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Vierzehntes Kapitel.
Enfant Terrible

Ich denke manchmal darüber nach, wer sich über seinen Ruf mehr zu beklagen habe, London oder New York. Wenn man den Erzählungen eines Amerikaners glaubt, der nie in Europa war, so ist London eine chaotische Schmutzansammlung, die nur durch die eine Tatsache erträglich wird, daß ständiger, undurchdringlicher Nebel am Sehen hindert. Den Augen der Engländer wieder, die es nie gesehen haben, erscheint New York als eine Wildnis unmöglich hoher Wolkenkratzer, in exakt rechteckige Häuserblocks eingeteilt und von immer eiligen Horden bevölkert, die wie verrückt geradeaus laufen und auf der Jagd nach Reichtum einander schamlos niederrennen.

Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die Wolkenkratzer von New York auf einem kleinen Raum zusammengedrängt, der keine Quadratmeile groß ist, und die übrige Stadt ist eine Kreuzung von Bloomsbury und Berlin. Soviel, was Menschenwerk betrifft. Und alles Menschenwerk wird in aller Ewigkeit nicht den anmutigen Rahmen verderben können, den die Natur dieser Stadt verliehen hat. Die größten Schönheiten sind an der Wasserseite vereinigt. Am besten kann man New York von einem Dampfer aus sehn und man hat dabei nur den einen Nachteil, daß man da dem Ungeheuern Plakat nicht entgehen kann, das vor Brooklyn in Riesenlettern anzeigt, daß ein gewisses ungarisches Mineralwasser bei Verdauungsbeschwerden unschätzbar sei. Ich habe es sehr schamhaft ausgedrückt – doch das ist in der Hauptsache die Botschaft des Plakats. Es zieht die Blicke derer, die auf einem Dampfer ankommen, mindestens ebenso stark auf sich wie die Statue der Freiheit. Ich behaupte auch nicht, daß es deplaciert ist. Freiheit und Verdauungsbeschwerden sind die Grundtöne des amerikanischen Lebens. Und wer immer es so angeordnet hat, daß die Statue der Freiheit mit ihrer Kehrseite gegen Amerika stehen und mit hoffnungsvollem Ausdruck nach Europa schauen soll, als erwarte sie von dort ein wirklich verläßliches Abführmittel, hat sein Vaterland gekannt.

Das schönste an New York ist die Bequemlichkeit, mit der man es verlassen kann. Es hat einen Vergnügungsdampfer-Verkehr nach überall hin, der nirgends in der Welt besser sein könnte, außer was die Explosionen betrifft, die da öfter vorkommen. Diese Dampfer gehn nach ich weiß nicht wie vielen Häfen, Städten und Vergnügungsplätzen, in alle möglichen Entfernungen. Es ist sehr billig und man kann sicher sein, daß die Reise in jedem Fall durchaus ein Vergnügen ist.

Der Dampfer, auf dem ich eine Zeitlang Bier verkaufte, hieß – sagen wir – Jane McCracken und pendelte zwischen Battery und Lake-Island, das eine hübsche Sommerfrische im Staate New York ist, etwa dreißig Meilen von der Stadt entfernt und jenseits des Sunds noch zu erblicken, der Long-Island vom Festland trennt. Es ist das ein sehr beliebter Ausflug und mit gutem Recht, denn sogar ich, der ich pflichtgemäß zweimal täglich die Reise mitmachen mußte, hatte immer daran meine Freude, obwohl ich, je nach Umständen, mit einem Tragbrett voll Eiscremebechern und Biergläsern, oder einem Vorrat geröstetem Mais beladen war.

Ich weiß keine bessere Art, mit dem Volk bekannt zu werden, als die, daß man es bei seinen Vergnügen studiert, aber ich halte nichts von einem Menschen, der die New Yorker Bevölkerung (wie sie sich etwa in den Lake-Island-Ausflüglern darstellt) studieren wollte, ohne sie gern zu haben. Im Gehen und Ausweichen waren sie nicht so diszipliniert wie Londoner Ausflügler, aber sie waren viel geselliger und gemütlicher. Ich glaube, weil so viele Juden darunter waren, sah man da zahlreiche Familiengruppen. Ich will damit nicht sagen, daß der Prozentsatz an Pärchen zu klein gewesen sei. Aber hauptsächlich marschierten sie patriachalisch gruppiert: Großvater und Großmutter, Vater und Mutter, vier Paar Onkels und Tanten, drei Burschen mit den dazugehörigen Mädels, die von mütterlichen Augen bewacht miteinander flirteten, mit jenem tiefen Ernst, den man in London nur auf den Bänken des Hyde-Park am Sonntag Nachmittag findet. Außerdem gingen natürlich auch die Kinder mit – ganze Schwärme. Vom Geschäftsstandpunkt aus gesprochen waren uns die Kinder am liebsten, denn sie hatten einen unersättlichen Appetit auf Gefrorenes, das ich verkaufte, in kleine Waffeltüten gefüllt, fünf Cent pro Stück. Die Erwachsenen dagegen brachten häufig ihr Essen mit und hatten daher für mich viel weniger Interesse, da meine Entlohnung zum Teil aus Prozenten der Einnahme bestand.

Wir beschränkten uns selbstverständlich nicht auf die Ausflügler. Wir hatten eine große Zahl regelmäßiger Kunden, die in New Rochelle und Umgebung lebten und für die unser Schiff die angenehmste Verbindung mit New York war. Mit einigen von ihnen wurde ich sehr gut bekannt, besonders mit Helga, die die schlimmste und die faszinierendste kleine Hexe war, die ich je kennenlernte.

Eigentlich weiß ich sehr wenig über sie, denn die Auskünfte, die sie über sich selbst gab, waren je nach Stimmung des Augenblicks ganz verschieden. Ich nenne sie Helga, denn das war der erste Name, den sie mir nannte – aber später gab sie sich eine ganze Anzahl anderer Namen, wie sie ihr gerade augenblicklich gefielen. Ebenso wars mit ihrem Alter: manchmal sagte sie, sie sei fünf, dann wieder sieben, dann acht, neun, zehn, und einmal sogar, sie sei sechzehn Jahre alt – aber das habe ich nicht geglaubt. Sie war ein ungewöhnlich hübsches Äffchen mit einem frischen kleinen Gesicht voll Teufelei, einem goldenen Haarschopf und sehr langen schlanken, schwarzbestrumpften Beinen, die, wie ich glaube, das Charakteristischeste an ihr waren. Sie fing mit mir ganz skandalös zu flirten an, vom ersten Augenblick, da sie mich mit meinem Tragbrett erblickte. Und ihm oder mir machte sie dann immer ganz rasend den Hof, so oft sie an Bord kam. Sie hatte einen überaus bürgerlich aussehenden Papa und eine sehr hübsche Mama, die, wie ich bemerken konnte, sie immer ganz erstaunt betrachtete, als wundere sie sich, wie sie für so einen Balg verantwortlich sein könne. Wenn sie von ihrem Vater sprach, so nannte sie ihn »den Mann«, und bei unserem zweiten Zusammentreffen brachte sie mich in große Verlegenheit, indem sie mich samt Tragbrett zu ihrer Mutter führte und laut fragte: »Ist sie nicht süß?«

Ich erwähne sie so nachdrücklich, erstens deshalb, weil ich mich schrecklich in sie verliebte, und zweitens, weil ich ihrethalben fast ertrunken wäre und meine Stelle verlor. In Lake-Island, unserer Station, wurde das Dampfboot an einem ornamentalen Landungspfeiler festgemacht, in einer winzigen Bucht, in die und aus der man es mit größter Sorgfalt lotsen mußte. Einmal, als wir gerade landeten, stand ich neben dem Äffchen auf einer kleinen Plattform hinter dem Radkasten. Sonst war da ein eisernes Geländer, aber in diesem Augenblick war es bei Vorbereitung der Landung weggenommen. Das Äffchen, dessen größte Freude es war, den Erwachsenen Schrecken einzujagen, indem sie sich in gefährliche Lagen brachte, bewerkstelligte es, ein großes Torpedobootmodell, das ihr der Vater an diesem Tage geschenkt hatte, über Bord zu senden. Es war das ohne Zweifel ein hervorragendes Modell, aber es konnte nicht schwimmen und so verschwand es sofort im Schaum der Dampferschraube. Helga wollte schon in ein ängstliches Geschrei ausbrechen, das auf meine Verehrung berechnet war, änderte aber ihren Sinn und befahl mir mit der bezauberndsten Miene, über Bord zu springen und das Torpedoboot zu holen. Ich wollte nicht. Darauf, mit der ruhigen Bemerkung: »Dann wirst du vielleicht mir nachspringen«, stürzte sie sich prompt ihrem Spielzeug ins Wasser nach. Ertrinken ist ein Tod, nach dem ich nicht die geringste Sehnsucht habe, und ich wollte gerade Kehrteuch machen und dem Kapitän melden, ein Passagier sei über Bord, als ich irgendwie ausglitt und Helga nachfolgte. Und da ich nun einmal im Wasser war, hatte ich keinen Grund, warum ich der kleinen Hexe nicht helfen sollte von der Dampferschraube wegzukommen, die in der Luft unangenehm nahe über unseren Köpfen schwirrte. Ich habe den Eindruck, daß das Wasser nicht mehr als drei oder vier Fuß tief war. Jedenfalls krabbelten wir, nach kaum einer Minute, heil ans Land und nur meine gute Laune hatte Schaden genommen. Dann folgte eine Szene, an die ich auch noch heute nicht ohne Erröten denken kann. Zufällig waren ein Reporter und ein Geistlicher an Bord – es hätte mich auch gewundert, wenn es nicht so gewesen wäre, in einem Lande, wo diese beiden Berufe so überfüllt sind. Ich will nicht bei der schrecklichen Szene verweilen, die dann folgte. Ich habe davon nicht viel gesehen, denn ich war damit beschäftigt, von der Mannschaft trockene Kleider zu borgen, aber als ich wieder an Deck kam, hielt der Geistliche eine Predigt über wahre Nächstenliebe, und der Reporter, der alle Passagiere, die Schiffsmannschaft und die Beamten an der Landungsstelle interviewt hatte, diskutierte gerade mit dem Kapitän die Möglichkeit, das ganze Ereignis nochmals vor sich gehen zu lassen und kinematographisch aufzunehmen, und er schlug vor, den Apparat mit einem Auto schnell aus New York herzubringen.

Der freundliche Leser wird einsehn, daß mir da nur eines zu tun übrig blieb. Die geliehenen Kleider machten mich genügend unkenntlich; ein Förderwagen ging gerade zur Fähre hinüber; in einer halben Stunde war ich in New Rochelle und in weiteren fünfzig Minuten in New York – wieder einmal als arbeitsloser Landstreicher. Ich kann nicht sagen, wie traurig ich war. Das Äffchen hatte ich schrecklich gern, und abgesehen davon, war ich auf Schiff »Jane McCracken« sehr glücklich gewesen. Ich bin seinerzeit in der Welt viel herumgekommen, aber ich kann mich an nichts Schöneres erinnern als an die Fahrten, die wir nach Sonnenuntergang den Sund hinunter heimwärts machten. Es ist das eine verzauberte Küste – ähnlich der Strecke von Southampton nach Needles, nur fünfmal so lang und, besonders nach Sonnenuntergang, hundertmal so schön. Zur Rechten und Linken ist da immer eine mysteriöse Küste, die verblaßt und näherkommt, wie man sich durch den Kanal windet und dreht. Beim Aufbruch schimmert zur Rechten das schmelzende Gold und Rostrot und Safrangelb des Sonnenuntergangs und vertieft sich zu Violett. Und plötzlich bricht Long-Island, das hinter einem liegt, in einen Strahlenkranz feuriger Pünktchen aus, da man dort die Lichter anzündet. Die Lichter sind nur elektrisch und der Kranz besteht eigentlich aus häßlichen Dingen – einem Riesenrad, einer Scenic Railway und so weiter – aber während man sich von ihnen entfernt, verwandeln sie sich in Pagoden und verzauberte Paläste und ungewisse, tanzende Formen, die zu vage sind, Gedanken zu wecken und nicht Visionen. Der Sund ist ganz still, nur eine leichte Brise fächelt die Schläfen und ringsum vertiefen sich die blassen Schatten der Inseln zu purpurnem Dunkel. Und irgendwo in der Höhe sieht man die blutroten und blattgrünen Spitzen vorbeiziehender Schiffe. Und kleine zuckende Lichter blitzen an der wachsenden Küste auf und weit hinten wird das Schimmern der goldenen Paläste des Feenlands blasser und blasser. Alles scheint eingelullt in ewige Unbeweglichkeit. Nur das Boot rauscht durch den Raum auf Flügeln der Nacht.

Irgendwo zu Häupten, feierlich kreisend durch Wogen und Sternenlicht, gehn die großen Schraubenflügel, die die »Jane McCracken« wie eine schwerfällige Spinne erscheinen lassen, die sich über ein unsichtbares Netz bewegt. Die Lichter von Lake-Island verblassen allmählich in ein hohes Glühen und andere Sterne heben sich langsam aus den unsichtbaren Tiefen, in die man hineinfährt. Da, auf Oberdeck, mit der Geliebten zu sitzen und hinaufzuschaun, wo hoch oben am Himmel der einzige, einsame goldene Stern (obwohl er eigentlich nicht romantischer leuchtet als das Zifferblatt des Metropolitan-Gebäudes auf dem Madison-Square, der ein Dutzend Meilen entfernt ist) dir erzählt, daß irgendwo das wahre Paradies auf dich wartet, das man Heimat nennt ...

Aber das sind Dummheiten, die nur für achtbare und verheiratete Leute passen, für die Herren und Sklaven kleiner Hexchen mit warmen zutraulichen Händen, und nicht für Vagabunden, die im Leben nichts zu tun haben, als Aufträge auf Gefrorenes und Bier entgegenzunehmen. »Gefrorenes! Gefrorenes! Wer, meine Herrschaften, wünscht Gefrorenes? Fünf Cent! Nur fünf Cent!«


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