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Kapitel 10.
Ferien, Leben und Liebe

(Drei Intermezzi.)

Wären die Ferien nicht gewesen, ich hätt's nicht ausgehalten, wie im Zuchthause fühlte ich mich im Seminar, und nur daheim in den Ferien, den heißersehnten, lebte ich recht eigentlich, war ich meines Daseins froh, da fanden Herz und Gemüt nach langem Hungern ihre Nahrung.

Auch die Freunde hatten ihre Ferien immer zur gleichen Zeit. Allsogleich man hin zu Herrn Justus und 'ran an den Baß, und zwischendurch das Gefrage, Schwögen, Schwärmen, Streiten, und Herr Justus schmunzelt dazu: »Hast du die Frühlingssonate, hast du die C-Moll gespielt? – Was sagst du zu der köstlichen Mozartschen B-Dur – zur C-Dur, E-Moll? Wunderbar, herrlich, himmlisch, göttlich!« –

Und in den Ferien die Liebe! Die Zeit, wo ich über den »Mäkenjungen« mich halbtotärgerte, liegt hinter mir, schon lange nicht mehr sind sie mir ein Gegenstand des Abscheus, die lieben Dinger, nachdem ich sie mir daraufhin immer schärfer so nach und nach angesehen hatte, was an ihnen denn eigentlich dran wäre. Das war ganz von selber so gekommen, und ganz natürlich. Zuerst und schon ziemlich bald hatten ihre Zöpfe sehr eigentümlich mich angezogen. Wie waren die nett, und gar mit eingeflochtenen Bändern, blauen, roten, grünen! Und ihre hübschen, runden Hälschen, und wenn gar ein Korallenkettchen sie schmückte. Ihre zierlichen Öhrchen. Und immer eigentümlicher veränderten sie sich, immer voller wurden ihre Formen, weicher, rundlicher. So verbreiterte sich das Interesse allmählich und naturgemäß mehr und mehr aufs Komplette. Nun hatte Schorse eine Schwester, auch Jul hatte welche, und fast in allen anderen bekannten Familien waren Töchter, in allen Abstufungen, und so konnte es nicht ausbleiben, man näherte sich einander. Nach ihrer Konfirmation aber, wie anders sind sie! Sie sind jetzt die »jungen Frölen«, züchtiglich in halblangen Kleidern, und gar so zimperlich tut man. Wir wurden ganz irre an ihnen, und war unser Leben jetzt den Musen geweiht ganz und gar. Freilich wenn uns »Eine« begegnete, verstohlen schaute man schon hin, und nicht etwa wie nach einem unerreichbaren Sternchen oben, vielmehr wie nach einer Blume, an die man zum wenigsten doch schon mal riechen möchte.

Eines Tages belauscht man uns. Das ist uns, hm, nicht unangenehm. Ich drücke mit besonderen starken Gefühlen den Bogen auf, ich lasse, um den Ton zu beseelen, mächtig die Griffhand zittern und beben. Und man schaut sogar ins Fenster herein und flüstert: »Bei Tante Nörchen sind wir jetzt immer abends.« Topp, und wir fassen uns Herz! Um aber nicht mit der Tür ins Haus zu fallen: Stammbuchblätter möchte man da miteinander austauschen, nach guter, alter Sitte!

Tante Nörchen genoß die Zinsen eines winzigen Legates, das hatte ihr seliger Studierter ihr ausgesetzt, es langte kaum zu für das Salz zur Suppe. Dennoch fehlte es ihr an nichts. Die jungen Frölen brachten ihr reichlich von allem aus Küche und Keller. Ihr weinumranktes Stübchen auf dem Oldenberg hätte man freilich nicht missen mögen, die Samariterstation für kranke Herzen. Nichts Traulicheres, als hier bei ihr zu sitzen, zwischen den schiefen – ungeheuer schiefen Wänden! Die alte Kommode von Kirschbaum an der Fensterwand, mit der alabasternen Standuhr, unter einem ungeheuren Glassturz. Schoner überall an den Polstern, Fußbänke, Flickenteppiche auf dem sauber und reichlich besandeten Fußboden. Die Konsolchen, der perlengestickte Haussegen: »Gott ist die Liebe«, in ovalen schwarzen Rahmen überm Sofa die Ahnengalerie, und auch der selige Studierte ist mit dabei, ein mageres, blasses und bartloses Gesicht.

Hier fand man sich wieder, und als junge Herren und Frölen. Verband das vertrauliche »Du« uns noch mit der entschwundenen Kindheit, und viel Betonung legte man hinein. Einen tief elegischen Sinn hatte für uns jetzt das Leben, und die Stammbuchverse sprachen das aus. Tante Nörchen diktierte uns die elegischsten, passendsten. Ihre Stammbuchverse waren altüberliefert Gut aus der gefühlvollen Zeit unserer Großväter. Wie manches junge Herz hatten die wohl schon gerührt und nachdenklich gestimmt, um schnell im Getümmel des Daseins wieder vergessen zu werden, für wie viele haben sie wohl das einzige bißchen Poesie in ihrem Leben bedeutet:

»Nur einmal kann man leben,
Nur einmal ist man jung,
Nur einmal kann man lieben
Recht voll Begeisterung.«

Verminderte sich allmählich die Schüchternheit unter Tante Nörchens ermunternden Blicken. So sehr man's nun auch in die Länge zog, schließlich war der Bedarf gedeckt, und so ganz ohne jeden genaueren Grund noch weiter hingehen, bloß um zuzusehen, wie die jungen Frölen da nun wieder sticken, knüpfen, häkeln –: nein! Wir trösteten uns mit unseren Geigen. Und es kam mir so vor, als spielte ich jetzt alles ganz unvergleichlich gefühlvoller wie früher.

* * *

Mein Sieg über den Alleswisser im Gottesgericht war freilich nur ein Pyrrhussieg gewesen. Ich trat ihm im Seminar schließlich das rehschlanke Fiechen im stillen ab. Außer Tante Nörchens Zuspruch half zur schnelleren Heilung meiner ersten Herzenswunde sehr wesentlich mit: ich sah das rehschlanke Fiechen überhaupt nicht wieder, und was aber nicht sieht das Auge, kränkt nicht das Herz. Denn Fiechen wohnte jetzt ganz in der Stadt, bei ihrer Erbtante.

In den Ferien kam man allerdings jetzt glücklich wieder zusammen, und so pendelte zwischen zwei Kraftstationen unser Leben froh und heiter dahin: der Tag den Musen, der Abend der Liebe. Zwischen Tante Nörchens schiefen Wänden, wie hier im Pfänderspiel die Wangen manchmal glühten, die Herzen pochten, in Erwartung sowohl der süßen Belohnungen als der nicht minder süßen Strafen! Schließlich begleitete man die jungen Frölen nach Hause, und in vollkommener Ritterlichkeit, besonders langsam und melodisch natürlich bei Mondenschein, wenn in den taufeuchten Wiesen die Frösche ihre Kantaten sangen, auf den Dächern die verliebten Kater ihre Rezitative, und man sprach eifervoll über lauter feine, schöne, edle und erhabene Dinge. Die veilchenblauen und rosenroten Abende bei Tante Nörchen wurden uns zu einer süßen Gewohnheit.

Aber was geschah, einmal in den Ferien kamen die jungen Frölen nicht mehr hin! In der Forstmeisterei, oben am Wiethorn, vorn in der Laube hinter der efeuübersponnenen Gartenmauer saßen sie jetzt allabendlich. Ein neuer Forstmeister mit vielen Töchtern war hier inzwischen eingezogen. Auch ein Sohn ist da, mit Namen Ludjen, und der aber ist ein Nichtsnutz. Nachdem er von der Schule gejagt war, wollte er durchaus nach Amerika zu den Trappern und Indianern. Um nun auf den Wunsch des gestrengen Vaters Ingenieur zu werden, lernte er im Dorf zunächst das Schlossern. Ludjen hat einen Schnurrbart mit aufgewichsten Spitzen, Trotz, Wildheit sind seinen bronzenen Gesichtszügen aufgeprägt, wie einer aus dem Rinaldo Rinaldini sieht er aus. Man erzählte, er ginge nie anders aus als mit einem Revolver und doppeltgeschliffenen Dolch. Auch ein Don Juan ist er, natürlich, ein Ritter Blaubart, und er wird die jungen Frölen verderben!

Was für Ferien, zu allem, auch zum Musizieren verging uns die Lust!

Nun hatte Jul einen Aufsatz zu schreiben, mit einem Thema aus der brandenburgischen Geschichte, und dazu hatte er sich verschiedene Quellenbücher mitgebracht, auch einen Roman von Willibald Alexis, den »Falschen Woldemar, mit seiner farbenreichen Schilderung der heiligen Feme, den lasen wir zusammen, und von der heiligen Feme sprachen wir, von ihrem grausigen und geheimnisvollen Walten – vom Freistuhl, vom heimlichen Schöppengruß, von der geheimen Losung, von der letzten Wette, von der letzten schweren Sentenz – statt wie früher über die Adagios, Rondos, Scherzi, Menuetten in den Sonaten, Quartetten unserer vergötterten Meister.

Mit einem Male war's aus mit dem Süßholz hinter der Mauer. Ludjen hatte wieder einen fürchterlichen schlechten Streich gemacht, auf der Stelle mußte er fort, und zwar jetzt wirklich übers Wasser, und so kam er doch noch hin zu den Trappern und Indianern. –

Die Falschen, ha, jetzt können sie aber auf uns warten, auch zu tief hat man uns mit dem Ludjen gekränkt! Erglühen unsere Herzen in einer frisch erneuten Musenweihe.

Wie sehnten wir uns, kaum auf die Schule zurückgekehrt, nach den nächsten Ferien, um wieder an die Quartettpulte zu kommen! Kurz vorher – es ging auf die Weihnachtsferien – schrieb uns Herr Justus, es würde eine Konservatoristin da sein, Kaufmann Sausken Großmutter ihre »Schwestertochtertochter«, und er plane mit ihr ein großes Wohltätigkeitskonzert.

Gleich nach unserer Ankunft sehen und hören wir sie auch schon. Sie spielt eine Rhapsodie von Liszt. Kurzum wir sind von ihr verhext, sie ist eine Zauberin, eine Kirke! Ihre Ansichten sind unserem musikalischen Fühlen eigentlich grausam entgegengesetzt. Nicht unsere heilige musikalische Dreieinigkeit Haydn, Mozart und Beethoven – vielmehr Liszt ist ihr Gott, der uns einfachen Naturkindern so gänzlich wesensfremde, laute, pathetische, salongewaltige und naturfremde Liszt, und sie überschüttet uns mit Tiraden über Liszt. Schließlich fange ich an in aller Bescheidenheit von Haydn, Mozart und Beethoven und ihrer Herrlichkeit. Und sie aber rümpft die Nase: Papa Haydn, was ein moderner Mensch damit noch groß anfangen solle. –

Das Klavierquartett in G-Moll von Mozart bildet unsere erste Nummer, und das findet sie zu dünn im Klaviersatz, sie verdoppelt an verschiedenen Stellen die Oktaven, macht die Harmonien voller, Tremolos, damit es nach etwas mehr klinge. Das, barmherziger Himmel, hätten wir mit jemand anderem erleben sollen, totgeschlagen hätten wir ihn!

Zuletzt begleitet man die Gefeierte nach Hause, Schorse geht rechts, und ich behaupte mich an ihrer linken Seite, lasse mich von Julen nicht abdrängen. Und sie erzählt: wo sie »studiert, in der großen Kunstmetropole, am weltberühmten königlichen Konservatorium wäre jeder Lehrer eine Weltkapazität. Ich vergehe vor Spannung. Zuletzt vertraue ich ihr an, auch ich wolle einmal ganz und gar Musiker werden, das wäre mein wahres, mein eigentliches, heiliges Lebensziel.

»Nun, da kommen Sie doch zu uns,« antwortet sie mir. Sie stünde sich gut mit dem Herrn Direktor, mit allen Lehrern, sie wolle mir ein Stipendium auswirken.

Mir läuft's heiß und kalt übern Rücken, wie ich sie so sprechen höre.

Als es endlich so weit ist mit dem Konzert – das Programm ist unseren Zuhörern viel zu klassisch und schwer, fade Salonklepper hörten sie schon lieber: um Gottes willen, schon in den ersten Takten vom G-Moll-Quartett fängt man an zu gähnen, mit den Stühlen zu rücken. Und ins Schlußrondo wäscht unverschämt man hinein. Oh, Jesus Sirach, wie sagst du doch, »irret die Spielleute nicht und waschet ihnen nicht darein« –: deutlich ist's zu hören, zwo alte Damen und beide auch noch schwerhörig, sprechen über – Kochrezepte sich aus. »Ich koch's mit Petersilie,« plautzt's hinein just in die Generalpause hinter der großen Kadenz, wir hätten bersten mögen! –

Gertrud Braatfisch, die geniale Konservatoristin, oh, welch ein Glück für mich, sie zu kennen! Das Stipendium, das sie mir einmal verschaffen will, das Stipendium, das Stipendium!

* * *

Eine gute Weile dauerte der Kriegszustand noch fort, sie aber waren's, die jungen Frölen redeten zu unserer Genugtuung uns zuerst wieder an, und damit war der Bann gebrochen. Schwüle aber lag nun manchmal in der Luft, es wetterleuchtete, blitzte. Märzgewitter. Jedoch auch wenn sie zündeten, die märzgewitterlichen Blitze, blau und heiter war bei aller Empfindsamkeit das Leben doch! –

Allgemach aber neigte die schöne Zeit sich dem Ende zu, wo regelmäßig man in die Ferien heimkehrte. Für Schorse durch den plötzlichen Tod seines Vaters zuerst, er mußte aus der Prima abgehen und nach Hause kommen. Jul aber studierte, der brave, vielgelobte, er bestand mit Auszeichnung alle seine Prüfungen, und er bekam auch schnell eine gute Brotstelle in einer mittelgroßen Stadt. Schnell hatte er kurzsichtige Augen, einen Spitzbauch und eine Glatze, schnell fand er eine reiche Braut, er heiratete schnell, zeugte schnell einen Erben und noch eine Erbin, und damit machte er Schluß. Und so ist ein Staatsbürger aus ihm geworden, den man hochachtet, dem man Ehrenämter verleiht und vielleicht auch einmal einen Orden. Als er für sein Lebensziel klar sich entschieden hatte, von Stund ab interessierten trockene Pandekten ihn mehr als Haydn, Mozart und Beethoven und alle übrigen Meister zusammen. –

Die letzten Ferien. Ich verlebte sie im Elternhause, in Erwartung meiner Anstellung irgendwo als Lehrer.

Den Vater beugte das Alter. Dazu Wieschens schleichende Krankheit. Ein übler Husten will nicht wieder von ihr weichen. Ihre Magerkeit, ihre Blässe, der so eigen fremde Glanz ihrer Augen! Und die Schwester, sie bestreitet doch mit zu einem guten Teil den Haushalt. Mit den Agenturen war's leider dennoch nichts Rechtes geworden, denn nur für seine Vieh- und Hagelversicherung rührte der Vater sich ernstlich, dagegen die Feuerversicherung vernachlässigte er, und die aber brachte am meisten ein. Eine andere Gesellschaft mit einem anderen Agenten tat ihm Abbruch. Das alles lastete schwer auf mir, mir war, als müsse ich nachträglich bezahlen für jeden frohen Ferientag früher. Was mich noch besonders verstimmte, war gleich eine Aussprache mit der Schwester. »Du bist jetzt fertig,« begann sie, »und wenn du nun angestellt wirst, bist du gottlob zu Brot und am Ziel.« Und so solle ich den alternden Eltern eine Stütze sein, im Amt gut mich machen.

»Fertig« wäre ich? Nein! So war's nicht gemeint, als ich notgedrungen mich damals zum Schulmeister bequemt hatte! »Fertig«, oh, ich bin im Innersten verletzt!

Sie hatte es nicht so schlimm gemeint, denn am anderen Morgen, als ihr meine Verstörtheit auffiel und ich nicht wie sonst gleich geigte oder mich ans Klavier setzte, suchte sie einzulenken. Alle Stimmung zum Musizieren jedoch war mir vergangen.

Auch die »andere« Kraftstation versagte mir diesmal. Fehlten doch die Freunde, und ich allein bei Tante Nörchen den nähenden, stickenden, häkelnden jungen Frölen etwa das Garn halten? So sehr ich mich wahrhaftig auch hinsehnte.

Erbarmte sich meiner eine andere – eine neue Muse. Woran ich ja schon öfter laboriert hatte, mit dem Lesefieber ging's an, und ausschließlich war ich diesmal auf Verse erpicht. Ich besaß bereits eine erkleckliche Anzahl Versbücher – Reklambändchen – und eine Menge kaufte ich mir jetzt noch hinzu, und alles, was mich besonders ansprach in den blaßroten Büchelchen, lernte ich gleich auswendig.

Viele Wochen hatte ich auf die Anstellung zu warten. Nach einiger Zeit aber griff die Schwester wiederum ein. Meine Lesewut, stellte sie mir vor, stifte keinen Nutzen für mich. Ich solle mich an die richtigen Bücher machen und mich daraus auf meine demnächst beginnende Lehrtätigkeit vorbereiten. Sie hatte schon recht. Und meine Schulmeisterbücher nun, helf Gott, schon ihre trockenen Titel, mein alter Adam zerrte an allen Ketten! Aber ich fing wirklich an. Zwei volle Tage saß ich fest und studierte.

Am dritten Nachmittag höre ich plötzlich einen Einspänner heranrollen. Es ist Schorse mit den jungen Frölen.

»Du fährst mit uns aus, in den Börkeloh!«

Mir zittert das Herz: Adelaide sitzt mit im Wagen!

Sie ist die einzige Tochter des Herrn Konrektors Esping. Schorse hatte uns oft von ihr erzählt. So ganz die Tochter wäre sie ihres gelehrten Vaters, und sie helfe ihm manchmal mit die Aufsätze korrigieren.

In den Dichternamen »Adelaide« hatte ich schon damals gleich ihren Namen Adelheid veredelt.

»Silberglöckchen des Mai's im Grase lispeln: Adelaide,
Auf jedem Purpurblättchen strahlt dein Bildnis: Adelaide!«

So eng es auch ist, man rückt zusammen. Neben ihr sitze ich. Mir will das Herz aus den Augen springen.

Billa allerdings, Julens kluge Schwester, macht öfters krumme Augen herüber.

Lustig dahin geht die Fahrt durch die Wiesen, durch die herbstlichen Fluren. Die goldüberschütteten Birken. Der Geruch der Kartoffelfeuer. Stumm und steif sitze ich an ihrer Seite, in geheuchelter Gleichgültigkeit.

Endlich halten wir vor der Revierförsterei. Wir werden freundlich aufgenommen, gastlich bewirtet.

Als man sich draußen noch etwas umsieht, nimmt Billa mich auf die Seite: »Sie ist bildschön, das muß ihr der Neid lassen, und klug wie ein Buch, sicherlich wird Schorse einmal recht glücklich mit ihr werden.«

Noch mehr will sie sagen, jedoch man stört uns.

O Schicksal! Ha, aber hochsinnig will ich sein! Er soll sie haben, ich aber beanspruche meinen idealen Anteil – ideal will ich sie lieben, rein geistig, wie man sagt: platonisch, und mag auch mein Herz zerbrechen darob!

Dieser Art meine Betrachtungen, als es endlich wieder heimwärts geht. Wiederum sitze ich neben ihr. Plötzlich zitiert sie Schiller, und das aber löst mir die Zunge, gleich strömen sie mir nur so von den Lippen, Zitate aus Schiller und auch aus anderen Dichtern, alten und neuen.

Wir biegen ab ins Moor. Vor uns immer der Mond. Nun in die Wiesen, und der Mond – immer wandelt er vor uns her. Das stimmt den Gaul sogar elegisch, und plötzlich tut's einen gewaltigen Ruck und Krach zugleich: der Wagen kippt um. Großes Geschrei darob, ein wildes Durcheinander! Als die regellose Masse sich entwirrt, stellt sich heraus, ein ernsteres Unglück ist gottlob verhütet worden, nur Schrammen, Quetschungen hat's gesetzt, leichte Verstauchungen. Adelaide aber ist als einzige völlig unversehrt geblieben, und zwar durch mein ritterliches Eingreifen. In den Wagen kann man nicht wieder hinein. Einen Achsenbruch hat's gesetzt. Ich bejubele ihn heimlich, wäre ich doch sonst nicht Adelaidens Retter geworden. Mit Erlenzweigen wird die gebrochene Achse zusammengeschient und zu Fuß der Heimweg angetreten. Obschon es schon spät ist – der Tag muß würdig beschlossen werden: hin noch zu Tante Nörchen!

Die gewagtesten Strafen werden im Pfänderspiel verhängt, im Fluge vergeht die Zeit. Das »In-den-Brunnen Fallen« zuletzt, auf mein Betreiben. Muß jede und jeder in den Brunnen fallen. Natürlich auch Adelaide. Da liegt sie, o und wie Venus Amathusia! Auf die Frage nach dem Wiederherausziehen denkt alles natürlich: Schorse, jedoch meinen Namen ruft sie! Ich glührot hin. Sie streckt mir ihre Hände entgegen, und ich ergreife – drücke sie, noch nie hatte ich so viel Mut, und da:

»Füer!« schallt's durchs Dorf.

Alles ist wie versteinert.

Horch: »Bum bum bum, bum bum bum!« die Feuertrommel. Auch dazu die Feuerglocke in hastigen, notdurchhallten Schlägen, grausig anzuhören. Allgemeiner Aufruhr, alles eilt an die Brandstätte. Da, schau, der Feuerschein, die Flammen lodern, weithin sprühen die Funken, grausig der Widerschein an den Kirchhofseichen! Und wie besessen stürzt Schorse davon: »Unser Haus!«

Eiligst man ihm nach und mit hinein in die Ketten, wo die Feuereimer laufen von Hand zu Hand. Bald ausgeschöpft sind aber die vom Spritzenhause herangekarrten Wasserkufen, und leider versagt auch die alte Gemeindespritze. Haus, Speicher, Scheune, Schuppen – alles ist verloren. Entsetzlich wüten die Flammen, sie greifen über, das halbe Dorf brennt nieder!

Ich arbeite mit Adelaiden gemeinsam in einer Kette. Groß wie ihre Schönheit ist ihr Mut, ihre Tapferkeit. Wie eine edle Fürstentochter beim Untergange des alten Mexiko erscheint sie mir. Ich hatte unlängst eine aufregende Schilderung der Zerstörung Mexikos gelesen. In mir keimt ein kühner Plan. Sie dichterisch »behandeln«, sie hineinstellen in den Brand und Untergang Mexikos und sterben lassen darin mit dem Geliebten – mit mir natürlich. Und ihren Namen wandle ich um in Adalanthe. A – da – lan – the: wundervoller Name! Ein Stoff, wahrlich, wie er nur noch einem Homer, einem Virgil so von den Musen geschenkt wurde! –

Das alte Stammgasthaus, ein großer Teil des Dorfes liegt in Schutt und Asche. Hier ist das Feuer gelöscht, in mir aber brennt es weiter. Auch unglücklich stets zu lieben! Wie mir zu helfen, in meiner Herzensnot? Kein Mensch vermag's, nur die Musen können's! Die Muse der Töne, die so lange schnöd vernachlässigte, die aber zürnt mir. So möge sich meiner erbarmen die Muse der Worte. Ich bewaffne mich mit Papier und einem frischgespitzten Bleistift. Eiligst damit hinaus! Und gleich kommen mir Ideen. Am Moorrande, unter den Birken schreibe ich mein erstes Gedicht: »An Adelaide!«

Die dritte Kraftstation. Groß ist gleich meine Fruchtbarkeit. Ganze Tage über dichte ich unter meinen Musen- und Weihebirken. Ich verherrliche unermüdlich meine holde Adelaide. Auch Balladen schreibe ich, Balladen voller Liebesweh und -Not. Mit einem von Schnecken angefressenen und vielfach durchlöcherten Rhabarberblatt – wegen der großen Herzform – vergleiche ich mein von der Liebe so arg zugerichtetes Herz. Weitaus greift meine Phantasie, in mythologische Fernen, in die Ritter- und Minnesängerzeiten. Tausend Sterne hole ich herunter, alle Naturkräfte setze ich in Bewegung, in den vielen Liedern, Oden, Sonetten, Ghaselen, Sizilianen, Balladen, Romanzen, so die Muse mir eingibt und heißt vollenden. Gleich zwei Gedichtsammlungen lege ich an. Eine, betitelt »Frühe Rosen«, mit Gedichten, die nicht so völlig subjektiv gehalten sind, möglichst verblümtermaßen die Geliebte besingen und die unter Umständen auch einmal vorgezeigt werden können. Sogar ein Trinklied ist mit darunter, wenn auch ein ziemlich unfrohes, mit nur einzelnen Durakkorden. Die andere Sammlung aber ist ausschließlich bestimmt für mich selber. Ich gebe ihr den Titel: Adelaide. Untertitel: Mein Herzensbrevier.

Vorbei war's nun wieder mit der Didaktik und Methodik, wenn ich vor der Schwester forschenden Augen schändlichermaßen wie weiland auf dem Geldkasten auch manchmal so tat, als studierte ich in den Schulmeisterbüchern. Im Orte aber rang man die Hände: »Barmherziger Gott, Rentmeisters Karlchen dichtet jetzt auch noch! Das ist der Gipfel, nun ist Karlchen unheilbar verrückt.«


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