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Kapitel 23.
Verdorben

»Gigel gigel, gung gung gei,
Speelmann, de will starwen –«

Kein Märzgewitter – diesmal war's ein Sommergewitter, ein richtiges, ein schweres. Jedes Gewitter nun, ein Widerspruch der Natur, tobt sich aus, führt zum Ausgleich. Die elektrische Spannung in meiner Seele jedoch hielt an, die Blitze zuckten, sprühten, lohten weiter, der Widerspruch löste sich nicht.

Wer war ich, was konnte ich dem schönen und verwöhnten Kinde bieten, wie würde ich ihre Ansprüche, die sie nach ihrer Herkunft ans Leben zu stellen berechtigt war, jemals erfüllen können, ich armer Schlucker, verdorbener Schulmeister und Musikant in eins. Und dazu, ach, jetzt auch noch ein verdorbener Liebhaber. Verdorben, überzwerch verdorben, alles verdorben! Es war schon so, so viel Verstand vermochte ich immerhin noch in mir zusammenzukratzen, um mir das einzugestehen. Aber auch so viel Anstand Susannen gegenüber, um danach zu handeln? –

Mit einem Male erfolgten drei Sonntage hintereinander keine Einladungen mehr. Das ließ tief blicken. Man durchschaut mich. Auch andere Ohren hören und verstehen –: meine in Tönen an Susanne gerichteten Liebeserklärungen.

Bin schier rasend zuletzt vor Sehnsucht.

Ein holdes Weib will errungen sein, oh, jawohl, großer Schiller! Mir Susanne zu erringen, natürlich, das gelobe – schwöre ich mir. Und zwar durch verdoppelten Fleiß in meinem Studium zunächst, durch unermüdliches Vorwärtsstreben. Wie auch sonst, so denkt, gelobt, schwört jeder rechte Liebende.

Hinsichtlich meiner Fortschritte und Aussichten jetzt im Konservatorium mußte ich mir eingestehen, meinem Ziele, dem Reifezeugnis war ich in letzter Zeit nicht näher gekommen. Durch meine begeisterte und gründliche Ausgießung Bachischen Geistes im geheimrätlichen Hause und beim Onkel Staatsrat hatte ich mein eigentliches Studium im Konservatorium fast schlimmer noch wieder vernachlässigt wie in meinem stürmischen Wagnerfieber. Freilich damals war's die Neurose in meiner Griffhand, die war schuld an meinem Abirren, jetzt aber sind daran schuld die nicht minder entsetzlichen Sehnenscheidenentzündungen, an denen ich leide. Ganz zu geschweigen meiner überreizten Nerven.

Nun aber besuchte ich wieder die Stunden, ich fing mit dem Mut der Verzweiflung wieder an, Klaviertechnik zu üben. Ach und mit ärgster Übertreibung gleich, natürlich, denn maßzuhalten verstand ich ja nicht. So währte es nicht lange, und die »Überbeine« waren wieder da. Aussetzen und schonen wiederum, Jod darauf, Massage, und hatte sich's gebessert, konnte ich wieder anfangen, ach, schon bald war's immer wieder das alte Elend. So ging's hin und her.

Nach vier Wochen erhalte ich plötzlich wieder eine Einladung zum sonntäglichen Musizieren beim Onkel Staatsrat. Man dachte wohl, ich wäre inzwischen etwas zur Vernunft gekommen. Meine Enttäuschung nun aber. Nur die Brüder sind zugegen, mit ihren Noten und Instrumenten, Susanne fehlt.

Als ich nach acht weiteren Wochen, gewürgt, gepeitscht, zerrissen von Sehnsucht, sie endlich wiedersehe, bei einem großen Bach-Abend, da allerdings verrät mir's sofort ihr Auge: kein Zweifel, Susanne erwidert meine Liebe!

Zum erstenmal in meinem Leben geschieht's, ich werde wiedergeliebt! –

Noch seltener danach die Einladungen, beiderseits, und weder hier noch dort, niemals war Susanne mehr zugegen. Sie wäre verreist, hieß es, und auf längere Zeit, weit fort, zu Verwandten, in Rußland.

Auch beim allerschönsten Bach – meine Seele ist jetzt nicht mehr dabei, sie ist abwesend, sie sucht Susanne, und nur die Finger machen schlecht und recht ihre Griffe. –

Gänzlich hören die Einladungen auf. Die Stunden im Hause aber gebe ich noch weiter fort. So forschend ich meine Augen auch jedesmal herumlaufen lasse, wenn ich hinkomme, schon durch den Garten, durch die ganze Nachbarschaft um und um: sie ist wirklich fort.

Und nun aber gibt's für mich keinen Sonntag mehr, keine Freuden, keine Ruhe, keinen Frieden. Ein Ausgestoßener, irre ich umher, heimlich umschleiche ich Sonntags das Haus mit dem Zauberturm, bis am Fluß zuletzt ich immer wieder stehe, ins Wasser starrend, ins nächtliche, schwarze, unaufhaltsam dahinströmende. So auch manchmal, spät natürlich, in der Dunkelheit, treibt's hinaus mich an die Villa, die weißschimmernde, mit dem Bambino, rosenumrankt. Trios erklingen da, Quartette, ich aber bin jetzt dabei entbehrlich, niemand kommt, um mich hereinzuholen. Auch beim Onkel Staatsrat wird weitermusiziert, Bach, und ohne mich, man braucht ja auch da mich nicht mehr. –

Nach qualvollen, langen Monaten – zufällig sehe ich Susanne wieder, in einem Kirchenkonzert, mit dem Requiem von Mozart. Ein Requiem, und noch dazu das Mozartsche zu hören, das konnte mir gerade passen jetzt. Gleich nun, als der Baß einsetzt, zerknirscht, flehend: » Requiem aeternam dona eis, Domine« – da erblicke ich sie, ziemlich in meiner Nähe, und ich merke, auch sie hat mich gleich entdeckt. –

Die letzten Akkorde sind verhallt, und auf der gleichen Treppe müssen wir von der Empore zusammen hinunter.

Plötzlich steht sie vor mir. Das Herz erstickt mir im Halse. Nur einen Händedruck wechseln wir. Was unsere Herzen erfüllt schier bis zum Zerbrechen, es bleibt unausgesprochen. Auch als wir bald danach zum letzten Male uns wiedersehen, draußen, zufällig, und ich sogar sie begleite durch ihr stilles Gartenviertel. Es bleibt unausgesprochen. Mitte Februar. Im Schummern. Mondsichel und Abendstern sind bereits klar hervorgetreten. In den Zweigen der Pappeln steigt schon der Saft. Am Haselstrauch zappeln die holden goldgelben Kätzchen. Hier und da schon einzelne Schneeglöckchen. Nun erklingt gar das erste Amsellied, und das löst mir die Zunge. Vom – Mozartschen Requiem schwärme ich ihr vor, von der Allgewalt des » Quam olim Abrahae«, von der feierlichen Posaunenmelodie des » Tuba mirum«, vom » Rex tremendae«, vom » Confutatis« und zumal hier von den mystischen und völlig wie aus dem Jenseits herüberklingenden, leisen Akkorden der Posaunen auf

» Oro supplex et acclinis,
Cor contritum quasi cinis,
Gere curam mei finis!
«

Und endlich noch von der rührenden Inbrunst des » Lacrymosa«, das Letzte wäre es, erzähle ich ihr, was Mozart geschrieben oder vielmehr nur noch skizziert habe, seine unsterbliche Seele darin verhauchend.

So ist's im Künstlerleben, ist so ein Lacrymosa das letzte, ach, nur zu oft.

Damit sind wir angelangt vor ihrer Pforte. Lange halte ich ihre Hand in der meinen, vor Wonne und Schmerz an allen Gliedern bebend. Unausgesprochen bleibt's. –

Danach aber ertrug ich's nicht länger mehr, so blutig nötig ich's auch hatte, ich gab im geheimrätlichen Hause die Stunden auf.

Und nun der Entscheidungskampf ums Reifezeugnis. Denn in wenigen Wochen war Ostern, und damit waren meine Mittel gänzlich zu Ende. So ging's um Leben oder Tod. Hasselbrink bot seine ganze Tatkraft auf, mich nun an der Stange festzuhalten. Sein Einfluß auf mich hatte sich noch bedeutend inzwischen verstärkt. Er überwachte mich jetzt förmlich. Wie oft doch hatte er mich gewarnt, wenn ich ihm vorgeschwärmt hatte von Susannen, wie oft mich ermahnt, mein Herz zu umpanzern siebenfach, da für unsereinen nur Unglück daraus entstehen könne, wenn –.

Eine Kur jetzt bei einem anderen Arzt half mir gut. Ich war auch vorsichtiger und pausierte öfter beim Üben. So hielten Hände und Nerven tatsächlich besser aus, es schien, als sollte ich schließlich doch noch hingelangen ans Ziel.

Um das erstrebte Zeugnis der Reife zu bekommen war's notwendig, wenigstens an einem der Übungs- oder Aufführungsabende einmal aufzutreten. Das erreichte ich. Ich wurde aufgeschrieben sogar für einen Aufführungsabend. Beim gesteigerten Üben aber daraufhin, ach, ach, überanstrenge ich mich wieder. Wieder habe ich die entsetzlichen Sehnenscheidenentzündungen und diesmal gar in beiden Händen und Armen zugleich.

Es wird Ostern. Ich erhalte das Reifezeugnis nicht und damit Schluß. Ich muß abgehen, muß zugleich aus meiner Wohnung heraus, die nur bis Ostern bezahlt ist und meine Wirtin Kredit mir nicht länger gibt. Auch mein Leihpianino muß ich zurückgeben. Ein Aufwasch.

Zu Hasselbrink gehe ich in meiner Not, und in seinem Atelier, auf seinem alten, federlahmen Sofa schlafe ich, darauf mich einrichtend, so gut es gehen will.

Was aber nun weiter? Um keinen Preis der Welt etwa zurück in die Heimat, nein, hier lieber verhungern!

Ich versetze, verkaufe zunächst alles irgend Entbehrliche von meinen Sachen. Auch alle meine Bücher und Noten so hintereinander weg, bis auf Schillers Gedichte, das Wohltemperierte, Beethovens Sonaten und ein paar Hefte Schumann, davon vermag ich mich nicht zu trennen, denn doch nicht völlig kann ich meine Seele verschmachten lassen.

Dennoch raffte ich mich noch einmal auf im Dienst der mir, ach, so ungetreuen Musen. Nach neuen Klavierstunden lief ich mir die Beine ab, auf die spärlichen Anfragen hin in den Zeitungen. Ich bekam auch wirklich noch einen Schüler, neben der mir verbliebenen Bahnschaffnerstochter, einen für Wagner schwärmenden Handlungsgehilfen, der, den Tag über in Anspruch genommen, nur abends Stunden nehmen konnte. Er zahlte mir 75 Pfennig für die Stunde. Mit großem Eifer fing er an. Freilich nur so viel Musik wolle er lernen, erklärte er mir gleich, um das Gebet aus dem Rienzi spielen zu können. Aber leider schon nach der dritten Stunde hatte er's dick, das Üben gefiel ihm nicht.

Nein, länger jetzt nicht mehr die Spottfigur eines Musiklehrers spielen! Ich bot mich in der Zeitung als Notenschreiber an. Gehörte als solcher immerhin noch ein bißchen mit dazu. Es kam auch ein langer und dürrer Mensch mit langen Haaren und brachte mir eine schwulstige und überladen instrumentierte sinfonische Dichtung zum Abschreiben, die war betitelt – »Rosmersholm«. Als ich aber nach vieler Mühe fertig war mit der Arbeit, prellte man mich.

Nun aber geb' ich den Musendienst auf, vollständig. Abgebrannt und ausgebrannt, erloschen jetzt wirklich in meiner Seele auch das letzte Fünkchen Musenfeuer. Ich ergreife in Hasselbrinks Atelier eine Schere, trete beherzt damit hin an den Spiegel und schneide mir meine Künstlerhaare ab. Schnippschnapp, da liegen sie! Lange betrachte ich sie. So hübsch geringelt waren sie zuletzt. – Endlich drückte ich mein Kinn in die hohle Hand und dachte nach über alle für mich etwa in Betracht kommenden Möglichkeiten des Geldverdienens. Ich faßte einen Entschluß, ich bot mich als Expedient an. Schrieb sogleich mir ein Augenarzt, er wolle wegen plötzlicher Erkrankung seines richtigen Expedienten mich als Aushilfsexpedient beschäftigen. Da hatte ich in der Sprechstunde die Bücher, zumal die Kassenbücher zu führen. Mein Brotherr war ein sehr beschäftigter Augenarzt für viele Krankenkassen großer Fabriken. Ich machte zwar trotz bestem Willen meine Sache keineswegs musterhaft, bei meiner unpraktischen Art, der gute Herr Doktor aber hatte große Geduld mit mir. Gerade fing ich an, mich etwas besser hineinzufinden, da meldete der richtige Expedient sich als gesund wieder zurück.

Noch zweimal glückte mir's anzukommen. Beim ersten Male wurde das Dienstverhältnis nach acht Tagen in Güte gelöst, beim zweiten aber leider nicht in Güte und schon am zweiten Tage.

Verschiedene Berufe probierte ich noch durch, immer mit bestem Willen, aber niemals mit Glück, ein verdorbener Musikant, saß ich schließlich immer wieder mit tief herabhängenden Flügeln auf Hasselbrinks altem Martersofa: »Oh, Mensch, bewein dein' Sünde groß!«

Zuletzt war ich Markthelfer in einer Buchhandlung und besorgte den Lesezirkel, ich fuhr herum mit einem Karren und wechselte die »blauen Hefte« aus, in allen möglichen Straßen, und immer treppauf, treppunter. Ich fange an, mich damit leidlich einzurichten. Plötzlich aber fliegt jäh eine Hand voll Salz darauf und durch einen neueingetretenen Abonnenten. Wahrhaftigen Gott, lieber gleich tot hinfallen als da die blauen Hefte hintragen, nämlich in die weißschimmernde Villa mit dem Bambino! Ich lasse meinen Karren stehen, ich mache kehrtum, verschwinde, verdufte.

Volle vier Tage hungere ich durch draußen, und ich nächtige im Walde. Am fünften aber breche ich zusammen. –

Als ich fünf Monate danach im Städtischen Krankenhause, in der Abteilung für Arme – man hatte mich aufgehoben und dahin geschafft – als ich da von einem schweren Typhus leidlich genesen, entlassen werde, händigt man mir verschiedene Briefe aus und mit schonenden, mich aber auf etwas sehr Trauriges vorbereitenden Worten. Man hatte sie geöffnet. Sie sind geschrieben von Tante Nörchen. Sie enthalten eine erschütternde Nachricht. Es war bereits geschehen in jenen Tagen, als ich selber mit dem Tode rang. In meinem elenden Zustande konnte man mir die Briefe nicht früher geben. In scharfen und zürnenden Worten schreibt sie mir auch noch, schlimme Gerüchte liefen wieder um über mich, und zwar wieder durch Gertrud Braatfisch. Mit meinem Reifezeugnis wäre es nichts geworden, ich wäre schon lange gar nicht mehr musikalisch tätig und wäre überhaupt verschollen.

Das ist zu viel! Hinreisen, sofort! Ja, wie aber, woher das Reisegeld nehmen?

Mein Letztes bringe ich zum Antiquar, meinen letzten und heiligsten Notenbesitz – ich mache ihn zu Reisegeld: Bach und Beethoven und die Kreisleriana, die Davidsbündlertänze.

Kein Adlerflug ist's diesmal, in der vierten Wagenklasse, es ist ein Sperlingsflug, ein höchst kläglicher. Ich fahre die Nacht durch und in einem Auswandererzug. Mich umgibt menschliches Elend in allen Abstufungen. Bin ja selber ein Auswanderer. –

Nun stehe ich vor dem wüsten Sandhaufen eines nicht mehr ganz frischen Grabes. Noch etliche Kränze liegen darauf herum, völlig verdorrt sind sie, verschlissen, verwittert. Es regnet. Grau sind Himmel und Erde, so fahl, so leichenhaft, als hätte niemals warm die Sonne hier geschienen.

Ich starre hin, tränenlos. Ach, nicht mehr regen sich die feinen, die so wunderfeinen Hände, ineinandergefaltet und ganz still liegen sie da unten nun und modern. Indem ich dieses mir ausmale, da – vom Schmerz überwältigt, sinke ich hin.

* * *

Man meidet mich, man betrachtet mich mit scheelen Blicken und höhnischen. Meine Künstlerhaare, wo sind sie doch geblieben?

Jul ist zufällig für ein paar Tage anwesend. Ich stoße im Wiethorn von ungefähr mit ihm zusammen. Er spricht sehr selbstgefällig über sich.

»Und du – wie geht dir's denn eigentlich, bringt dir denn deine Musik auch gut was ein? Bist wohl auch schon ganz berühmt geworden?« –

Von Adelheid Esping höre ich, sie wäre eine Frau Direktor und habe drei bildschöne, ihr ähnliche Kinder.

Die jungen Frölen sind allesamt gut versorgt. Billa hat sogar einen großen Schiffskapitän in Bremen geheiratet.

Ich richte mich ein in der bescheidenen Wohnung meiner Mutter, auf dem Oldenberg. Etwa sechs Wochen noch gehört sie mir, mit ablaufendem Termin, von da ab ist sie bereits weitervermietet.

So galt's nun, den Haushalt aufzulösen. Zu dieser scheußlichen Hyänenarbeit konnte ich mich aber nicht so bald überwinden. Wie ein lichtscheuer Maulwurf wühlte ich im Müll und Moder der Vergangenheit. Zu meiner Stimmung paßte gut der stets bedeckte Himmel, der ewige Regen und im Schlicker immer gleich wegtauende Schnee eines latschigen Winters. Erst in der Dunkelheit, um nicht gesehen zu werden, ging ich an die Luft und strich herum im Wiethorn, im Börkeloh, in Moor und Heide, die Musen- und Weihebirken aber mied ich. Wieder zu Hause, zündete ich mir meiner Mutter Kuppellämpchen an, und wenn ich lange genug die melancholischen und unmöglichen Landschaftsbildchen des sehr defekten alten papiernen Lampenschirms über der Kuppel betrachtet hatte, legte ich mich ins Bett meiner Mutter, ach, und schlaflos wälzte ich mich herum. Mit keinem Menschen kam ich in Berührung. Blieb meine Tür unerbittlich jedem verschlossen. Selbst Herrn Justus. Er war's schon, er klopfte einmal an.

Am ersten April bin ich obdachlos und vogelfrei, irgend einen Plan muß ich haben bis dahin: was nun weiter werden solle.

Aber ich stehe ja vor einem ganz klaren Entweder – Oder. Entweder die zweite Prüfung jetzt machen und wieder zum sicheren Brot des Schulmeisters, oder zurück zum Hungerbrot des Musikanten, zurück wieder in die große Kunststadt, um nun als Musiklehrer mich dort »niederzulassen«.

Ich entscheide mich für den Musikanten.

Je mehr ich über meine Erlebnisse nachdenke, desto mehr tritt das Schlimme, Leidvolle, Düstere zurück, und das Lichte befestigt sich, punktweise. Ich hatte doch auch viel Frohes, Schönes, Ersprießliches, Herrliches dort erlebt. Die Symphonieproben. Kammermusikus Lerchensporn. Freund Hasselbrink –: ob er seine kurz vor meinem Untergang begonnene Figur, den zürnenden Giganten, inzwischen wohl vollendet hat? Die Villa mit dem Bambino. Die Mazeppahalle. Die nächtlichen Überfahrten über den Fluß, und sie, Susanne.

Mit der allmählichen Befestigung meines Entschlusses, zum Musikanten zurückzukehren, verknüpft sich immer mehr und stärker auch die Erinnerung an die Brahmssängerin im Konservatorium.

Es war mir gelungen, ganz zuletzt doch noch näher mit ihr bekannt, ja befreundet zu werden. Immer nun, wenn ich mir die Schwierigkeiten des Emporkommens als Musiklehrer ausmale und an den sicherlich mir dort bevorstehenden grausigen Hungerkampf denke: hab' ich sie zuletzt vor Augen, Marie, die Brahmssängerin. Anfänglich immer zugleich mit Susannen, merkwürdigerweise aber gehen allmählich beide förmlich ineinander über, doch so, daß schließlich Susanne gleichsam sich verliert und auflöst – in Marie, die Brahmssängerin.

Marie, die Brahmssängerin, meine letzte Hoffnung!

Kurz bevor ich sie kennenlernte, hatte ich rein zufällig noch mancherlei von ihr gehört.

Sie ist nicht wie Susanne ein verwöhntes, schönes Kind, frei und froh das Leben genießend, im Gegenteil, sie hat müssen sorgen, arbeiten, schwer kämpfen, von frühester Jugend auf, sie kennt die rauhen Seiten des Lebens. Mit ihren Stunden und durch ihre Mitwirkung in Konzerten, Oratorien erhält sie ihre Familie. So stehen wir kameradschaftlich zueinander, und damit paßt sie freilich besser zu mir wie Susanne, so wie nun einmal mein Los mir gefallen ist.

Erst in den letzten verzweiflungsvollen Wochen im Konservatorium wurde ich mit ihr bekannt. Eines Nachmittags nach der Chorstunde, die wir gemeinsam besuchten. Wir hatten den gleichen Nachhauseweg, und bald machte sich's ganz von selber, ich begleitete sie regelmäßig nach Hause, und da waren wir immer im eifrigen Gespräch, auch im tollsten Straßendurcheinander, und zwar hauptsächlich und voller Begeisterung über Johannes Brahms, überhaupt Brahms brachte uns zusammen gleich in unserer ersten Unterhaltung, in Anknüpfung an die drei von ihr am Übungsabend gesungenen Lieder.

Ich war diesem, im Konservatorium durch den wagnerianischen, jungen Direktor verfemten Meister inzwischen nähergetreten. Wagners Begeiferungen hatten, wie damals so vielen, vielen, auch mir erst ein falsches Bild von ihm gemacht. Ich kam dann aber schnell hinein. Und so kannte ich nun schon sehr viele Werke von Brahms.

Daß just Brahms so tief und nachhaltig auf mich wirkt – weshalb er mir zuletzt der geliebteste geworden ist aller Meister, es mag ja wohl auch mit seine rein persönlichen Gründe haben. Meine alte Heimat, an die ich nur immer aus tiefstem Heimweh heraus zurückdenke, klingt mir wieder aus Brahms. Die norddeutsche Tiefebene, in ihrer Innigkeit, Versonnen- und Verlorenheit, aber auch in ihrer Eckigkeit, ihrer eichendurchrauschten Kraft. Immer tiefer war ich eingedrungen durch die oft rauhe Hülle in den köstlichen Kern. Freilich, er ist spröde wie eine norddeutsche Jungfrau, er kommt einem nicht entgegen, erkämpfen muß man sich den so über und über norddeutschen Brahms. Dann aber ist's eine »ewige Liebe«! Nicht flackernd, hell auflodernd – vielmehr wie nur allmählich in Brand kommendes Eichenknastholz, still in sich hinein verglühend, andauernde Wärme aber dabei entwickelnd, keine fliegende Hitze nur. Eine Musik ist sie, die Brahmssche, nicht nur für den Verstand oder gar nur aufpeitschend die Phantasie, vielmehr sie ist ganz so auch wie die Bachische »verfertiget dem Höchsten Gott zu Ehren und denen Kennern und Liebhabern zur Rekreation und Ergötzung des Gemütes«.

Ganz so wie ich empfand auch sie, Marie, die Brahmssängerin. Sie schwärmte mir vor von den herzergreifenden Liedern, wie sie nach immer genauerer Kenntnis sie allen anderen vorzöge. Die Mainacht – Die sapphische Ode – Immer leiser wird mein Schlummer – Auf dem Kirchhofe – Der Tod, das ist die kühle Nacht – Feldeinsamkeit – Wie Melodien zieht es – Auf die Nacht in der Spinnstub'n – Ruhe, süß' Liebchen – die Lieder vom Heimweh usw. Ich dagegen spreche mich zu ihr aus und in überschäumender Begeisterung über die Kammermusik: das herbgewaltige Klavierquintett, das Horntrio, die drei Streich- und Klavierquartette, das Klarinettenquintett, das hinreißende Streichquintett in G-Dur, die Sextette, die Violin- und Cello- und Klarinettensonaten. Ich hatte die Partituren dieser herrlichen Werke alle von Herrn Kammermusikus Lerchensporn geliehen bekommen so nach und nach.

In einer der letzten Hauptproben hatte ich die Haydn-Variationen gehört, mit ihren Wundern einer unbeschreiblich vergeistigten, kontrapunktischen Kunst. Das entsprach so recht meinem bachdurchbluteten Geschmack, ich war in höchster Begeisterung davon.

So auch die C-Moll-Sinfonie hatte ich da gehört, es war in der überhaupt letzten Probe gewesen, und gleich danach hatte ich sie gesehen, die Freundin. Gar nicht zu Worte lasse ich sie diesmal kommen. Die C-Moll – bin außer mir vor Entzücken, ich schwärme, schwärme! Ich muß ihr aufschreiben, was ich alles mir dabei gedacht habe.

Der erste Satz Seelenqual, erbitterter Kampf. Nur das Horn im zweiten Thema möchte etwas beschwichtigen wenigstens zwischendurch. Ein grimmiges Durchtrotzen zuletzt, in den knochenzerreißenden Synkopierungen der Koda. – Liebe des Adagio, leidvolle, trauernde. Tränen aber – die wunderbare Solovioline – lindern den Schmerz. »Trocknet nicht Tränen der ewigen Liebe!« – Darauf im Allegretto das holdinnige, ablenkende Plaudern der Klarinette. – In der wühlenden Einleitung zum Schlußsatz, nach all den Schrecken der Nacht, nun im Morgenrot der erhabene Choral der Posaunen. Gebetstimmung. Zusehends tiefer erglühendes Morgenrot! Und endlich aber im über die Maßen herrlichen Schlußsatz: die Sonne, sie segnet die Welt. Seinen Frieden findet wieder der Mensch.

So hatte eine liebe Kameradschaft und Freundschaft sich allmählich zwischen uns entwickelt. Das tat unendlich mir wohl, spendete mir Trost in jenen Tagen des Verblutens meiner Liebe zu Susannen. So sehr ich mich auch jedesmal des Wiedersehens freute, Leidenschaft mischte trübend sich nicht ein.

Sie sieht mir's wohl ab, daß ich schwer zu kämpfen habe. Immer aber, wenn sie Miene macht zu einer außermusikalischen und rein menschlichen Frage, weiche ich ihr aus, schnell muß Brahms einspringen, mich aus meiner Verlegenheit reißen:

»Haben Sie mit einem guten Bratschisten – der allerdings gehört dazu – das Allegretto im dritten Streichquartett, B-Dur, einmal gut gehört? Überhaupt die so unendlich viel sagende, melancholische Bratsche bei Brahms, immer und überall! Seine Mittelstimmen, Teufel, und in den Mittelstimmen, da sitzt's, die Kunst, die Differenzierungen machen's, die Zwischentöne. Sehen Sie dagegen z. B. sich einmal bei Liszt die Mittelstimmen an. Wenn man hier überhaupt von Mittelstimmen sprechen kann.«

Wie ein Wasserfall rede ich weiter, sie mag mir zuhören wollen oder nicht. Noch an ihrer Haustür, und mag auch ihre Geduld und Zeit gänzlich erschöpft sein, fällt mir manchmal dieses oder jenes Werk von Brahms ein, über das ich unbedingt noch mich aussprechen muß.

Marie, die Brahmssängerin, wenn sie wüßte, was aus mir jetzt geworden ist!

»Sie müssen Kapellmeister werden, unseren noch so wenig verstandenen, geliebten Meister aufführen, ihn tapfer mit durchkämpfen.«

Oft hatte sie mir das damals gesagt.

Als ich dann als Expedient eine Weile mein Leben elend hinfristete, da einmal an einem Nachmittage – die Sprechstunde war wegen plötzlicher Unpäßlichkeit des Augenarztes ausgefallen – da hatte ich mir ein Herz gefaßt und war ans Konservatorium geschlichen, um die Zeit, wo sie herauskommen mußte. Sie freute aufrichtig sich des Wiedersehens. Gleich aber merkte sie das Fehlen meiner Künstlerhaare. Aber sie schwieg darüber. Das war das letzte Mal gewesen, daß ich sie sah.

Marie, die Brahmssängerin: das einzige, rettende Lichtlein in der Finsternis ist sie mir!

Sie gibt dort sehr viele Stunden, demnach bei ihren Verbindungen, ihrer Tüchtigkeit, ihrem Ansehen: gewiß sie kann, wenn sie will, sicherlich mir emporhelfen, mir Stunden verschaffen, mich als Begleiter empfehlen usw.

Wie aber hinkommen wieder in die große Kunststadt, die nun einmal mich schnöde hatte verkommen lassen? Woher das Reisegeld nehmen, womit da den Unterhalt in der ersten Zeit bestreiten? Aus dem Ertrag der Sachen würde sicherlich nicht viel für mich übrigbleiben, mußte ich mir sagen. Denn Doktor- und Apothekerrechnungen für die Mutter und volle drei Quartale der Miete waren noch zu bezahlen. –

Mit Schauder erwartete ich den Tag der Versteigerung. Da soll nun alles in die vier Winde gehen, das Elternhaus aufhören und ich damit abgesägt sein gänzlich.

Die entsetzlichen Vorbereitungen mußten endlich getroffen werden. Erst in der letzten Nacht machte ich mich daran. Unser altes Tafelklavier, ach, ich spielte noch einmal darauf, die Fis-Dur-Romanze von Schumann, darin weinte ich mich aus. Unsere alten Möbel, ganz beseelt kamen sie mir vor zuletzt, als wollte alles, alles mir noch viel erzählen. –

Es ist soweit, die Kauflustigen kommen hereingetrampelt. Das beguckt, betastet, begutachtet alles, von hinten und vorn, von oben, von unten und mit geheuchelter Geringschätzung. Alle Schubfächer werden herausgerissen.

Jetzt ist auch der Auktionator zur Stelle und mit Liste und Hammer. Mit einem derben Hammerschlag eröffnet er die Versteigerung.

Erstes Angebot: »'n konfortables Familiensofa, hält noch leidlich zusammen, man bloß 'n büschen Holzwurmschaden hier und da, is, wenn aufgepolstert und neu überzogen, noch ganz gut zu brauchen. Sieben Taler! Zum ersten!«

Pause.

»Wat, saeben – keine söß,« knarrt endlich einer.

»Fief Daler,« ein anderer.

»Fünf Taler zum ersten!«

»Twee Mariengroschen noch!«

»Acht gute Groschen!«

»Fünf Taler und acht gute Groschen zum ersten! – Zum zweiten! Bums! Wer hat's?«

»Schauster Drögemüller!«

So geht's weiter. Geht alles fort in die vier Winde. Auf Schubkarren, in Kiepen und Körben. Vaters alte, liebe Kuckucksuhr kauft sich ein Gastwirt für seine Gaststube. Unser Klavier ersteht ein neugebackener Präparand bei Küster Stute. –

Bin wieder allein. Grauenhafte Öde umfängt mich. Den Ofen erwärmt kein Feuer mehr heute, denn auch der Rest Torf ist mit versteigert worden. Auf meinem Reisekorb, außer einigen zurückbehaltenen Erinnerungsstücken meine paar Habseligkeiten bergend, da sitze ich, im Überzieher, und ich halte die mir aus der Versteigerung verbliebenen sechs Taler und drei Pfennige in der Hand, mein ganzes Vermögen in bar. Auch bei peinlichster Einteilung wird's kaum langen zur Rückreise.

Nur eine Semmel habe ich in der Frühe gegessen und etwas Wasser dazu getrunken. Hunger meldet sich. Er nagt schärfer, schärfer. Plötzlich schallt's herein, von draußen, ein dorfbekannter Spottvers, auf mich nun angewendet:

»Gigel gigel, gung gung gei,
Speelmann, de will starwen,
Gewt'n 'n beten Speck und Brot,
Lat'n nich verdarwen.«

Was tun, Almosen annehmen hier? Nein! Noch einmal mich satt essen und dann einen Strick kaufen, so weit reicht's ja. Im Wiethorn, hinter Onkel Röhrs Immenzaun, an einer Fuhre, da Schluß machen! Hinaus aus der Welt, in die ich nicht hineinpasse! Wo nur sein gutes Fortkommen findet, so weiß, wie's gemacht wird, so schlau immer zu rechnen weiß, dem das heiße Blut den kalten Verstand nicht trübt. –

Jedoch ich harre aus. Das ferne Lichtlein in der Finsternis –: Marie, die Brahmssängerin!

Eine schreckliche Nacht, ach, meine letzte daheim! Leichenhafte Stille um mich. Nur einen Holzwurm höre ich manchmal nagen im Türpfosten. Die Totenuhr.

Die wachsende Nachtkühle. Ich ziehe die Schlippen meines Überziehers fester immer wieder zusammen um meine frostigen Knie. Ganz spät, als schon längst in der Nachbarschaft die Hähne krähen, fallen endlich mir die Augen zu. –

Klopfen an die Tür weckt mich. Ich fahre auf, schaue mich um. Es ist schon hellichter Tag. Wiederum klopft's. Ich kenne die Art des Klopfens, es ist Herr Justus.

Er läßt sich nicht abweisen diesmal.

So öffne ich ihm endlich.

Wie immer: er kommt als Helfer.

»Wieder zurück müssen Se, Berkebusch, und heute noch. Hab' gehört, unter der Hand, die Stimmung im Dorf gegen Sie hat sich noch verschärft. Sie wissen, unser jetziger Ortsvorsteher is verschwägert mit dem Postverwalter, Ihrem alten Gönner, und nu hat dieser ihn wohl bearbeitet. Abschieben solle er Sie. Kommen Sie dem zuvor. Diese Schande muß Ihnen erspart bleiben. Versuchen Se 's doch dort noch mal.«

Und wiederum grölt man draußen, wir horchen auf:

»Gigel, gigel, gung gung gei,
Speelmann, de will starwen! –«

»Kenne Sie ja, Berkebusch, Ihre guten Eigenschaften, Ihre Fehler. Würklich nur zur Musik sind Se zu brauchen. Raffen Se sich auf! Zurück! Mut! Diesmal wird's Ihnen gelingen.«

Ehe ich ihm auch nur die Hand drücken kann, redet eifrig er weiter, er zischt, preßt, prustet, dick schwellen ihm die Stirnadern an, er schwitzt vor Aufregung, kupferrot ist sein Gesicht, seine Hände fahren herum:

»Draußen an der Schmiede, hören Sie, da hält Abbauer Kötje, er will für die Schmiede Kohlen holen von der Bahnstation, der nimmt Sie mit und für umsonst.«

Als ich vom Reisegeld anfangen will, drückt er mir einen Hundertmarkschein in die Hand:

»Hier nehmen Se das an von mir. Können mir's später zurückerstatten. Und wenn nicht, soll's mich auch nich reuen. Damit können Se dort auch noch für den Anfang Kerbe hauen. Gern auch noch einmal soviel will ich Ihnen nachschicken, wenn's sein muß. Bleibt unter uns: von meinen Ersparnissen.«

Er preßt, schnauft und prustet fürchterlich.

»So. Helf' Ihnen den Reisekorb tragen. Flink, kommen Sie jetzt, der Wagen fährt sonst ab, kommen Sie!«

Von der alten Schmiede aus, neben unserem ehemaligen graugrünen Erkerhaus, der Stätte meiner so sonnen-, so freudereichen Kinderjahre, reise ich nach der großen Kunststadt wieder zurück.


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