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Viertes Kapitel.
Die New Yorker Polizei

Zum erstenmal begegnete ich Dempsey – wie ich ihn nennen will –, als ich die »Ausspeisung« suchte. Ich hatte gehört, daß man dort etwas zu essen bekommen könne, aber ich hatte keine Ahnung, wo sie sei. Es war das am zweitnächsten Tage nach meiner Besprechung mit Herrn Birmingham. Ich kam zufällig an Dempsey vorbei, der den Verkehr an der Ecke von Broadway und Union-Square regelte, und ich fragte ihn. An dieser Stelle tut Broadway seinem Namen unrecht und ist durchaus keine breite Straße. Der Verkehr war sehr rege, aber Dempsey fand Zeit, freundlich zu lächeln, mich zu fragen, was ich wolle, und mir eine Stecknadel zu borgen, die ich dringend benötigte, da es mir an tauglichen Hosenträgern fehlte. Später, während der Pausen, in denen er nicht damit beschäftigt war, alte Damen unter Wagenrädern hervorzuholen, fand er Zeit, mich aufzumuntern, was ich gut brauchen konnte, mir fünfzig Cents zu leihen, was ich noch besser brauchen konnte, und mir von einem Manne zu erzählen, der einen Delikatessenladen in der Sixth-Avenue habe und einen Assistenten brauche. Polizist Dempsey meinte, ich könnte die Stelle bekommen, wenn ich sagte, daß er mich geschickt habe und daß ich Deutsch könne. Und ich bekam wirklich die Stelle und sie erwies sich als sehr interessant, obwohl das im Augenblick nicht in Betracht kam.

Ich denke keine Sekunde daran, zu sagen, daß die New Yorker Polizei ihre ganze Zeit damit verbringt, tätiges Wohlwollen gegen notleidende ausländische Vagabunden zu üben, aber diese Geschichte ist zufällig wahr, und ich habe nichts Ähnliches in London, Paris, Berlin oder Konstantinopel gefunden. Dempsey ist ohne Zweifel ein Ausnahmemensch. Vielleicht erkannte er, daß ich nicht ganz ein solcher Strolch sei, wie ich aussah. Jedenfalls ist er für mich die Verkörperung jener ganzen glänzenden Amtsgewalt, der er angehörte. Und ich kann nie den Angriff eines kleinen Schmierblattes auf diese Amtsgewalt lesen, ohne den Wunsch zu haben, ein paar Eckensteher, Raufbolde und Schnapphähne zu mobilisieren und in der Redaktion, von der dieser Artikel ausgegangen, ein bißchen Ordnung zu machen. Es gibt nur noch einen Polizisten, mit welchen man den New Yorker vergleichen darf, ohne ihn zu beleidigen – und das ist der Londoner. Doch der Vergleich würde ganz und gar nicht zum Nachteil des Amerikaners ausfallen.

Ich nehme an, daß die Polizei in aller Welt deshalb so überschwänglich wohlwollend ist, weil sie so viel von der Wirklichkeit sieht. Der Polizist in Paris ist wohlwollend und unwirksam; in Berlin ist er wohlwollend – ja, tatsächlich, das ist er – und amtlich; in Konstantinopel wohlwollend und fatalistisch; in London wohlwollend und ein Snob; in New York wohlwollend und ein Gentleman. Angenommen, zwei betrunkene Seeleute raufen auf der Straße und wollen trotz Aufforderung nicht aufhören, so würde der Pariser Polizist so tun, als ob er nichts sähe, der Berliner Polizist würde ein Regiment Ulanen zur Assistenz herbeirufen, der Konstantinopler würde die Achseln zucken und schreien: »Ist dies Allahs Wille?« und seinen Rundgang mit würdiger Teilnahmslosigkeit fortsetzen. In London und New York gleicherweise würde der Polizist die Raufenden, und wenn ihrer ein Dutzend wären, allein verhaften, aber der Londoner würde in Betracht ziehen, ob es Admirale oder einfache Matrosen seien, und seinen Knüttel nur in letzterem Fall verwenden, der New Yorker würde beide Rangsklassen mit gleicher Lust an der Sache niederpracken. Mit anderen Worten: Wenn du, gegen deinen Wunsch und Willen, unglaublich zerlumpt bist, würde man dich in London wegen Indezenz verhaften, in New York würde man dir drei Sicherheitsnadeln und ein Stückchen Bindfaden geben. Ich kann mich dafür verbürgen, denn zu einer Zeit, als ich nur ein Paar Hosen besaß und die in Fransen gingen – aber ich muß nicht detaillieren. Ich tadle nicht London. Der Polizist ehrt dort nur den Geist seiner Nation. Aber so ist es.

Zugegeben, daß der New Yorker Polizist mit seinem Londoner Bruder, wie ich ehrlich glaube, als Mensch und Mann ziemlich gleichwertig ist, woher kommt es dann, daß er all die Püffe bekommt und sein Bruder all die Zuckerplätzchen? Einfach darum, weil der Londoner gut geführt, gut gehalten und genügend zahlreich ist; der New Yorker ist es nicht. Er büßt die Fehler seiner Vorgesetzten. Ich sage das nicht auf meine eigene Autorität hin, sondern auf Grund vieler Tatsachen, die ich beobachtet habe und die mir durch Dempsey und seine Kollegen mit herzerfrischender Offenheit kommentiert wurden.

Es gibt wenigstens so viele – Dempsey sagt: zweimal so viele – Verbrecher der niedrigsten Art in New York, wie in London, Paris und Berlin zusammen. Ich habe die genauen Zahlen nicht im Gedächtnis, aber es gibt weniger Polizisten in New York als in einer der oben genannten Städte. Der »Abschaum des südöstlichen Europas« (wie Präsident Wilson wahrheitsgetreu und unvorsichtig diese Leute genannt hat, wobei er riskierte, eine bedeutende Unterstützung für seine nächste Wahlkampagne um die Präsidentschaft zu verlieren) kommt Jahr für Jahr in immer größerer Zahl in New York an und macht sich da ansässig. Die Polizei bleibt aber ungefähr auf gleichem Stand. Ja, noch mehr, der Polizist läuft ernstlich Gefahr, wenn er diese Leute verhaften wollte, nicht so sehr durch sie selbst gefährdet zu werden als durch seine Vorgesetzten. Der Magistrat ist von gewissen korrupten Politikern aus Albany und New York gewählt und diesen gefügig, und die persönliche Gefolgschaft dieser Politiker, für Wahl- und andere Zwecke, besteht hauptsächlich aus Revolvermännern und ausländischen Verbrechern. Wenn man einen notorischen Verbrecher bei der Tat verhaftet, und wenn man fünfzig einwandfreie Zeugen beibringt, so wird der Mann, ebensooft ja als nicht, als reines Unschuldslamm freigelassen werden. Ich will nochmals betonen, daß ich das nicht von mir selber habe und daß die Sachen vielleicht anders sind, als Dempsey glaubt. Aber zumindest hat er es mir so gesagt.

Solch eine Sachlage kann nicht zur Schlagkraft beitragen. Ebensowenig kann es die Existenz des Bürgermeisters – was man eben in New York unter einem Bürgermeister versteht.

Am ärgsten ist es vielleicht, wenn der Bürgermeister ein Politiker ist. Nicht viel besser, wenn er ein Reformer ist, das heißt ein verrückter Kauz. Zu meiner Zeit war ein seniler Mensch, namens Gaynor, Bürgermeister, der Sucht nach Popularität und den Würden der Präsidentschaft hatte, die er Gott sei Dank nie bekam. In Fällen, wo ihm ein Gesetz unpopulär schien, hatte er die nette Gewohnheit, in die Zeitung zu geben, er hoffe, die Polizei werde, bei Vergehungen gegen dieses Gesetz, durch die Finger sehen. Und der Bürgermeister hat mehr Einfluß auf die Polizei als irgendein Oberkommissär. New York wiederum, genau so wie ganz Amerika, ist lächerlich mit Gesetzen überlastet – absurden Gesetzchen, reinen Schikanen, die keinem etwas nützen. Jeder verschrobene Kerl mit Geld und Einfluß – was hier schließlich dasselbe ist – kann in Albany, der offiziellen Hauptstadt des Staates New York, jede Verordnung, die er will, durchsetzen – wenn er nur genug zahlt. Die meisten von diesen Gesetzen sind natürlich unanwendbar und werden auch nicht angewendet. Aber sie sind vereinigt, das heißt durcheinander gewirrt, mit jenen Gesetzen, die für die öffentliche Sicherheit und Wohlfahrt wirklich nötig sind. Der unglückselige Polizist muß fortwährend bedenken, ob er nicht bei Anwendung des geschriebenen Gesetzes ein ungeschriebenes verletzt. Nicht um ein Schloß möchte ich ein New Yorker Polizist sein; viel lieber würde ich Geld von ihm borgen.

Über die Polizeioffiziere, Hauptleute, Leutnants und so weiter hat man in letzter Zeit so viel gehört, daß über sie nicht mehr viel zu sagen ist. Ich glaube nicht – und auch Dempsey nicht, der weiß, was er spricht –, daß die Mehrzahl von ihnen korrupter ist als andere Menschen. Immerhin – sie sind freilich nur Menschen und haben ihre ererbten kleinen Schwächen. Schließlich hat London-Piccadilly seinen eigenen sauberen Polizeiskandal gehabt – und in New York gibt es eben fünfzig Piccadillys, wovon ungefähr vierzig nur auf den Tenderloin-Distrikt konzentriert sind. Fort mit den Politikern, dem Gemeinderat, dem Gesindel und vor allem mit den verrückten Bessermachern, und man wird nichts mehr über eine notwendige Reform bei der New Yorker Polizei zu reden haben. Der New Yorker Polizist ist von ganz demselben Schlag wie der Londoner. Er ist besser geschult, er hat ähnliche Pflichtbegriffe und er ist ebenso fähig ihnen zu folgen. Man muß es ihm nur möglich machen, und er wird himmlische Zustände herbeiführen – sogar in New York.

Diese Abschweifung hat nicht viel mit meiner Vagabundenzeit zu tun. Aber man hört bei uns so viel von den Mißständen bei der amerikanischen Polizei, daß es nur recht und billig ist, die Sache auch von der anderen Seite zu zeigen. So oder so, das eine ist für mich sicher: wenn Dempsey vor mir stirbt und ich ins Fegefeuer komme, so werde ich ihn dort finden, wie er den Verkehr regelt, und ich werde mich ihm mit der absoluten Zuversicht anvertrauen, daß er mich sicher geleiten werde durch das Höllentor. Und ich bin davon überzeugt, daß er in die Gefilde der Seligen um Millionen Jahre früher wird emporsteigen dürfen als jene, die heute über ihn den Stab brechen.


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