Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel 9.
Unter Rüben und Nummern

Ich setzte mich wirklich nun hinter die Bücher. So schwer mir's auch ankam. Die unheimliche Aufnahmeprüfung! Nur gut, ich hatte Leidensgefährten, denn wir alle vier mußten hin.

Der Alleswisser konnte lachen: »Der kommt sicher durch,« hieß es. Ebenso der Müllersohn, bei seinem Fleiß. Jedoch Karlchen Berkebusch und der Durch- und aber Durchgefallene?

Der Küster hatte die allgemeinen Bestimmungen jetzt immer aufgeklappt in der Hand, und so wurde gepaukt, geochst, gebüffelt, es war ein Hundeleben! Statt im Schlafrock kam er zuletzt sogar in seinem guten Pfeffer- und salzfarbenen Schoßrock in die Stunde und mit Schaftstiefeln an den Plattfüßen statt der gestickten Morgenschuhe. Wie ein Schwan am Lande stand er vor uns da. Ganz zuletzt sogar auch ohne seine lange Pfeife, und o weh, das war für ihn die härteste Kasteiung, er verstand nun, wie der Henker im Amt, auch nicht mehr den geringsten Spaß. –

Den Alleswisser haßte ich zuletzt wie den Teufel. Trotz seiner Taternhaut, seiner struppigen Haare, seiner Glotzaugen – alle Mädchen waren in ihn vernarrt, und auch das rehschlanke Fiechen, so schien es. Das aber liebte ich!

Das rehschlanke Fiechen war ein Tanzgenie, und mit meinen Beinen, tanzgeübt und ansehnlich und überhaupt das beste an mir, warb ich zunächst um ihre Gunst. Bei einer Tanzfestlichkeit holte sie mich in der »Damenwahl« einmal. Mir war, als tanze ich, ein plumper Käfer, mit einem Schmetterling. O Graus, sie kommt durch meine Schuld schmählich zu Fall, und: »Du Klutentramper,« zischt sie mich an! Das saß, damit war's gleich besiegelt, meine erste Liebe war unglücklich. Aus einem Kirschbaum schrägüber ihrem Elternhause spähte ich manche Stunde nach ihr aus, bis manchmal mir die herabbaumelnden Beine einschliefen. Sogar im Winter, mochte Schnee liegen fußhoch und der Wind unter mir hinpfeifen. Sie war dann lange bei ihrer Erbtante zum Besuch. In »der Privat« sehe ich sie plötzlich wieder. Noch viel schlanker und schöner ist sie geworden. Reizend steht ihr das halblange und mit Kleeblumen büschelweis gemusterte Kleid. Ihre zierlichen Ohrmuscheln, durch die das rote Blut schimmert, die kirschroten Lippen, ach, und wenn sie sie öffnet, ihre silberne Sprache! Über der Oberlippe, unterhalb des linken Nasenlöchleins, hat sie ein wunderfeines, sanftumhaartes Muttermälchen, und das bildet in meinen verliebten Augen geradezu den eigenartigen Mittelpunkt ihrer Schönheit.

Fiechen war gescheit, überhaupt sie war die Vollkommenheit selber. Nur ihr so spöttisches Lachen versetzte mir immer einen heimlichen Stich oder vielmehr Biß ins Herz, nämlich durch ihre da immer sichtbaren spitzen und scharfen Mäusezähnchen. Natürlich würde sie auch musikalisch sein, folgerte ich. Als ich nach langem Drucksen sie einmal fragte, ob sie die himmlischen Variationen der göttlichen A-dur-Sonate von Mozart kenne, da erhielt ich keine Antwort, sie zeigte mir nur spöttisch ihre Mäusezähnchen.

Mit ihrer Fixigkeit im Kopfrechnen beschämte Fiechen manchmal sogar den Alleswisser, überhaupt die beiden stritten sich immer, und dessen freute ich mich heimlich, bis der Durchgefallene mir einmal zublinzelt: »Was sich liebt, das neckt sich!«

Ha, Gift und Kugel, Strick und Dolch!

Dennoch keimte bald wieder die Hoffnung. Der Alleswisser ließ sich statt der ortsüblichen Schaftstiefel ein Paar feine Stiefeletten machen. Oh, ich durchschaute ihn! Gleich bestellte ich mir noch viel elegantere, und die Verliebtheit schlug mir damit wieder in die Beine zurück, die ließ ich wieder und natürlich mit den blitzblank gewichsten Stiefeletten aus dem Kirschbaum baumeln. Nach einiger Zeit verfiel ich auf etwas anderes. Ich läutete, die anderen ablösend, immer die kleine Glocke, leise, innig, aber auch mit Vehemenz und immer äußerst rubato. Gewiß, sie wird mich verstehen. Der erzürnte Küster aber schickte alsbald den Alleswisser – ha, just den! – herauf, daß er mir zeige, wie man vernünftig zu läuten habe. – Danach spielte ich in der Kinderlehre, wo Fiechen niemals fehlte, wild und leidenschaftlich und mit vollem Werk die Choräle, mochten sie auch ausdrücken Zerknirschung, Buße, Reue und Todesnot. Nicht einmal aber schaute sie herauf mit besonderen Blicken, der ich sie – ich spielte auswendig – im Winkelspiegel unausgesetzt beobachtete. – Nach hoffnungslosen, langen Monaten plötzlich ein voller Sonnenstrahl des Glücks! Fiechen trat in Schwester Wieschens Nähschule ein, und so brauchte ich nun freilich kein Kirchenschänder mehr zu sein, jetzt konnte ich's bequemer haben. Unsichtbar aber machte ich mich immer. Ich spielte Klavier nebenan. Mit der Räubersonate warb ich um Fiechens Gunst. Ich hatte aber auch schwachmütige Anwandlungen und spielte das Frühlingslied von Mendelssohn. Was aber hörte ich: Fiechen mache sich nur lustig über meine »heil und ganz verrückte Klimperei«, es wäre nicht zum Aushalten.

Und nun die letzten Wochen meiner Präparandenzeit. Sie kommt nicht mehr in die Privat. Auch nicht mehr in die Nähschule. Morgen aber ist Schützenfest, und da wird sie tanzen! Ach, ich aber – verschanze mich hinter meinen Büchern. Schließlich – am späten Nachmittag halte ich's nicht länger mehr aus. Hin! Mein Weg führt mich durch die Wiesen, und die stehen herrlich in Gras und Blumen. Hahnenfuß, Günsel und Gundel und Schaumkraut, all das bunte, liebe Wiesendurcheinander. Ich zögere – und ich schlendere am Wiesenrand hin, und Männertreu pflücke ich, Vergißmeinnicht. Auf eine Anhöhe nun und ans Moor. Eine Gruppe schöner Hängebirken ragt hier auf, umkraust von Brombeerranken. Die Sonne ist im Verglühen und blutrot darob das Moor. Alles Glut, wohin ich auch schaue. Mücken tanzen durch die Luft. Kleine schwarzrote Schmetterlinge suchen und finden sich. Ein Pärchen Libellen, in Liebe miteinander vereint, segelt langsam an mir vorüber. Deutlich kann ich vom Schützenzelt die Tänze hören. Folgt einem Rheinländer jetzt ein aufwühlender Walzer. Die Violine, sie wispert, kichert, sie schluchzt und weint, und sie kost wieder, jauchzt, rast. Darunterhin das Runksen des Basses. Und nun die Trompete, anspornend, mutmachend. Mein Blut schäumt mir durch die Adern. Zu ihr, die Blumen ihr überreichen, Männertreu und Vergißmeinnicht, und mit ihr tanzen, bis zum Tothinfallen!

Ich bin am Zelt. Sofort erblicke ich sie. Schnell! Da aber – der Alleswisser, jawohl, wer zuerst kommt! Ich aber stürze hinauf zu den Musikanten, ich reiße mir eine unbenutzte Fiedel von der Wand und spiele ihnen mit auf, den beiden, mir selbst zum Hohn und der ganzen Welt. Ich geige alles grell eine Oktave höher. Als der Tanz zu Ende ist, hänge ich die Fiedel wieder hinter mir an den Nagel, und ich laufe zurück in die Wiesen, an die Birken und weiter über den Knick und tief hinein ins einsame Moor.

* * *

Unheimlich naht jetzt die Prüfung. Der Durchgefallene mußte immerfort von seinen ausgestandenen Martern ausführlich erzählen. Sonst ein Schweiger und speckiger Druckser – die große Angst löste ihm die Zunge. Die allerschwersten Fragen stellten »sie«, über Dinge, die in unseren Büchern überhaupt nicht drin stünden. »Paßt man auf, daß sie uns alle vier durchfallen lassen, is bombensicher!«

Worauf trotzig der Alleswisser: »Nu, das wollen wir doch erst mal darauf ankommen lassen!«

Ich aber erblaßte, zuckte zusammen.

Endlich war's so weit. Hochsommer. Die Weidenröschen blühten, Teufelsabbiß und Katzenkäse und am Bach die Minzen. Man beschloß, zur Bahnstation zu gehen, um die teure Post zu vermeiden. Der Küster begleitete uns ein Stück Wegs, er ging noch verschiedene, besonders schwierige Themata und Wissensmaterialien, wie er sich ausdrückte, mit uns durch. In der rechten Hand hielt er die allgemeinen Bestimmungen, statt seines pompösen Spazierstockes mit dem geschnitzten Hundskopf, in der Linken seinen schwarzen Sommerhut, aus gesteiften Roßhaaren, denn es war schwül, und der Küster schwitzte wie ein Bulle. Ein Gewitter stand am Himmel. Das paßte gut zu unserer Stimmung. Zuerst aus dem Katissen das schwierige Kapitel von der Rechtfertigung durch den Glauben. Danach fragte er uns die Schlachten des Siebenjährigen Krieges noch einmal ab. Der Durchgefallene nämlich versicherte mit zitternder Stimme, sie wären beide Male darangekommen. Ferner die Nebenflüsse der Aller und Leine, und die höchsten Berge im Harz und in Spanien, die wichtigsten Flüsse, Berge und Städte: auch danach würden sie sehr wahrscheinlich wieder fragen.

»Gehet mit Gott! Haltet man den Daumen steif! Laßt Euch nicht verblüffen!«

Ein Wunder geschah, wir alle vier kamen durch. Ich gab die erste Depesche meines Lebens auf:

»Examen glänzend bestanden. Karl Berkebusch, Seminarist.«

Obgleich es mit dem Glanz nur so-so war. Denn im Rechnen, wahrhaftig, hing's an einem Haar mit mir, und wenn mein Nachbar, ein guter Rechner, dem ich allerdings vorher mit den Flüssen in Spanien ausgeholfen hatte – sie kamen wirklich dran –: wenn der mir nicht die Lösungen zugeflüstert hätte, wer weiß, was geschehen wäre.

Und der Triumph nun unserer Rückkehr! Mit der Post jetzt! Betrunken stellten wir uns, als wir ausstiegen, und wir grölten die bei der »Einseifung« gelernten Kneiplieder. Die »Einseifung«, ja, die hatte uns einen Vorgeschmack vom Seminaristenleben gegeben! Gleich nach der »Verkündigung« machten sich einige der Herren Seminaristen an uns heran, und man forderte herrisch uns auf, uns zur »Einseifung« am Nachmittag bereit zu halten. Natürlich hatten wir neuen »Füchse« den »Burschen« zu gehorchen. Schon aus Klugheit. Denn im Seminar stand dem Fuchs bevor zunächst, »gezwiebelt« zu werden.

Hinaus ging's, wegen der »Pauker« heimlich und in kleinen Gruppen, in ein benachbartes Dorf, das wurde »Lütjen Elend« genannt. Die »Burschen« – die Seminaristen vom Mittelkursus – hatten alles klug angeordnet. Auch einige »Alte« vom Oberkursus beteiligten sich, ehrenhalber. In einem versteckt gelegenen Wirtshaus wurde »ein Achtel aufgelegt«, und das hatten wir neuen Füchse natürlich zu »berappen«. Bunte Verbindungsbänder tragen die Herren Burschen, Kneipmützen, und aus langen Studentenpfeifen rauchen sie. Getrunken wird aus zwei gläsernen Stiefeln, nach dem Kommando des »Präses«. Kneiplieder erschallen. Die Posten zwischendurch melden: »Keine Pauker in Sicht!«

Zuletzt erbraust ein Rundgesang:

»Rund – Rund – Rundgesang und Rebensaft
Lieben wir ja alle,
Darum trinkt mit Mut und Kraft
Schäumende Pokale.
Bruder, deine Liebste heißt?«

Ich nehme das tiefernst. Mir schlägt das Herz, oh, auch ich soll nun mein tiefstes, süßes Geheimnis verraten. Bald muß die Reihe an mich kommen. Vorher aber ergeht an – den Alleswisser die Frage. Der steht auf und glotzt höhnisch mich an:

»Fiechen!«

Er wagt es!

»Tausend Küsse hat sie dir dutzendweis gegeben, Fiechen, sie soll leben!« grölt der Chorus.

»Sequens Berkebusch!« Trotzig wie ein Gewappneter erhebe ich mich, und:

»Fiechen!« antworte ich ebenfalls.

Der Präses haut auf den Tisch: »Ex! Zweimal Fiechen, geht nicht, nur einer kann Fiechen lieben und tausendmal küssen!«

Ich bin entsetzt, damit hätte der Alleswisser ja gewonnen, wäre Fiechen ihm förmlich zuerkannt! Nimmermehr!

Aber der edelgesinnte Präses sieht meinen Schmerz: »Sie sollen sich schießen, die Gegenbuhler, einen Bierjungen sollen sie ausfechten!« Und er kommandiert: »Eins, zwei, drei!«

Wie ein Walfisch schlucke ich los. Ich komme vor, ich siege!

»Bravo!« Und: »Fiechen, sie soll leben, tausend Küsse hat sie dir dutzendweis gegeben!«

Oh, das erfüllt mein Herz mit Hochgefühlen. Der überwundene Gegenbuhler aber, der freche Bengel, macht mir eine lange Nase. Voller Wut hole ich mit dem Bierglas auf ihn aus, ich will ihn zermalmen! Mir ist aber mit dem Schwunge meines Armes, als flöge ich. Tue ich auch – kurzum, ich falle ab. Hinaus. Draußen, an der Luft, unter einem Apfelbaum liegen schon verschiedene Abgefallene. Ich kann nicht leben und nicht sterben. Endlich, Gott sei Dank: die – Erleichterung!

Im selben Augenblick entsteht ein großer Tumult: »Drei Pauker,« höre ich rufen, »rette sich, wer kann!«

Jedennoch zu spät! Der »Alte«, nämlich der Herr Direktor selber, und noch zwei andere Pauker – »Peso«, der Mathematiklehrer, und »Pause«, der Musiklehrer, haben sich herangepirscht, und sie stehen da wie drei zornflammende Propheten des alten Bundes. Als die Burschen zusammengeschmettert sind, wendet sich der Alte an uns neue Füchse. Auch der allerkränkste ist vor Schreck vollständig nüchtern geworden. Eigentlich hätten wir verdient, daß er uns nochmals die Aufnahmeprüfung machen ließe. Aber wir wären die bedauernswerten Verführten, immerhin, und so wolle er uns gegenüber Gnade für Recht ergehen lassen.

Die Einseifung nahm damit einen sehr niederdrückenden Abschluß. Die bunten Verbindungsbänder, die langen Pfeifen wurden eingezogen, und die beiden gläsernen Stiefel aber zerschlug gleich vor aller Augen der Herr Direktor, ganz so wie der grimme Moses weiland die Gesetzestafeln.

* * *

Das Seminar, ein hochragender Bau aus grellroten Backsteinen, befindet sich in einem Landstädtchen, inmitten einer flachen Gegend. Keine Heide hier, nicht Moor, nicht Wald. Dagegen Rübenbau, soweit das Auge reicht. Statt Bäume ragen die Schlöte einer Zuckerfabrik gen Himmel auf, und auf den Straßen bewegen sich die dazugehörigen Ochsengespanne.

Draußen Rüben und drinnen im »Kasten«: – Nummern! Erhält nämlich jeder neue Fuchs gleich seine Nummer aufgeheftet. Eine Nummer ist er, und für nichts mehr wird er geachtet. Zehn »Buden« gibt's mit acht bis zwölf Insassen, und jede hat ihren »Senior«. Und so ein Senior, von der Oberklasse, ja, der kommandiert nur immer und hat es gut, die Füchse seiner Bude – nur den Mund braucht er aufzutun, allsogleich laufen sie, springen sie. »Fuchs 73, ein Glas Wasser! Fuchs 73, fix mir'n Brief auf die Post bringen! Fuchs 73, mir die Stiefel anziehen – mir den Hut bürsten – Mantel und Spazierstock holen!« Wehe und wenn gar so ein armer Fuchs die »Woche« hatte! Versah er etwas, erging's ihm übel, abgesehen vom unaufhörlichen »Zwiebeln« im allgemeinen! Ach Gott, er wurde »geledert«, »geschruppt, »gewendet, »gewickelt«, »geschwenkt, »gedroschen«, »gewalkt«, »geschoren«, es war schlimm! Daheim, im Elternhause, o du himmlischer Vater, wie hatte ich's gut gehabt, ich elende Nummer 73! Die Ochsen draußen hatten's besser wie im Kasten so ein erbärmlicher numerierter Fuchs. In den Stunden setzten die Lehrer in ihrer Weise das Schinden im großen Stil fort. Die Angst hier immer, ob man auch drankommen würde, beim »Alten« in der »Pädagogik«, ferner bei »Nante« – nach seinem Vornamen: Ferdinand – in der Grammatik, bei »Peso« in der Geometrie, bei »Ukas« in der Geschichte, bei »Lepus« – der Lehrer hieß als Mensch Hase – in der Naturgeschichte. Dagegen bei »Pause« die Musikstunde, die allerdings spendete mir einen Labetrunk, im Verschmachten.

Die großartigen Herren Burschen und Alten: ich war gleich die Zielscheibe ihrer Witze, das Opfer ihrer Hänseleien. Mein Unglück war, ich fiel sofort allgemein auf, schon durch meine hellblonden und wuseligen Haare, meine krumme Haltung, meinen wiegenden Gang, und besonders aber wegen meines linkischen Benehmens, und weil ich so ungeheuer unpraktisch war, vom Weltlauf so gar keine Ahnung hatte, und das verriet ich schon in jeder Miene, jeder Bewegung. Überdies hatte meine Bude 8 so einen extra bösen Senior.

Gleich in der dritten Woche war die »Biertaufe«, die eigentliche Antrittskneipe, und die war auch wieder, wie die Einseifung, in Lütjen Elend. Pfeifen, Bänder, Glasstiefel – ist alles inzwischen wieder ersetzt worden. Kein Pauker stört diesmal den Frieden. Als alles schon beschwipst ist, sagt einer: »Von Bude 8 der neue halbverrückte Fuchs aus der Lüneburger Heide ist ja wohl ein großer Musikant.«

»So soll er 'was steigen lassen!«

Ich wehre mich erst heftig dagegen. Aber man schleift mich ans Klavier, einen ausgemergelten Klapperkasten, mehr zur Aufbewahrung von Zeitungen und Spielkarten dienend, als zu sonst was. Ich spiele in meiner Verzweiflung statt der erwarteten Tänze, Märsche oder Gassenhauer, die – Räubersonate.

Allgemeine Verblüffung darob. Es scheint erst, als bändige Beethoven die Roheit. Als man nun aber meine wild-genialischen Verrenkungen gewahrt, ergießt sich über mich eine Flut von Witzen. Man macht alles mir gleich nach. Dennoch spiele ich weiter. Ein Wunder, denke ich, soll geschehen durch Beethoven. Jedoch ich täusche mich. Rohe Fäuste trommeln plötzlich über mich weg den Kosakenrutscher in die Räubersonate hinein, in einer falschen Tonart und just bei der schönsten Stelle. Damit massakriert man den großen Beethoven. Mir ist, als müßte ich wie Simson das ganze Haus zusammenreißen auf die elenden Philister.

Plötzlich zieht einer mir den Stuhl unterm Leibe weg. Ich stürze mit fürchterlichem Getöse vornüber in die Tasten. Zugleich gießt man mir ein Glas Bier über den Kopf und tauft mich: »Musikant!« »Musikant ist danach mein endgültiger Spitzname.

Auf Bude 8, unter dem bösen Senior – ach, mir war, als hätte sich hier alles gegen mich verschworen, um meinen Untergang herbeizuführen. Was Wunder, daß bald das fürchterlichste Heimweh mich würgte.

Eines Tages schreibt mir Wieschen, die Schwester, Herr Justus habe gefragt, was denn meine Musik da mache? Ich weiß mir keinen anderen Rat, ich schleiche mich mit meiner Geige hinunter in eins der in der Abenddämmerung jetzt gerade unbenutzten Klassenzimmer, und hier mache ich meinem wehen Herzen Luft in Tönen. Darin vergesse ich mich und die Welt, und so merke ich nicht das Kommen des aufsichtführenden Lehrers. Es ist Peso, plötzlich steht er vor mir da, und ganz so wie ein finsterer assyrischer Oberpriester, der opfern will.

»Was treiben Sie hier in der Arbeitsstunde?!«

Ich schweige, voller Entsetzen.

»Musikant,« brummt er darauf in seinen schwarzen Assyrerbart hinein.

Am anderen Tage, in der Geometriestunde – entsetzlich, Peso ruft mich auf, er gibt mir Kreide und Zirkel in die Hand, und ich soll »beweisen«, den in der Stunde vorher durchgenommenen Lehrsatz. Ich starre abwechselnd blöd Peso, die Wandtafel, die Kreide und den Zirkel an.

»Musikant,« brummt er wieder und schüttelt den Kopf, und eine »Vier« malt er mir an, langsam und stakig, förmlich mit Wollust.

Auch die anderen Lehrer nahmen nach und nach mich scharf. Zuletzt sogar der Musiklehrer – ich merkte, er fing an, gegen mich zu erkalten. Das aber riß mich endlich herum. Ich rappelte mich empor und blieb auch fest, und so rückte ich auf zum Burschen, zum Alten. Mein Spitzname »Musikant« aber sollte zuletzt noch geradezu ein Ehrentitel für mich werden.

Eine große Lehrerversammlung im Seminar wurde mit einer musikalischen Aufführung festlich beschlossen. Auch ich sollte mich auf dem Klavier hören lassen. Nach einem einleitenden Chorliede sang der sehr gute und sonst auch viel bewunderte Senior von Bude 6 Schubertsche Lieder. Wie die mich entzückten! Besonders »Die Blümlein alle, die sie mir gab, die soll man legen zu mir ins Grab.« Dieser schwermütige Liebesgesang eines unglücklich Liebenden –: wie extra für mich gedichtet und komponiert! Überhaupt so schön hatte ich nie vorher singen hören. Denn Herr Justus, der Gefühlsmensch, es ließ sich nicht leugnen, er quetschte immer stark, vor lauter Gefühl, und vor lauter Gefühl brachte er auch nur selten ein Lied ganz zu Ende. In »Wenn dieser Siegesmarsch an das Ohr mir schallt« – gleich bei »kaum halt' ich die Tränen zurück mit Gewalt«: da liefen sie ihm auch schon. – Hatte nun gleich der grabliedhafte Anfang des Schubertschen Liedes, mit seinen hingeschluchzten Mollakkorden, mich unsäglich gerührt, so richtete am Schluß der Auferstehungsjubel mich aber auch wieder auf. Gewiß, ich habe heroisch entsagt, jedoch wenn einst sie vorüberwandelt an meinem Grabe, Fiechen – ach, möchten da neuaufblühen alle Blumen und ihr verkünden meine ewige Liebe!

Aus diesem starken Gefühl heraus spielte ich danach die Räubersonate – die hatte ich wieder gewählt – und errang damit einen großen Erfolg.

Die Schlußprüfung nahte. Darauf wurde natürlich mächtig gebüffelt, und nun gab eine Heldentat mir zu guter Letzt noch geradezu ein Ansehen. Einen Pauker führte ich an der Nase herum und rettete damit einen wichtigen »Bohrzettel«. Das nächtliche heimliche Arbeiten auf die Schlußprüfung bestand zuletzt zur größten Hauptsache darin, sich Bohrzettel anzufertigen, das waren handgroße Heftchen, die man im Ärmel verbergen konnte, um daraus gegebenenfalls »abzubohren«, hinterm Rücken des Vordermannes oder unterm Pult, oder schlau sonstwie. Besagte Bohrzettel wollten gemacht sein. Nur ein scharfer Kopf, der alles klar beisammen hatte, konnte sie gut und brauchbar herstellen. Sie bestanden in gedrängten Übersichten des gesamten Lehrstoffes, geschrieben klein und eng, mit besonders spitzer Feder, in schärfster Disponierung, mit vielen Unterstreichungen und Stichworten. Sie waren Gemeingut, vererbten sich von einer Generation auf die andere. Als ich nun einmal heimlich aufgeblieben war, um mir den Bohrzettel für Katechismus abzuschreiben, plötzlich höre ich: der aufsichtführende Pauker kommt. Herrgott, hätte der mich abgefaßt, das wäre durch den Verlust des unersetzlich wichtigen Bohrzettels schlimm gewesen für die ganze Klasse! Gott sei Dank, ich sitze wohlweislich unten, in einem der Klassenzimmer. Ukas ist's, ich kenn' ihn am Gange. Ich also mit dem Bohrzettel hinausgestürzt. Ukas mir nach. Hinunter in den Keller, ich sehe keinen anderen Ausweg. Ukas mir nach auch dahin. Hinter einem Pfeiler verstecke ich mich. Er kommt mir näher – er packt zu: aber ich habe Schwein, ich sehe, über mir das Kellerfenster steht offen, und mit der Kraft der Verzweiflung schwinge ich mich hinaus.

Vermittels der trefflichen Bohrzettel bestand ich die Schlußprüfung. In der Mathematik schrieb ich alles glatt ab. In der Pädagogik schwafelte ich mich so durch. Ja in einigen Fächern hatte ich sogar unbegreifliches Glück. Kurzum, ich machte ein ganz leidliches Examen.

Und nun in Lütjen Elend die Abschiedskneipe. Als wiederum der bewußte Rundgesang erschallt und der Alleswisser wiederum auf die Frage nach seiner Liebsten: »Fiechen« antwortet, da – ha! – bleibe ich kalt! Dieweil eine andere Flamme mir jetzt im Herzen brennt! Kurz vorher, in den letzten Sommerferien war's passiert, da hatte ich daheim eine gesehen, im alten Stammgasthause, eine gar Liebe, Schöne, Feine, Holde, brünett, voll, üppig, mit goldbraunen Augen, und sogar auch ein paar Worte hatte ich mit ihr gesprochen, ich war tiefbeglückt davon gewesen. Als nun auch an mich die Frage nach meiner Liebsten ergeht, antworte ich: »Adelaide!« Darob ein allgemeines »Ah« und »Oh« des Staunens! Jawohl!

Die verschiedenen Liebesflammen in den Tagen der goldenen Jugend zehren das Herz nicht auf, man stirbt nicht daran. Ich hab's erfahren. Man lebt weiter, entzünden an der ersten Flamme sich fortzeugend andere, und jede neue aber tröstet für die erloschene alte.


 << zurück weiter >>