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Sehnsucht

Eine Mutter lebte – fern von ihrem Jungen,
So fern,
Daß sie nicht an einem Tage zu ihm konnte.
Und der Frühling kam –
Wie ein wilder toller Kindskopf fegte er durch die Gassen
Und brüllte vor Kraft und Lust –
Wie ihr Junge über den Bergen.
Ganze Bündel Sonnenschein warf der Sturm auf die Erde
Und wie Kerzenlichter löschte er sie aus –,
Wild vor Lust.
Und Nächte setzte der Frühling auf die Erde –
Wunderlich lichte –
Voll einer unbändigen Sehnsucht,
Nächte,
Da die junge Mutter mit ihrem Gotte rechtete,
Und da sie voll wehen Sehnens
Den Kopf in die Kissen preßte und weinte.
Wenn sie tagsüber einen kleinen Bengel sah,
Hilflos und lieb in seiner Fülle,
Dann war's,
Als ob sich ein Ring um ihren Hals legte.
Gottverlassen und grausig einsam fühlte sie sich.
Ihre stolze Gestalt fiel zusammen.
Voll Weh sah sie auf jede Mutter
Und hörte das unverständige Lallen des Kindes.
Ein quälender Haß kroch in ihr hoch,
Langsam und weh, wie eine kalte düstere Septembernacht.
Und das Leid war um sie,
Wie das Wasser um ein leckes Schiff.
Wenn die Arme dann nach Hause kam, weinte sie.
Da war kein Gott, der jede Träne sammelte
Und ein Diadem auf ihr Haupt setzte,
Auf das Haupt einer Heiligen,
Die ihren Jungen nicht haben durfte.
Da war nur ein grenzenloses Sehnen
Nach der Sonne ihres Jungen,
Eine ungeheure Sehnsucht nach dem Mund,
Nach den spiegelblanken, lebentrunkenen, frohen Augen
Und den tolpatschigen Händen ihres Kleinen.
Stunden kamen, da wurde sie irr am Leben,
Stunden, in denen der Tod
Wie ein Freund durchs Fenster schaute.

Eugen Fischer.


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