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Kapitel 21.
Nebel und Wind

»Johotoho! Haiahei!«

Mein Verhältnis zu meinem Klavierlehrer wollte sich durchaus nicht freundlicher gestalten. So heißes Bemühen ich auch daransetzte. Denn wohl acht Stunden saß ich täglich am Draht und übte seine öden Fingerübungen. Meine Martern steigerten sich bis zur völligen Unerträglichkeit. Und dazu in eins die ganze, so klägliche Musenwirtschaft im Konservatorium! Nicht zuletzt auch meine Vereinsamung. Alle Anknüpfungen enttäuschten mich immer bald. Lauter Braatfische waren's mehr oder weniger, männliche und weibliche, gottähnliche Maulhelden.

So entschwand der Winter. Ostern überblickte ich meine im Konservatorium bereits verbrachte Zeit. Nutzen, mußte ich mir sagen, hatte ich aus den Stunden keinen gewonnen. Laboriere immer noch in den ersten phosphorgrünen Paragraphen herum. Immer wieder Rückfälle in meine verpönten alten Gewohnheiten. Bei meinen schmalen Mitteln, um Gottes willen, wo soll das hinführen? Überdies in der letzten Stunde vor den Ferien, wo ich's gewagt hatte, einmal zu widersprechen, wenn auch in aller Bescheidenheit, da – oh, du lieber Himmel! Ich halt's nicht mehr aus, nicht wieder in diese entsetzlichen Klavierstunden, nach den Ferien!

Dieser Art meine Betrachtungen, in der Frühe des Ostermorgens.

Plötzlich hängt mein Blick an meiner Geige fest. Sie liegt noch im Wachstuchfutteral und unter Staub und Spinnweben auf meinem Kleiderschrank, vom ersten Tage ab. Niemals hatte es mich gereizt, einen Strich über die Saiten zu tun. Mit einem Male aber bekomme ich Lust. Die Saiten, sehe ich, sind heil geblieben. Ich setze sie in Stimmung, ergreife den Bogen und streiche los. Das tut mir unendlich wohl. Und so komme ich in Feuer, ganz wie früher daheim, ach, als die Musik mir noch ein Göttergeschenk war.

Immer war ich im Zwiespalt gewesen, welches Instrument ich vorziehen möchte, ob Violine oder Klavier oder Orgel. Von früh auf – seit der Harzreise, der so folgenschweren – liebte ich die Violine eigentlich am meisten. Ich konnte auch schon viel darauf. Es war aber recht eigentlich eine unglückliche Liebe, voller Hemmungen, und die lagen in den Verhältnissen. Daß ich in den letzten Jahren die Tasten bevorzugte, geschah aus rein äußeren Gründen. Man brauchte einen Klavierspieler, und so mußte ich immer einspringen. So war's später auch beim Oberförster. Nach dem rettenden Legat – bis ganz zuletzt noch hatte ich geschwankt, und nur rein praktische Gründe gaben den Ausschlag schließlich. Ich glaubte als Klavierspieler für mein Fortkommen günstigere Aussichten zu haben.

Mich durchblitzt's: Umsatteln – Violine studieren! Und wär's auch nur, um als Orchestermusiker schnell unterzukommen irgendwo.

Je länger ich geige, desto fester meine Überzeugung: nicht in den Draht- in den Darmsaiten für mich das Heil!

Wie zur Bestätigung singt mein allerliebstes Rotkehlchen zu meinem Violinspiel so zauberisch schön wie noch nie, gefällt ihm mein Geigenspiel offenbar auch besser, und es gibt mir recht. Und dazu scheint die Sonne so freundlich in mein Fensterchen herein, die Ostersonne, ja und die gibt mir dazu ihren Segen.

Nachdem ich lange frei herumphantasiert hatte, fallen mir, als ich meine Violinnoten durchwühle, plötzlich die alten Kreutzerschen Etüden in die Hände. Rein zufällig sind sie gar lustig eingebunden, lieblich maiengrün, mit roten Musterchen – Blumen, Früchten und Sternchen. Das lieblich maiengrüne Notenheft der Hoffnung, voll freudiger Rührung betrachte ich's. Grün ist der Frühling, die Hoffnung! Wie will ich mit Lust darin üben! Das scheußliche phosphorgrüne Notenheft der Verzweiflung aber, auf dem Klavierpult, ha, das zerreiße ich in tausend Fetzen.

Im selben Augenblick fallen die Osterglocken ein, in vollen Pulsen, mächtig dröhnend über die ganze Stadt hin, das Wunder der Auferstehung neu wieder verkündend. Das hat den Faust getröstet und dem Leben wiedergegeben, sage ich mir, im Innersten davon ergriffen: »so gewinne auch du daraus Trost und wieder Glauben, Hoffnung, Zuversicht«! Jawohl, in den Darmsaiten für mich das Heil! Violine studieren, und zwar bei demjenigen Lehrer am Konservatorium, von dem ich schon verschiedene Schüler gehört hatte, und deren Spiel immer von einer gediegenen Schulung zeugte: bei Herrn Kammermusikus Lerchensporn!

Die ganzen Ostertage über geigte ich und in freudiger Genugtuung nichts verlernt zu haben, und voller Verachtung schaute ich zwischendurch, im Ausschnaufen, auf mein elendes Leihpianino herab und auf die phosphorgrünen Fetzen unten davor, ha, so hätte ich den großen Professor selber gleich mit zerfetzen mögen!

Ich ging zu Herrn Kammermusikus Lerchensporn, und als ich ihm vorgespielt hatte, blickten klar und gütig seine Kinderaugen mich lange an: »Sie haben's in sich. Starkes musikalisches Gefühl. Ihre Technik –? Nun, durch Fleiß läßt sich viel nachholen.«

Kammermusikus Lerchensporn war Junggeselle, hager, blaß, knochig, mit hohen Schultern und einer Hühnerbrust, ein völlig anderer Mensch wie der dämonische, große Klaviergewaltige, ein tüchtiger Künstler und Lehrer und dabei einfach, wohlwollend. Er behandelte mich richtig, er verstand mich und in meinen Vorzügen wie auch Fehlern. Er wandte mir sein besonderes Interesse zu. Ich durfte ihn besuchen, da spielte er mir vor, und er gab mir auch manchmal Extrastunden. Auch zum Essen lud er mich öfter ein, und er nahm mich auch mit aus. Über die großen Meister sprachen wir immer viel, und er wunderte sich über meine Belesenheit, meinen guten Geschmack.

Ein neues Leben jetzt, ersprießliches Arbeiten, der Alp war von mir ab, ich atmete wieder frei. Meiner Mutter daheim aber, wie auch Herrn Justus, hielt ich meine Umsattlung geheim. Um sie damit nicht zu beunruhigen, wie auch natürlich um damit dem Klatsch daheim nicht immer wieder neue Nahrung zu geben.

So kam ich glücklich jetzt vorwärts. O trügendes Morgenrot, plötzlich aber brach das entsetzlichste Unglück über mich herein! Infolge meines übermäßigen Übens entwickelte sich eine Neurose in meiner linken Hand, der Griffhand! Schonen hieß es da, immer wieder schonen, schonen! Und Massage wurde mir verordnet, Einreibung, nichts jedoch wollte helfen, es war fürchterlich, es war entsetzlich! Ich muß die geliebte Geige schließlich ruhen lassen, muß gänzlich mit dem Violinstudium wieder aufhören, meine Umsattlung ist vergeblich gewesen.

Die alten Gespenster, hei, nun sind sie wieder da! Ich überrechne meine Mittel, und mit Schrecken sehe ich, sie sind schlimm zusammengeschmolzen. Was aber beginnen? Ob so oder so, auf der Violine oder auf dem Klavier, vorwärtskommen muß ich. Nicht zuletzt sollen die Spötter daheim lachen. Hinein die Geige wieder ins Futteral und wieder auf den Schrank, in den Staub. –

Treibt die Angst mich endlich wieder ans Klavier zurück.

Ich versuche zu spielen, und es geht immerhin, mit der Rechten, der Bogenhand, geht's tadellos, mit der kranken Linken auch ganz leidlich. Die Haltung und Bewegung der Finger im Klavierspiel ist ja eine andere wie beim Geigen, weil andere Muskeln und Sehnen im Niederschlagen der Tasten sich bewegen. Ich schone natürlich anfangs noch möglichst die Linke und übe Technik mit der Rechten allein. So beschließe ich: zurück wieder an den Draht, notgedrungenermaßen, es bleibt mir ja kein anderer Ausweg. Natürlich zu einem anderen Klavierlehrer des Konservatoriums. Ich melde mich zu einem, der für Seyerichens Antipoden gilt. Ein dicker Herr, mit einem funkelnden, goldenen Kneifer auf der Stülpnase, ob den Hängebacken, mit funkelnden Ringen an den Würstelfingern, mit einer funkelnden, goldenen Panzerkette quer überm Leib, alles an ihm funkelt, und sogar auch viel Gold funkelt ihm aus dem Mund, wenn er spricht. Immer lächelt er und summt heitere Melodien vor sich hin. Er karikiert gern den großen Klavierprofessor, und »swienpolitsch« schaut er sich dabei um. Man versteht ihn schon. Natürlich läßt er grundsätzlich alles anders machen. Wie früher bekomme ich hier allerdings auch hauptsächlich technische Übungen und Etüden zum Üben auf. Ich merke aber bald, daß mein neuer Lehrer selber sich dabei langweilt, und überhaupt, ob man seine Sache gut oder schlecht macht, er bleibt in seiner faden Jovialität sich immer gleich. So finde ich auch hier keine Förderung im Klavierspiel. Zu einem dritten Lehrer nun aber noch überzulaufen, das widerstrebt mir denn doch. Und so spiele ich schließlich auf eigene Hand, was mir beliebt. Besonders viel Bach wieder. Damit betäube ich mich. Wenn die Gespenster hinter mir sich regen, angsterfüllt greife schleunig ich zum wohltemperierten Klavier, um damit sie zu bannen, und es bewährt sich auch manchmal als Höllensegen, das Wohltemperierte, das muß ich schon sagen.

* * *

Lange hatte ich der Versuchung widerstanden, die Oper öfter zu besuchen. Aus Sparsamkeit und auch mit, weil ich fürchtete, es könne bei meiner Leidenschaftlichkeit gleich gar zu sehr mich ablenken.

Die Oper in der großen Kunststadt genoß einen Weltruf. Das schon seit über hundert Jahren. Viele Größen – Komponisten, Sänger, große Kapellmeister und Instrumentalisten – hatten an ihr gewirkt und ihren Ruhm begründet. Selbstverständlich war ich schon einige Male in der Oper gewesen. Den Freischütz, den erschütternden Fidelio hatte ich gehört. Ferner den Don Juan, den von Rosenduft und Nachtigallentönen erfüllten Figaro. Von den Opern Wagners den Lohengrin, wie auch den fliegenden Holländer. Und zuletzt die Meistersinger. Die farbenreiche musikalische Schilderung der alten Zeit in den Meistersingern hatte mich entzückt. Die wundersame, stille Einleitung zum dritten Akt hatte mich zu Tränen gerührt. Nicht minder ergriffen hatten mich das Quintett, natürlich, das wonnevolle, ferner Hans Sachsens Monologe, die Festwiese und noch so vieles, vieles andere. Obgleich ich kaum was sehen konnte, von meinem Stehplatz auf der Galerie, in dem prunkvollen, übergroßen, und in betreff der billigen Plätze schändlich unsozial eingerichteten Königlichen Opernhause: dennoch, es war immer ganz herrlich gewesen. Nach den Meistersingern war ich in keine Wagnersche und überhaupt in keine Oper mehr gegangen. Die herrliche königliche Kapelle aber hatte ich noch öfter wieder gehört, und zwar in den Hauptproben der Sinfoniekonzerte, wo wir Konservatoristen freien Zutritt hatten. Da hatte die ungeheure Beethovensche C-Moll mich durchgeschüttelt. Die »Paukenschlag«-, die »Jupiter«-Sinfonie, die so eigen süßschmerzlich durchschauerte G-Moll von Mozart hatte ich erlebt. Ferner die »Unvollendete« – diese beiden holdinnigen Sätze voller Liebessehnsucht und zugleich Todesahnung: regt heimlich sich die Knochenhand, und hinter Kirschblüten, Narzissen, leuchtenden Tulipanen »schon wetzt sie das Messer, es schneidet schon viel besser –«.

Wenn ich so in der Probe mich umschaute: da saß man und bläht sich auf. In meiner Begeisterung hatte ich einige Male versucht, die mir zunächst Sitzenden anzuregen, ich merkte aber bald, man »veralberte« mich danach, und nun sonderte ich mich ab. Als ich aber nach einer herrlichen Aufführung der A-Dur auf dem Heimwege mit einem großen Seyerichschen Renommierschüler zusammenstoße – in allen Übungs- und Aufführungsabenden hatte er mit seinen Löwenpranken aller Ohren verblüfft, und es hieß, er werde am Schlusse des Semesters die höchste Auszeichnung, das Preiszeugnis bekommen – und als ich ihn frage: »Nun, Sie waren doch auch eben in der Probe?« Allda schiebt er die Unterlippe vor: »Hatte Wichtigeres zu tun. Hab' der Plitzschke-Weichselbaum« – das war eine gefeierte Größe der Hofoper – »korrepetiert. Was gab's denn so Besonderes?«

»Das wissen Sie nicht? Die göttliche, himmlische A-Dur!« Und ich schwärme: »Wundervoll gespielt! In der Koda hätten Sie die Kontrabässe hören sollen, du lieber Himmel und im Trio vom Scherzo das widerspenstige, zweite Horn, die hohe Trompete, Herrgott, Herrgott –«

»Kenn' ich, hab' ich zweimal schon gehört!«

Ich kehre ihm stumm den Rücken. Nach Hause renne ich und auf meinem höchst erbärmlichen Leihpianino die A-Dur nun gespielt, jeden Satz immer wieder und alle besonderen schönen Einzelheiten darin noch extra immer wieder, und laut dazu gesungen, gepfiffen, die Instrumente markierend, bis mein ums Mittagessen betrogener Magen arg anfängt zu knurren. Da aber ist's freilich schon Kaffeezeit. Ich beruhige ihn mit schwarzem Kaffee, und damit mache ich eine sehr wichtige, praktische Erfindung, die sollte – mußte! – sich mir später noch bewähren. –

In der Theorie war ich nach Erledigung der Harmonielehre inzwischen zum Kontrapunkt aufgerückt, und bei einem anderen Lehrer. Dieser – ganz der meschuggene alte Professor, wie er in den Witzblättern herumläuft – war weit mehr Ästhetiker als Theoretiker. Die manchmal ja ziemlich trockenen Aufgaben dem Schüler zu erklären, vor allem ihn praktisch arbeiten zu lassen und seine Übungen zu überwachen, reizte ihn nicht. Ganz flüchtig nur sah er die Arbeiten sich an. Dabei redete – ästhetisierte er unaufhörlich, wie ihm überhaupt der Mund nie stillestand. Worte also wiederum, und die aber brachten mich nicht vorwärts. Sowohl die neuen Klavier- als auch die Kontrapunktstunden demoralisierten mich schließlich geradezu, ich verlor völlig allen Kurs, segelte herum wie ein Schiff ohne Steuer und Kompaß.

Wie soll das einmal enden, sind meine Mittel zu Ende, und ich habe im Konservatorium nichts erreicht, nicht einmal das Reifezeugnis, was dann? Etwa wieder Schulmeister werden, die zweite Prüfung machen? Die Gespenster, ach, in jedem Schattenwinkel meines Dachzimmers lauern sie und grinsen mich an, wenn diese peinlichen Fragen mir durch den Kopf gehen. Zum richtigen, planmäßigen Arbeiten vermag ich mich überhaupt nicht mehr zu sammeln. Es treibt mich hinaus. Unstet streife ich herum. Nur die Theaterzettel an den Anschlagsäulen reizen mich immerhin noch ein wenig, und halb mechanisch, ohne mir gerade viel dabei zu denken, lese ich sie, wo ich sie kleben sehe.

Eines Tages lautet der Zettel: »Tristan und Isolde, Handlung in drei Aufzügen, von Richard Wagner.«

Ich stutze, überlege. Die Hand zuckt in die Tasche. Mein Beutel, er ist entsetzlich leicht, für einen Galerieplatz aber langt's zu, und hinterher auch noch für Brot und einen Rettig.

Ich kenne bereits den Text. Die musikalische Tragödie der Liebe. Sind unauflöslich ineinander verflochten Liebe und Tod, denn das ist die wahre Liebe: in eins leben, in eins sterben – entstehend-vergehend im All des Seins. Wie im Wechsel ewig lebt und stirbt Tag und Nacht, Sommer und Winter. Nach dem Höchsten – der Liebe ist keine Steigerung mehr möglich, und so kann nur der Tod die Liebe besiegeln. Ein edles königliches Paar nun, welches verkörpert diese Idee. All seine tiefsten, leidenschaftlichen Empfindungen ausgesprochen in Tönen. Kann die wahre Liebe selber ja auch nur in Tönen sprechen.

Tristan und Isolde, das hehre Werk, oh, es erschütterte mich! Diese Musik in ihrer lodernden Sinnlichkeit erregte mich aber auch fürchterlich.

Nach dem Theater, auf der Straße, mitten im Menschengewühl lese ich immer wieder im Text alle die Stellen, die ich mir angemerkt habe:

»Oh, sink hernieder
Nacht der Liebe,
Gib Vergessen,
daß ich lebe,
nimm mich auf in deinen Schoß,
löse von der Welt mich los!« –

Er kommt. Er stürzt überselig sich an ihre Brust. Und nun beider Liebesraserei!

»Bin ich's?
Bist du's?
Halt ich dich fest?
Ist es kein Trug?
Ist es kein Traum?
O Wonne der Seele!
O süße, hehrste,
kühnste, schönste,
seligste Lust!
Ohne Gleiche!
Überreiche!
Überselig!
Ewig! Ewig!
Ungeahnte,
Nie gekannte,
überschwenglich
Hoch erhabene!
Freudejauchzen!
Lustentzücken!
Himmelhöchstes
Weltentrücken!
Mein und dein!
Immer ein!
Ewig, ewig dein! ...
Liebe, heiligstes Leben,
Wonne hehrstes Weben!
Nie-wieder-Erwachens
wahnlos
hold bewußter Wunsch!« –

Wie vom Fieber geschüttelt, halb wahnsinnig vor Sehnsucht nach Liebe, sitze endlich ich draußen, einsam in den Anlagen, auf einer Bank. Jasminduft. Schwüle Luft. Am Himmel der halbverhüllte und heute so ganz eigentümliche Mond. Und ein Kater in meiner Nähe stimmt plötzlich eine leidenschaftliche Kanzone an, abwechselnd in den höchsten und tiefsten Tönen, chromatisch durch alle Oktaven. Der sehnt sich wohl auch nach einer Isolde.

Ach, aber ich sehne mich vergebens danach, ach, es kommt keine, keine Nacht der Liebe ist mir beschieden. Statt einer Isolde halte ich in meinem Hunger zuletzt einen Rettich in der Hand, mein höchst frugales Abendbrot. Weiterzuleben im ekel-trügerischen, kalt-unbarmherzigen, liebemordenden Tag, ach, das ist mein traurig Los, ein ungeliebter, unnützer, überflüssiger, armseliger, höchst erbärmlicher Mensch, verdorbener Schulmeister und nun auch verdorbener Musikant, verdorben alles, verdorben, verdorben! –

* * *

Es war just die Zeit, wo die Spätwerke Wagners in den Theatern überall zur Einstudierung gelangten. Mit der Götterdämmerung sollte in der großen Kunststadt nun der Ring des Nibelungen zum Abschluß kommen. Mancherlei Gerüchte darüber durchschwirrten die Stadt. Es verlautete, mit Todesverachtung würde daran studiert, wegen der vielen neuen und ungewohnten, ganz unerhörten Schwierigkeiten. Die ganze Stadt sprach zuletzt von nichts weiterem.

Das aber interessierte auch mich ganz mächtig. Ich entwickelte mich nach dem »Tristan« im Sturm zu einem hitzigen Wagnerianer.

Die ganze Welt ist mir ein Wagelaweia.

Ich kaufe mir die Wohlzogenschen Erläuterungen. Nach kurzer Zeit weiß ich alle Motive auswendig. Ich summe, singe sie, pfeife sie, wo ich auch sitze, liege, gehe und stehe. Mit dem Schwertmotiv stehe ich morgens auf, mit dem Walhallmotiv bete ich an, mit dem Riesenmotiv stapfe ich durch die Straßen. Mit dem Waldvogel lache ich, mit der Todverkündigung weine ich. Mit den Wälsungenmotiven resigniere ich, mit dem Hundingmotiv trotze ich, und mit dem Schlummermotiv gehe ich schließlich schlafen. Ach Gott, und bin ich eingeschlafen, da singen, tuten, pfeifen, streichen, pauken sämtliche Motive und oft zuletzt alle zugleich und durcheinander mir durch meine Träume. Ich kratze meine Groschen zusammen und hole mir die großen Klavierauszüge von der Leihanstalt. Im Konservatorium aber melde ich mich für krank und besuche keine Stunden mehr, ununterbrochen studiere, spiele, singe, pfeife, schäume, rase, stöhne, schnaube ich Wagner. Mein elendes Leihpianino zerprügele, zerstampfe, zerwalke ich schon allein mit dem großen Trauermarsch in der Götterdämmerung, mit den Schmelz- und Schmiedeliedern des jungen Siegfried, mit Brünhildens Erwachen, mit dem Einzug der Götter in Walhall. Kaum eine Saite bleibt gesund, ja das Pedal hab' ich zuletzt abgetreten und es hängt heraus, das schreckliche Nachhallen davon stört mich jedoch kaum in meiner weltenwilden Wagnerwut, so bin ich voll wabernder Lohe.

Ich durchschmökere alle möglichen Wagnerschriften und weiß zu den Motiven alsbald auch alles dickste philosophische Drum und Dran und Drunter und Drüber. Ich spreche schließlich nur noch in Stabreimen auch über die gleichgültigsten Dinge. Beinahe hätte ich auf meine Künstlerhaare mir nun auch noch ein Wagnerbarett gesetzt und unterm Kinn mir einen Wagnerbart wachsen lassen.

Klug ist's übrigens von mir, hinsichtlich meines Beutels, daß ich auf des Meisters Anregung hin vegetarisch lebe.

Natürlich auch des Meisters Schriften selber studiere ich. Hintereinander alle zehn Bände. Die längsten und schwierigsten Perioden – manchmal laufen sie schier über ganze Seiten hin – ich kaue und wiederkaue sie durch, in kleinen zähen Bissen mühsam von Komma immer zu Komma und Komma.

Wahrhaftig, Richard Wagner ist der alleinige Gott und Obergott, imgleichen er ist sein eigener Apostel und Prophet!

Kritisch und stänkerig werde ich. Außer Wagner bezweifle ich so ziemlich alles sonst, im ganzen Kunst-, Natur- und Geistesleben. Namentlich alle anderen Komponisten unterziehe ich einer unbarmherzigen Umwertung. Gewiß, sie haben ja wohl auch ihre Meriten, das schon, jedennoch alle miteinander können sie z. B. nicht im Wagnerschen Sinne richtig sinngemäß deklamieren, sie kennen noch keinen rechten Sprachgesang, können nicht so wie Wagner vollsaftig, rauschend, schmetternd, üppig, glutvoll instrumentieren, und vor allem sind sie nicht zugleich auch Philosophen, Dichter, Sprachschöpfer, Religionsstifter, Politiker und was weiß ich – kurzum keine Gesamtkünstler um und um, allesamt sind sie doch bloß einseitige, kläglich am Formenschema klebende, simple Tonsetzer, ergo und so kann man die besten unter ihnen doch nur als präwagnerianische große Vorgänger und Wegebahner immerhin gelten lassen.

Eine vollständige Verzauberung ist's mit mir.

Bei der ersten Aufführung der Götterdämmerung schreie ich, als sich in meiner Nähe einmal Widerspruch regt, den betreffenden Nörgler an, ein schmächtiges Männchen mit graumeliertem Bart: »Herr, Sie sind ein Esel!«

Jemand in meiner Nähe wagt gar zu zischen, und er redet zugleich eifrig und gereizt auf eine phlegmatische Frauensperson neben ihm ein: die ganze Wagnerei wäre eitel Schwefeldampf, wäre auch nur so ein Allerwelts-Moderummel, und gegen Mozart käme Wagner nicht an.

Da fauche ich: »Sie! Gegen Wagner ist Ihr Mozart ein Kalb!«

Darob ein großer Skandal. Man rottet in der Pause sich zusammen, man bedroht mich. Ein behelmter Schutzmann stellt endlich leidlich wieder Ruhe her. Mich behält er im Auge. Die heimlichen, leisen Bißworte hinüber und herüber aber hören nicht auf. Erst unterm lieblichen Gesang der Rheintöchter etwas Besänftigung. Und als nun aber Hagen und die Mannen herumtosen, geht's wüst wieder los. Ich beschimpfe meine Widersacher, verhöhne, beleidige sie. Plötzlich steht der Behelmte vor mir, und er schreibt mich auf. –

Gleich danach bei der Gesamtaufführung des Ringes, ha, da bin ich wieder mit dabei und als rasender Korybant. Hojotoho! Heiahei! Hahei! Überhaupt ich fehle jetzt in keiner Wagneraufführung. Damit betäube ich mich, bin zuletzt nur noch Mensch, wenn ich auf der Galerie, krampfhaft an einer Säule gepreßt, Wagner höre.

»Vergessens holder Trank, dich trink' ich sonder Wank! – Mißwende folgt mir, wohin ich mich neige! – Wehwalt muß ich mich nennen! – Der Götter Ende dämmert herauf! – Das Ende!« –

Mit einem Male mache ich eine schreckliche Entdeckung, und zwar auf der Bank, wo ich mein Geld deponiert habe. Meine 6000 Mark sind zusammengeschmolzen auf 493 Mark und 22 Pfennige, das sagt mir der Kassierer kaltgeschäftig, als ich am Monatsersten mir was holen will. Und außer Miete habe ich schnöderweise ja auch noch das Honorar im Konservatorium zu bezahlen. Lange Monate hatte ich da nun schon infam geschwänzt.

Das ist zu viel, mein Schreck ist groß, nun ist's aus mit dem Johotoho, ich stürze jählings ab, bin völlig niedergeschmettert ob meines sträflichen Leichtsinns!

Auf Nebel und Wind nun Regen, richtiges Tauwetter, auch den letzten Rest von Selbstvertrauen aus mir hinwegspülend. Tauwetter – naßgraue Trostlosigkeit.

Zu Hause wieder angelangt, schaue ich lange aus meinem Mansardenfensterchen in die Wolken, auf die Essen, die Dachziegel, lange, lange –.

Sparen jetzt, aufs Äußerste! Und so bilden Brot, Rettiche, schwarzer Kaffee fortan meine Hauptnahrung. Höchstens noch dann und wann auf dem Brot eine Scheibe Wurst, mehr zum Riechen und Anfetten als zum Schmausen. Die Gespenster aber um mich, hahei, sind nun herrlich obenauf, sie reichen sich die Hände, sie tanzen johotoho um mich einen Walkürenritt, heiahei und sie triumphieren: so, jetzt haben wir ihn nieder, in den Schlamm!


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