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XXI.

Um anderen Tage reisten sie alle drei ab. Es gab kein Hindernis mehr für mich, denn des Jubelns von Hans war kein Ende. Wie das Schicksal kam, so wollte ich es nehmen. Ich hatte noch kurz vorher mit meinem Vater vernünftig darüber gesprochen. Sagte sie ihm alles, so sollte ihr von ihm Verzeihung werden, an eine Rückkehr zu mir aber nicht zu denken sein.

Sie wollten die Nacht durchfahren, weil die Hitze am Tage unerträglich war. Vorher ging Irma allein fort, um noch verschiedenes zu besorgen. Mir kam wohl die Frage, wo sie sonst noch hingehen könnte, aber merkwürdig – ich war nicht mehr erregt darüber. Alles in mir war gedämpfter geworden, gleichsam abgestimmter auf eine gewisse Entsagung, wie sie bei Menschen kommt, die plötzlich müde des ewigen Kämpfens sind. Was nutzte es auch noch? Ich sah kein frohes Ende mehr, ich ließ sie ziehen, wie man einen guten Freund ziehen läßt, der aus innerer Notwendigkeit zu einem unversöhnlichen Feinde geworden ist, und von dem man doch aller Welt erzählen möchte, daß er noch der Alte sei.

Und als wir uns auf dem Bahnhofe zum Abschied die Hände reichten, hatte sie wohl dieselbe Empfindung wie ich.

»Leb' wohl,« sagte sie und drückte mir die Hand.

»Auf Wiedersehen,« sagte ich ebenfalls, fast ohne jene Bedeutung.

Sie sprach noch über häusliche Dinge, auf die ich kaum hörte. Immer plagte mich der Gedanke, daß nun die Hälfte des Geheimnisses von mir ginge, daß die andere aber zurückbliebe, und daß beide Teile sich wohl finden würden. Ich küßte meinen Jungen, der, die Ruhe seines Vaters nicht verstehend, sich wie närrisch in der offenen Wagentür benahm. Dann lachte ich mit und freute mich und wußte kaum warum. Und die Leute um mich herum, die unser Trennungsglück mit ansahen, ahnten nicht mein tiefes Weh.

Die Lokomotive pfiff, und der Zug setzte sich in Bewegung. Der Junge schrie und winkte, und ich winkte ebenfalls. Einmal ließ sich das Gesicht seiner Mutter neben ihm sehen, dann sah ich noch die großen Augen meines Vaters. Er nickte, und ich nickte. Dann verschwand alles in dem dunklen Qualm der Lokomotive, die nun außerhalb der Halle ungezügelt fauchte.

Ich ging durch die Straßen wie ein verirrtes Schaf, das abseits von der Herde nicht recht weiß, was es allein beginnen soll. Und als ich mein Haus betrat, kam es mir wie ein kaltes Gefängnis vor, in dem ich dumpfe Tage verleben sollte, wartend aus meine Befreiung.

In meinem Arbeitszimmer angelangt, wunderte ich mich, die Sphinx wieder vorzufinden, die ich gestern beiseite gebracht hatte. Nun stand sie auf meinem Schreibtische, und als ich Sophie danach fragte, erfuhr ich, daß meine Frau sie wieder dorthin gestellt hatte. Mir erschien das wie eine amüsante Bosheit, die mir zu denken geben sollte. Sie wollte sich mir wohl in Erinnerung bringen, wenn nicht durch sich selbst, so doch durch ihr Sinnbild, mit dem ich sie verglichen hatte.

Mir war nicht zum Lachen, denn ich vermißte nun die andere, die so rotes Blut hatte, die von mir gedemütigt, gepeinigt worden war, die ich hätte töten können und nach der die Sehnsucht jetzt schon wieder mächtig erwachte, vielleicht auch nur, weil sie mir aus Gewohnheit fehlte, weil ich nun kein Geschöpf mehr hatte, an dem ich die Tyrannei auslassen konnte.

Ich gab meine Gebirgsreise auf und blieb zu Hause. Dafür spielte ich aber den verreisten, ließ Doktor Klungel ruhig meine Praxis führen und gab den strengen Befehl, niemand vorzulassen. Ich wartete auf die große Nachricht meines Vaters, aber sie blieb aus. Ansichtspostkarten kamen, auch mit Grüßen meiner Frau, mit der steifen Handschrift meines Jungen und der festen meines Alten. Wohlbefinden und Laune seien gut, Appetit noch besser, schrieb er. Zum Schlusse das ewige »Auf Wiedersehen«.

Aber die große Nachricht kam immer nicht, die zugleich der Ruf für mein Kommen sein sollte. Und ich wartete weiter, von Tag zu Tag, mit der Geduld des Menschen, der sich selbst die schönsten Ausreden gibt. Endlich kam eine Nachricht, die mich betroffen machte. Irma fühle sich nicht recht wohl; ganz plötzlich sei die Wendung gekommen. Es werde wohl nur eine vorübergehende Magenverstimmung sein, die nichts auf sich habe.

Ich aber las zwischen den kurzen Zeilen meines Vaters mehr. Er war sonst nicht der Mann, der sich drehte und wand und mit der Wahrheit hinter dem Berge hielt. Jene Unruhe ergriff mich, die das Unverständliche ergibt, was war passiert? Weshalb litt sie plötzlich, wo sie sich erholen sollte? Was hatte ihren gesunden Körper so plötzlich ins Schwanken gebracht? Ich witterte Seelenpein, aber keine Krankheit. Es waren wohl die Vorboten, die mein Vater sandte, in der Einbildung, ich würde ihn schon verstehen. So machte ich mich denn auf die große Deutlichkeit gefaßt.

Und sie kam in Gestalt einer Depesche: »Komme sofort mit dem nächsten Zuge.«

Also endlich! Über es wurde mir doch sonderbar zumute. Es kam etwas über mich, was ich wie einen dunkeln Schleier empfand, nicht im Gefühl, sondern mit den Augen. Ich hatte die Figur der Sphinx wieder auf das Brett gestellt. Und während ich nun in meinem Arbeitszimmer rasch noch die notwendigsten Dinge zusammenpackte, die ein Arzt selbst auf der Reise nicht vergißt, sah ich immer den schwarzen Schleier über dem Bronzekopf, trotzdem er in Wirklichkeit nicht mehr vorhanden war. Ich sah ihn hängen und sah ihn flattern, und diese Vision war so stark, daß ich nach der Figur griff und nur nacktes Metall berührte. Sonderbarer Spuk, der mich am hellen Tage verfolgte! Es trieb mich hinaus in die Droschke.

An diesem Morgen war mir schon vorher etwas Merkwürdiges passiert. Sophie hatte plötzlich den Wunsch geäußert, ihre Stellung aufzugeben. Sie habe mit Frau Doktor schon darüber gesprochen, ich werde es wohl schon wissen. Sie möchte auch die Gelegenheit meiner Abreise benutzen, um zu ihrer Mutter nach Schlesien zu fahren. Ich wußte von nichts, gab aber meine Zustimmung, um mich durch solche kleine Dinge nicht aufhalten zu lassen. Mir war es schon recht, wenn ich sie los wurde. Lina war ja noch im Hause, und so war nichts zu befürchten.

So reiste ich also ab.

Es war schon Abend, als ich den Zug verließ. Noch eine kurze Stunde war über Land zu fahren, und so erwartete mich mein Vater. Es hatte am Nachmittag geregnet, und nasser Dunst hing über Wiesen und Äckern, als die zwei Braunen vor der alten Kalesche schwerfällig ihren Trab-Trab machten.

Mein Vater drehte sich lange um den wunden Punkt. Mit Absicht schien er meine Gedanken ablenken zu wollen, denn er deutete nach rechts und links, sprach von der Ernte, von diesem und jenem und kam dann auf Berlin zurück. Ich sah seinem Gesichte nichts Schreckliches an, und so fügte ich mich in das Unvermeidliche. Ich betrachtete seine Umständlichkeit wie eine Art Einleitung zu seiner übernommenen Mission, von deren Erfüllung er mir nun berichten werde. Und es gefiel mir, mich noch eine Weile in der Hoffnung wiegen zu können, daß alles gut vollbracht sei.

Endlich aber wurde ich doch unruhig. Als ich ihm nun mit meiner direkten Frage auf den Leib rückte, sagte er: »Mein Junge, du mußt auf alles gefaßt sein.«

»Auf Schlimmes?«

»Sehr Schlimmes.«

Er blickte unter dem Verdeck hervor, hinaus in die Ebene, wo die Bäume im Nebel schwammen und hin und wieder ein Kirchturm wie ein dunkler Schatten zum Himmel ragte. Meine Stimmung litt unter dieser Landschaft, deren Anblick alle Freude nahm. Und so waren es nur schwarze Gedanken, die mich beherrschten. »Sie wird ihm alles gestanden haben, und er fürchtet sich, es mir zu sagen,« dachte ich. Die Hufe der Pferde klapperten, der rechte Braune schnaufte, und Dampf stieg von den Tieren auf. Sie gingen nun schneller, als witterten sie meine unruhige Seele. Im Fluge zogen die jungen Pappeln an uns vorüber.

»Das ist ein Moor, das furchtbar echt ist,« sprach mein Vater wieder.

Dieses »furchtbar echt« war eine seiner Redensarten, die etwas Außerordentliches bedeuten sollte. Hier, schon nahe seiner Scholle, ließ er sich gehen, regte sich schon der halbe Bauer. Mich ärgerte seine Gleichgültigkeit, wo er doch wissen mußte, daß ich wie auf Kohlen saß.

»Was macht denn die Krankheit?« fragte ich wieder.

»Ist all' vorüber, mein Sohn, ganz vorüber.« Er neigte den Kopf tief und entzog mir sein Gesicht. Es war mir, als schrumpfte sein Oberkörper zusammen, als wollte er sich ducken vor mir, der ich nicht die Zeit hatte, abzuwarten.

»Aber so rede doch endlich, du weißt doch, was ich will,« sagte ich wieder aufgebracht.

»Ja, mein Junge, du wirst wohl nicht mehr viel wollen können,« gab er zurück, aber leise, wie selbst unter einer Last leidend.

»Also ist alles wahr?«

»Ich weiß es nicht, mein Sohn. Da sind wir ja.«

Die Oldenburger hatten zuletzt immer kräftiger ausgeholt, und so war die Kirche, die am Anfang des Dorfes lag, plötzlich gespensterhaft aus dem Nebel aufgetaucht. Hinter ihr lag das Pfarrhäuschen. Die erleuchteten Fenster nahmen sich wie große, hängende Lichter aus, die rote Strahlen gaben.

Der Wagen hielt. Die Sträucher und Blumen des Gärtchens waren in Naß getaucht, und der Boden quietschte unter unseren Tritten. Alles kam mir elend, verzaubert vor, wie ein unbekannter Ort, der zu einer Gruft führt. Kein freudiges Heimatsgefühl durchströmte meine Brust, und doch waren kaum drei Jahre vergangen, wo ich hier in Knabenerinnerungen geschwelgt, wo ich mit jeder Blume gesprochen hatte, wo die alte Linde meine vertraute war, wo jeder Baum und jeder Strauch die Bedeutung von verflossenen Jahren hatten.

Kirchhofsstille herrschte. Im Dorfe drüben, das man nicht sah, schlug ein Hund an, und heiser kam das Gebell durch den Nebel.

»Wo ist Hans?« fragte ich, noch bevor wir eintraten. Ich hatte mir den Empfang anders gedacht, lieblicher und rosiger. Wenn auch nicht von der Natur, so doch von den Menschen. Ich vermißte die Stimme meines Jungen, sein Lärmen und sein Johlen, »wo ist er?« fragte ich nochmals.

»Keine Sorge, mein Sohn. Drüben beim Müller. Gut aufgehoben. Er wollte so gern mal hin. Bald holen wir ihn ... Er braucht es aber noch nicht zu wissen,« rief er dem Kutscher zu, der von der Mühle war.

Die Pferde zogen wieder an, und der Wagen quietschte langsam weiter.

»Nun, mein Junge, habe ich dir 'was zu sagen,« begann mein Vater wieder und erfaßte meine beiden Arme. »Bleibe fest und standhaft, denn so will es unser Herr.« Seine Stimme sank, mit einem gewaltsamen Ruck sprach er dann weiter: »Du wirst sie nicht mehr sehen, denn sie ist tot. Gottes Wege sind wunderbar, und sie hat einen seiner Wege genommen. Ob es der rechte ist, das bleibe dahingestellt. Denn die Toten soll man nicht mehr richten.«

Er hielt mich kraftvoll aufrecht, und während ich wirre Worte hervorbrachte, konnte er nicht mehr an sich halten. Er neigte sein Haupt auf meine Schulter und hielt, mich so fest umschlungen. Und dabei empfand ich, daß es ihm nur um mich zu tun war, daß er mich trösten wollte, daß er mir Kraft geben wollte, alles in Ergebenheit zu tragen.

Aufrecht stand er wieder vor mir. »Erschrick nicht noch einmal,« sagte er wieder. »Aber du mußt nun alles wissen. Sie hat Gift genommen. Sie muß es bei sich geführt haben, denn hier konnte sie es nicht kriegen. Zufällig war der Landdoktor hier, und wir gaben ihr gleich Gegenmittel. Wir wollten es dir nicht erst schreiben, denn es war schon beinahe gut, aber nun ist es doch so gekommen, heute früh um fünf tat sie den letzten Atemzug. Nun gib mir die Hand und komm', aber leise, leise. Auch die Toten wollen schlafen.«

Nun traten wir ins Haus, in diese niedrigen Räume, wo der Geist meiner seligen Mutter noch auf weichen Sohlen schlich. Die alte Olga kam herbeigetappt und steckte die Lampen an. Dann hatte sie uns wieder verlassen.

Die Tote lag im Schlafzimmer, dort, wo sie gestorben war. Man hatte sie bereits zum letzten Gange angekleidet, blütenweiß. Wilde Rosen steckten zwischen den starren Fingern. Und auch zu Häupten hatte der Vater die roten Wildlinge um ihr dunkles Haar gelegt. Ihre wachsbleichen Züge waren nur wenig verzerrt, wie von schwerem Leiden. Sonst lag noch die alte Schönheit auf ihrem Gesicht.

»Laß mich allein,« sagte ich, und er ging. Ich stand vor ihr tränenden Auges und betete – betete lang und heiß: für ihren Sohn und für ihre ewige, ungestörte Ruhe. Ich dachte nicht mehr an das, was sie mir vielleicht getan hatte – ich sah in ihr nur die sterbliche Hülle meines Weibes, das ich geliebt hatte, der Mutter meines Kindes.

Seltsame Gedanken kamen mir dann. Sollte sie einst so an meinem Lager gestanden haben, wie ich an dem ihrigen, Erfüllung ihrer Wünsche webend, so hatte sie wohl auch gewußt, weshalb sie ewige Ruhe suchte.

Es war am anderen Tage, und ich war gefaßter geworden? Was hatte sie zu dem unseligen Entschluß getrieben? Mein Vater wußte es nicht. Oder wollte er es nicht wissen? Fast schien es mir so, denn seine Antwort war nicht klar und gerade. Er zeigte plötzlich eine Verschlossenheit, die er sonst nicht hatte. Er zog sich sozusagen in sich zurück, verkrümelte sich mit seinen Gedanken. Es sei ja nun alles vorüber, meinte er und benutzte immer dieselben Worte als Schanze. Und als ich ihn direkt fragte, ob sie ihm ihre Schuld gestanden habe, wurde er unwirsch und verwies es mir, noch jetzt davon zu sprechen. Ungemütlichkeit sprach aus ihm, die plötzliche Laune eines alten Mannes, der nun selbst für seinen Seelenfrieden fürchtet. Ich fragte nach Briefen, die sie bekommen hätte, und er blickte mich prüfend an; dann aber zuckte er mit den Schultern. Es war immer dasselbe: »Vorüber, mein Sohn, es ist vorüber. Den Toten soll man nur Gutes nachreden.« So wie ich aus ihr nicht klug geworden war, so wurde ich aus ihm nicht klug.

Sie sollte hinter der Kirche begraben werden. Mein Vater hatte es angeregt, und ich hatte nichts dagegen. Schon als wir vor drei Jahren hier waren, hatte sie diesen Dorffriedhof, umringt von der kleinen Mauer, auf der die Vögel zwitscherten, so schön gefunden.

Am anderen Tage war sie aufgebahrt zum letzten Gange. Wildlinge des Gartens und des Feldes umschlossen als Girlande ihren Sarg, und oben lag ein Kranz von roten Kosen. Und immer aufs neue brachten die Kinder des Dorfes Blumen in Hülle und Fülle. Wir hatten es nicht weit; nur die wenigen Schritte aus dem Hause. Es war am späten Nachmittage und bei schönem Wetter. Das halbe Dorf war versammelt, darunter der Schullehrer, der Müller und der Wirt vom Kruge. Sie alle wußten nicht, was sie getan hatte. Und auch mein Junge nicht, dem alles noch wie ein Märchen war. Die Kirchglocke läutete hell, als sie hinausgetragen wurde. Die Gruft war oben an der Mauer, hinter der der Horizont sich dehnte. Mein Vater sprach am Grabe, umringt von seinen Bauern.

»Ziehe hin in Frieden, von Gott gegeben und von Gott genommen. Du hast Leid getragen, und nun ist alles Leid von dir genommen. Denn das ist das schönste am Tode, daß er leichter ist, als Erdenlos. Vor drei Tagen noch sah ich dich Blumen pflücken, und nun liegen sie gebrochen auf deinem Sarge, die toten Blüten aus der toten Schwester. Denn eine Blüte warst du noch, an Jahren, an Frische und an Lebenslust. So muß alles einmal hinwelken, in Natur erstanden und in Natur erloschen. Du gehst den Weg deines Heilandes Jesu Christi, der die Dornenkrone des Leidens trug, der da groß im Helfen und groß im Vergeben war. Denn von allen Leiden ist das Mitleiden das erhabenste und größte. Und wer das Mitleiden nicht kennt, der hat nie selbst gelitten. Und so du es verdient haben solltest, so breite ich es über dich als den Schleier unvergänglicher Liebe, die ewig währen soll. Ziehe nun hin wie die scheidende Sonne, die untergeht und doch nicht verschwindet, die mit ihrem Lichte ewiglich die Welt erwärmt. So wird uns die Erinnerung an dich erwärmen. Und so du zurückkehren solltest zu uns, so geschehe es in neuem Lichte, strahlend, wie du uns verlassen hast. Amen.«

Ich wußte, daß er nur für mich gesprochen hatte, und daß all' die Bauern, die ihn umringten, nur die Statisten waren, die den Kreis beleben sollten. Und als ich ihn so stehen sah, hoch aus dem aufgeworfenen Hügel, im langen, schwarzen Talar, wie seine mächtige Gestalt sich frei vom Horizont über der Mauer abhob – da erschien er mir mehr, als nur mein Vater. Da wuchs er ins Riesenhafte, ins Unendliche, wie der ewige Glaube selbst. Und ich fühlte mich immer kleiner vor ihm, ins Wesenlose versetzt, bis ich mir wie sein verkümmerter Sprößling vorkam, der kaum mehr Fleisch von seinem Fleisch und Geist von seinem Geist war.

Und ich faßte nach meinem Sohne, der wimmernd zur Seite stand, preßte ihn mild an mich, heimlich bittend, er möchte so groß werden wie jener Greis dort oben.

Es war alles vorüber. Tage waren vergangen. Der frische Hügel war erstanden, und duftige Blumen türmten sich aufs neue. Und wieder war es abends, als wir durch die Felder gingen, nun zum letzten Abschied gerüstet. Unten an der Biegung der Dorfstraße hielt dieselbe Kalesche, die mich gebracht hatte und die uns nun zur Bahn führen sollte.

Der Sommerabend brach herein. Verglimmend lag die Sonne über der Ebene. Da blieb ich mit dem Alten zurück. Mit keinem Worte mehr hatten wir über vergangenes gesprochen.

»Hör' 'mal, mein Sohn,« begann er plötzlich, »da fällt mir etwas ein, worüber ich schon lange gegrübelt habe. Es betrifft deine Frau – Gott laß sie selig ruhen. Falls alles wirklich so gewesen sein sollte, wie du nicht geträumt zu haben glaubst – verstehe mich nur richtig – hatte sie da nicht schon ein gewisses Recht, über ihre Zukunft zu verfügen? Und auch über sich selbst? Sie hielt dich doch für tot. Denke einmal darüber nach.«

Ich sah ihn verwundert an. Kannte er ihre Schuld?

»Und was vordem war?« fragte ich.

Er machte eine große Handbewegung und schwieg sich aus. Erst nach einer Weile sagte er wieder: »Es sollte ja nur eine Annahme sein. Beileibe nichts anderes. Sie war rein. Das mußt du glauben. Deines Sohnes wegen.«

»Hat sie's dir gesagt?«

Er machte dieselbe Handbewegung. »Die Toten schweigen.«

»O, du großer, weiser Pastor. Du machst dir deine Sache leicht.« Bitter kam es über meine Lippen.

Er blieb ruhig wie zuvor. »Das Leben ist wie ein Traum, mein Junge. Bald ein guter und bald ein böser. Wenn du es so betrachtest, wirst du bis an dein Ende glücklich sein. Forsche nicht weiter, sondern sieh, was du siehst. Aber glaube! Wer die Wahrheit hört, ist glücklich, wer sie nicht erfährt, ist noch glücklicher. Ich bin weder ein weiser, noch ein großer Pastor. Aber ich bin Mensch. Auch nur einer von vielen. Ein Furchentreter auf dem Acker des Herrn. Und wenn ich mehr trete, als die anderen, so kommt es vielleicht daher, weil ich größere Füße habe.«

Er lachte über seinen eigenen Witz. »Im hohen Konsistorium sitzen Größere, die lassen sich auch öfter die Haare schneiden, als ich. Dafür bin ich auch demütiger und scheue nicht den Schmutz der anderen. Nun lebe wohl, mein Junge – und du mein herziges Kind. Fahret mit Gott und mit der Eisenbahn.« Er war unverwüstlich bis zum letzten Augenblick.

Wir saßen im Wagen, der langsam davonrollte. Der Junge schrie zum Abschied, und ich winkte mit dem Taschentuch. Die Sonne war im Neigen. Ein roter Streifen lag über dem Horizont, und über dem fernen Moor schwamm es wie violetter Dunst. Himmlische Ruhe herrschte. Eine späte Lerche stieg auf, tirilierte und wiegte sich hoch in der Luft.

Ich blickte rückwärts. Mein Vater stand barhäuptig und blickte nach uns. Er winkte ebenfalls mit seinem roten Taschentuch, dann ging er langsam weiter, den schmalen Steg entlang, der die Felder trennte. Und als ich ihn erblickte, wie er gebeugten Hauptes weiterschritt, im Ehrenkranz seines grauen Haares – da beneidete ich ihn und seine einsame Größe, die mir geheiligt erschien, weltentrückt, die Menschheit verachtend, die Menschen liebend. Er schien mir wie Christus selbst, der durch die Ähren wandelt und die Jünger verloren hat ...

Wir waren zu Hause, der Beileidssturm war vorüber. Niemand ahnte, was geschehen war. Da durchsuchte ich die mitgebrachten Sachen der verstorbenen. Mein Verdacht war erloschen, nicht Neugierde plagte mich, nur die Andacht verlorener Liebe bewegte mich. Ein Brief ohne Kuvert lag unter Kleinigkeiten. Es war eine gedruckte Verlobungsanzeige, zur Hälfte abgerissen. Die Namen waren nicht mehr zu lesen. Das Papier war zerknittert, befleckt, als hätten Tränen es benetzt. Der Gedanke kam mir, daß in ihm die treibende Kraft zu ihrem Tode gelegen haben könnte, daß ihr Schrei »du lügst« ihr aus dem Herzen gekommen sei. Dann hätte sie ihn geliebt gehabt und wäre selbst die Betrogene gewesen.

So wußte mein Vater doch vielleicht alles, hatte es vielleicht hier in der Wohnung schon gewußt, hatte ihr vergeben und wollte nur mich in gutem Glauben erhalten. Denn wer das Übel vergrößerte, heilte es sicher nicht.

Noch einmal packte mich heller Wahn, dann grübelte ich nicht mehr und fragte nicht mehr: »Was ist Wahrheit?« verfolgte mich noch das Phantom, dann sollte es wohl so sein, dann hatte mein Vater wohl recht: »Das Leben ist ja nur ein Traum.« Und ich wollte so weiterträumen, um meines Jungen willen, den Blick nach oben gerichtet, wie es der Alte auf der Heide tat.

Typographmaschinensatz
der Deutschen Buch- und Kunstdruckerei,
G. m. b. H., Zossen–Berlin SW. 11.

 


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