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Zehntes Kapitel.
Wer hat den Knopf?

Ich hätte auch unter dem neuen Besitzer bei dem Zirkus bleiben können, aber dazu hatte ich keine rechte Lust. Der Abschied von Gladys tat mir leid. Ich muß gestehn, daß sie darüber, mich zu verlieren, nicht viel Kummer zeigte, sondern, als ich ihr den neuen Mahout vorstellte, für den Inhalt der Taschen des neuen Wärters tieferes Interesse hatte als für die Abschiedsgrüße des alten. Ich tadle sie darum nicht, zumal sie, als ich sie einige Monate später zufällig in Paterson traf, mich unzweifelhaft erkannte und ihre Rüsselspitze gegen die Tasche, in der ich sonst immer Zucker hatte, so schnurstracks lenkte, wie ein Pfeil auf sein Ziel losschießt. Sie hatte ein ganz anderes Temperament als Chris. Nach New York zurückgekehrt, besuchte ich ihn sofort, und als er mich wiedersah, heulte er vor Freude. Aber das tat ich beinahe auch selbst.

Als ich von den Wolffs fortging, hatte ich dreißig Dollar in der Tasche und ein ganzes Album mit Photoansichtskarten. Es war charakteristisch für Herrn Wolff, daß alle Photographien ihn in der Verkleidung eines Geistlichen zeigten; wie er über einen dicken Wälzer gebeugt war; wie er seine Augen in ekstatischer Begeisterung gen Himmel hob; oder eine Stellung, auf die er besonders stolz war: im Gebet versunken vor einem Kelch – wobei leider, durch die Heimtücke der Perspektive, die Schuhabsätze etwas überlebensgroß geraten waren. Diese Photographie trug das Autograph »Hochwürden Meander S. Wolff«. Seine Frau zog es vor, sich in zwei verschiedenen Posen meiner Erinnerung einzuprägen – als Marketenderin, mit den Bären, die ihre Kunststücke machen; und als Mutter, wie sie ihren Erstgeborenen mit jener Intensität behandelte, die von Photographen der Mutterliebe vorbehalten wird und die Angst erweckt, das Kindchen werde darüber krank werden und die Aufnahme verderben. Sie waren sehr gute Leute, die Wolffs, und wenn ich einmal in den Himmel komme, so erwarte ich, sie dort zu treffen. Bezüglich der Frau Wolff bin ich nicht ganz sicher, sie dort zu treffen, denn ich weiß, sie wird darauf bestehen, ihre Bären mitzunehmen, und wenn die Erzengel amtseifrig und pedantisch sind, so werden sich da Schwierigkeiten ergeben.

Ich hatte beschlossen, nach New York zurückzugehen, denn wenn man Geld in der Tasche hat, so wäre es unrecht, Leuten in weniger glücklicher Lage den Markt zu verderben. Ich hatte aber noch keine zehn Meilen heimwärts zurückgelegt, als ich mich verliebte und die Wanderung abbrach. Ich verliebte mit nicht in eine Frau, sondern in zwei – ich glaube, ich sollte mich schämen, das zu gestehen. Das geschah in Hopkins auf Long-Island, einer idealen Gegend, wäre sie nicht durch Golfspieler unsicher gemacht. Hopkins liegt im Walde, mehrere Meilen von den Golfplätzen entfernt, und ich habe nie einen hübscheren Ort gesehen und einen, der das Bedürfnis – das auch diejenigen unter uns, die Vagabunden sind, gelegentlich fühlen können –, sich seßhaft zu machen und zur Ruhe zu kommen, mehr befriedigen könnte. Das erste, was mich dort anzog, war ein kleiner Wasserlauf, der von nirgendwo entsprang und über einen natürlichen Teppich aus Gras rieselte. Ich war durstig und ich beugte mich nieder um zu trinken, und während ich trank, fiel aus einem Kirschbaum ein riesiger Neger auf mich herab – ich meine das ganz wörtlich. Er verletzte mich nicht, aber wir rangen und wälzten uns im Bache herum, und dementsprechend hielt ich seinen Kopf so lange unter Wasser, bis ich glaubte, er sei ertränkt – und dann erschienen Sarah und Billy.

Ich wußte nicht, wer sie seien, und sie wußten sicherlich nicht, wer ich sei, und als sie bis dorthin gekommen waren, wo ich in übler Stimmung saß, da streckten sie ihre festgeschlossenen Patschhändchen gegen mich aus, und, um die Wahrheit zu sagen, auch gegen den Neger, der schnatternd wie eine verwundete Ente am Bachrand saß – und sie sagten: »Knopf – Knopf – wer hat den Knopf?« Sie sagten es mit jener komischen, piepsend hellen Kinderstimme, die manchmal begeistern kann und manchmal unerträglich ist – je nachdem, wie man die letzten sechs Monate gelebt hat.

Ich war in die Knopfgeschichte nicht eingeweiht, aber ich fühlte, ich müßte die Hände ausstrecken, wie sie es machten – und Sarah steckte mir etwas in die Hand und schmollte. »Er hat den Knopf«, sagte sie – und ich hatte ihn wirklich, und es gehörte offenbar zum Spiel, daß, wer den Knopf hatte, das Spiel verloren habe. Es war ein kleiner weißer Knopf. Ich habe ihn heute noch.

Sarah war zweieinhalb Jahre und Billy war ein Jahr älter, und sie hatten Jake, so hieß der Neger, befohlen, auf den Kirschbaum zu steigen und ihnen Kirschen zu pflücken. Und weil es Billy und Sarah waren, so war er hinaufgestiegen, obwohl die letzte Kirsche schon vor Wochen gepflückt worden war – und wenn du es gewesen wärest, du hättest das gleiche getan. Billy, muß ich sagen, war eine junge Dame. Sie war es, die die Konversation fortsetzte. »Ich habe vorhin etwas sehr Lustiges gesagt«, vertraute sie mir in ihrer etwas abrupten Art an.

Ich muß wohl sehr interessiert ausgesehen haben, denn sie wartete nicht auf Antwort. »Ich sagte: Hop,« erklärte sie, »und das bedeutet: fall hinunter!«

Wie ich schon gesagt habe, ich bin kein besonderer Freund von Babies. Im allgemeinen ziehe ich Elefanten vor, denn man hat keine Scheu, sie es fühlen zu lassen, wenn sie einen ärgern. Aber Billy und Sarah konnte ich wirklich gut leiden. Vor allem waren das keine Babies, sondern sie waren unendlich alt – man mußte nur sehen, wie sie gingen, um dessen ganz sicher zu sein. Sie gingen immer zusammen, Hand in Hand, ziemlich steif und mit einer gewissen Vorsicht. Sie waren nicht besonders hübsch – wie ich mir von Müttern aus der Nachbarschaft habe sagen lassen – aber sie hatten weiche Fingerchen, die sie vertrauensvoll um die Hand des Erwachsenen legten, und große runde Augen, die etwas im Innern aufregten, wenn sie einen ansahen; und ich weiß es ganz gewiß, obwohl es Jake nicht zugegeben hat, daß er sich aus den Zweigen des Kirschenbaumes auf mich fallen ließ – obwohl er sah, daß ich ein weißer Mann und stark sei und daß ihm daraus Unannehmlichkeiten entstehen könnten – und er tat es nur, weil er glaubte, sie würden darüber lachen. Sie lachten darüber nicht – ich habe sie nie lachen sehen, außer über ihre eigenen inneren Einfälle, die sie nie einer lebenden Seele mitteilten – aber er versuchte es immerhin. Ich machte für sie viel verrücktere Dinge, und ich bin ein sehr kluger Mann, und sie sind nur Bauernfratzen.

Ich hatte es damals nicht nötig zu betteln und sah mich auch nicht nach einer Gelegenheit um, leichte Hausarbeit zu machen, aber ich hatte dabei wirklich nichts zu reden. Sie gingen sehr steif, je eins auf jeder Seite, und nach genau zehn Schritten ergriffen sie wie auf Kommando jedes je eine Hand von mir – sie hatten weiche Fingerchen, wie ich schon gesagt habe, Patschhändchen, die in einem den Wunsch erwecken, daß man, wie sichs gehört, vor zwanzig Jahren geheiratet und eine sichere Anstellung in einer Bank hätte. Unsere kleine Prozession – Jake, der schon mörderisch eifersüchtig war, folgte hinten nach – ging zu einem Holzhaus, das vom Grund bis zum Giebel ganz mit Wistaria überwachsen war. Es stand in einem kleinen Hain, der mit Blumen übersät war, von denen die meisten purpurn und blau waren und auf die starker Sonnenschein niederstrahlte. Und dahinter lagen braune Felder und Wälder, die schon langsam golden wurden. Wir gingen durch eine Hintertüre hinein – ich konnte nichts dafür – und gerade als wir eintraten, wandte ich den Kopf halb zurück, ich weiß nicht mehr aus was für einem Grund, und sah eine blaue Vision des Meeres durch die Bäume schimmern. Wenn wir älter werden, erinnern wir uns der Dinge eher durch solche kleine impressionistische Bilder als durch wirkliche Ereignisse. Das Meer war, wie gesagt, blau – echtes Blau – und daneben war das falsche Blau einer Blume – und darüber ein perlmutterner Hauch mit goldenen und rosigen Säumen, und dann das graue Tor, das sich langsam öffnete, in eine umbrafarbene Tiefe, und ein Antlitz – es erschien aschfarben –, das hervorlugte. Auch die Kinder waren in dem Bilde, obwohl ich auf sie nicht blickte und sie nicht sehen konnte. Sie waren die Träger einer warmen Farbe, die die Ecken füllte. Das Bild sehe ich auch jetzt noch oft – obwohl ich in Chelsea lebe und keinen anderen Ausblick habe als den auf Dächer und Schornsteine. Sogar Jake – der fünf Fuß weit zurück und kläglich unsichtbar war – erscheint in diesem Bild als ein trübes Braun.

Das Gesicht war das der Mutter, die Frau Hopkins hieß und deren Mann Farmer war. Vorgestellt wurde ich mit einem »Er hat den Knopf« und ich nehme an, daß diese Art für Frau Hopkins nichts Neues war, denn für sie war damit alles erledigt, und bevor ich noch etwas erwähnte, sagte sie mir, ich dürfe in der Scheune schlafen. Am Abend beteten wir – die Familie, Jake, ein Mädchen und zwei Knechte –, und ich schlief wie ein Lamm, und um vier Uhr früh erwachte ich. Das war, wie sich später zeigte, genau die Zeit, zu der man von mir erwartete, daß ich erwachen sollte, und dadurch bekam Herr Hopkins eine sehr gute Meinung von mir. Ich vermute, daß Sarah, die die mystischere von den beiden war, einen ihr besonders befreundeten Engel meinethalben bemüht und ihm gesagt hat, ich sei kein Frühaufsteher.

Ich will nichts weiter über Billy und Sarah erzählen, denn ich möchte nicht gern für sentimental gehalten werden. Wie Jakob, diente ich drei Wochen um Sarah und wiederum drei Wochen um Billy, indem ich Holz hackte und Wasser pumpte, und eines Morgens merkte ich, daß ich in Gefahr sei, die in Amerika am stärksten grassierende Krankheit zu bekommen, die Sentimentalität – und da benützte ich einen Augenblick, wo, wie ich wußte, Sarah und Billy mit ihrer Schildkröte beschäftigt waren, behob mein Geld und machte mich davon. Ich weiß nicht, ob die Schildkröte wild oder hauszahm war und von irgendwo durchgegangen, doch wir fanden sie, wir drei, am Rande des Baches, als man glaubte, ich hacke in der Scheuer Holz. Wir machten in ihre Schale ein kleines Loch, zogen ein Stückchen Bindfaden durch, banden die Schildkröte fest und nannten sie Alfonso – wenigstens ich nannte sie so; Billy und Sarah sagten »Fans«. Wir bauten aus Lehm und Zweigen einen kleinen Damm über den Bach, falls Alfonso baden wollte, aber ich glaube, das wollte er nie. Und wir erfanden über ihn eine Geschichte – er sei ein spanischer Prinz, der die Prinzessin Glanzäuglein suche, und eine böse Hexe habe ihn in eine Schildkröte verwandelt, und wir verbrachten sehr viel Zeit damit, ihn gegen weitere Verzauberungen zu schützen.

Ich nahm den Pfad, der durch den Wald führte, und wie ich an der Quelle vorbeiging, sah ich zwei kleine Gestalten in blauen Overalls und zwei Flachsköpfchen, die eng aneinandergelehnt sich über den Wasserlauf beugten – und in England haben mich die dummen Leute wegen meiner harten Zeiten in Amerika beklagt.


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