die, wortkarg, an dem langentbehrten Stummel ziehend, rastlos vorwärts drängten, im dumpfen Schritt der Massen.

Die ungeheure Leiberflut der Königstraße verschlang alle, die sich von ihr fortreißen ließen. Sie strömte bald rechts, bald links ab und bekam stets neuen Zufluß von allen Seiten. Die Ermatteten trieben neben den Erfrischten, denen der Tag erst mit dem Abend begann, die Abgehärmten ließen sich von den Sorglosen mitreißen, und die Sünde mischte sich bereits verschämt unter die Menge. Und wo es ihr noch zu früh erschien, stand sie lauernd hinter dem Vorhang, wartend auf die Dämmerung, die die genußsüchtige Stadt allmählich zu dem Glanz der Nacht hinüberleiten würde.

Und als ich sie schon ihre Blicke austauschen sah, offen und ohne Scheu, dachte ich an ihre heimliche Schwester, die auf anderen Wegen ging, auf den verborgenen, so hübsch verdeckten, die doch an dasselbe Ziel führten. Und abermals erwachte in mir die Frage: Wo ist er, wo späht er jetzt nach seiner Geliebten, wo kann ich ihn finden, um meiner Seele Befriedigung zu geben?

Und hätte ich es laut geschrieen, mit der Kraft meiner vollen Stimme, wie ein Kranker, in dem die Lebenslust wieder erwacht – der tosende Lärm der unaufhörlich rasenden Stadt hätte jeden Laut verschlungen. Sie flutete ihr Leben ruhig weiter, auf und nieder, über tausend Geheimnisse hinweg, die, nicht mehr sicher auf den Straßen sind, sich in die Winkel der Häuser flüchten, wie die Spinnen, die unbeobachtet ihre Netze weben.

Heißer Dunst lag noch zwischen den Häusern, der Staub der Straße verdickte die Luft und ließ seine Säulen in der Sonne spielen, die noch in weißem Glanze über die Stadt strahlte. Man roch den Schweiß der Arbeit, den diese Menschenlawinen ausströmten, deren Tagewerk immer dasselbe blieb. Ganz Berlin dünstete seinen Rachen aus, wie ein großes Ungeheuer, das in steinerner Unbeweglichkeit über seinen Leib gebietet. Und oben, über den Dächern, wo tausend Schornsteine und Essen ihre schwarzen Lungen leerten, vermischte sich der Rauch mit dem Dunst und trübte den Himmel, der sich mit Qualm überzog. Schüchtern, wie ein verblaßtes Zeichen, lugte die erste Sichel des Mondes durch den schmutzigen Schleier.

»Wann werden Sie reisen?« unterbrach Doktor Klungel meine Gedanken. Gerade eben hatte mich diese Frage beschäftigt, und zwar mit einer gewissen Wehmut. Denn mir war dieselbe Zeit im vorigen Jahre eingefallen, wo noch kein Mißtrauen in mein Gemüt gesenkt war, wo freudige Zuversicht mich mit Weib und Kind gemeinsam in die Ferne geführt hätte.

Ich konnte keine bestimmte Antwort geben. Wir kamen auch nicht dazu, weiter darüber zu sprechen, denn er wurde von jemand gegrüßt, der schon vorbei war, ehe ich ihn sehen konnte. Dann blieb er stehen und sagte wie in Zerstreuung: »Aber kannten Sie nicht den Herrn? War es nicht ein Verwandter von Ihnen? Ich hielt ihn wenigstens dafür. Wir sahen uns flüchtig in Ihrer Wohnung, als ich damals zu Ihnen gerufen wurde. Er hat Sie wohl gar nicht erkannt.«

»Wo?« fragte ich unwillkürlich, trotzdem ich beschwören konnte, keinen Verwandten in Berlin zu besitzen. Er wies auf den Herrn, dem ich heute bereits zweimal begegnet war, und der mir schon Kopfzerbrechen gemacht hatte. Meine Erregung war so gewaltig, daß ich weder vorwärts noch rückwärts konnte und kein Wort hervorzubringen vermochte. Das Herz stand mir fast still, denn die Überraschung war mir wie ein unerwarteter Faustschlag gekommen, der Betäubung verursacht. Allmählich erst kam mir die Beherrschung.

»Soll ich ihn zurückholen?« fragte er liebenswürdig.

»Nein, nein, lassen Sie nur,« verwehrte ich. »Oder doch.« Ich kehrte mit ihm um, getrieben von der unheimlichen Sucht, irgend etwas zu tun, was mir noch nicht klar war. Er war fort, wie durch Zauber verschwunden. Wir sahen um die Ecke, wir blickten in die Läden – er war nicht mehr zu finden.

»Ich hatte ihn doch eben noch gesehen,« klagte Doktor Klungel. Er schien sehr betrübt zu sein, mir in diesem Augenblick nicht dienen zu können.

Ich wurde äußerlich wieder ruhig. »Lassen wir ihn,« sagte ich kurz. Wir setzten unsern Weg fort. In meinem Kopf gingen die Gedanken in einem tollen Wirbel, bis sie sich nach und nach zur Klarheit durchrangen. Jetzt wußte ich, wo ich ihn gesehen hatte: im letzten Winter in der Weinstube, von der er an meinem Bette gesprochen hatte. Eine Stunde lang hatte er uns gegenüber gesessen. Nun wurde mir auch seine Bestürzung erklärlich heute vormittag, und seine Eile vor wenigen Stunden. Bestimmte Gründe mußten ihn zu meinem Begleiter geführt haben. Er wollte alles vermeiden, das Gespräch auf ihn zu bringen. Und alle diese Fäden gingen von seiner Geliebten aus.

Ich überlegte ein Weilchen, ob ich darauf zu sprechen kommen sollte, daß er derselbe sei, den ich bereits bei ihm gesehen hatte. Sofort aber kam ich davon ab, denn ich wollte mich nicht verraten. Um ihn vorsichtig auszuforschen, kam mir ein Einfall. »Sie haben also meinen Vetter bereits kennen gelernt?« fragte ich.

»Also ein Vetter von Ihnen? Das hätte ich wissen sollen, wir wurden gar nicht vorgestellt. Ihre Frau Gemahlin hatte wohl auch kaum meinen Namen behalten. Ich sah ihn auch nur, als ich wieder ging. Wir sprachen auch gar nicht zusammen.«

Ich wußte genug. Es war wie so oft im Leben: Der eine hatte den anderen zuerst erkannt und das Bedürfnis gefühlt, sich ihm wieder in Erinnerung zu bringen. Ich reimte mir zusammen, daß er Klungel wahrscheinlich hatte anreden wollen, mich aber erkannt habe und dann schnell vorübergehuscht sei.

Wir verabschiedeten uns. Ich mußte allein sein mit meinen Empfindungen, mit der großen Genugtuung, die mir heute geworden war. Und während die Flut der Menschenleiber mich mit fortriß, betete ich still wie ein Sinnloser Berlin an:

»Himmlische Stadt mit deinen Sünden, ich will dich küssen. Rage als steinernes Standbild vor mir empor, zeige tausend Stufen bis zu deinen Füßen. Ich will sie emporsteigen, vor dir niederknien und mit verschlungenen Hände schwören, du seiest die Tugend unter allen Städten. Du hast mir heute Freude bereitet, traurige Freude, denn meine Seele hast du von einem Druck befreit. Und türmst du auch die doppelte Last mir wieder auf, die – ich fühle es – mich in die Tiefe ziehen wird, so preise ich dich dennoch. Du hast mir Gewißheit gegeben, erbarmungslose Gewißheit! Ich habe gehört und nicht geträumt!«

Tränen waren mir nahe, ich wußte nicht weshalb. Der Schmerz um ein verlorenes Lieb zehrte an mir und trieb mich vorwärts – ein Einsamer unter einer Million und mehr.


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