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Neunzehntes Kapitel.
Geh mit der Menge

Während ich in New York war, geschah es, daß der überall bekannte und mancherorts auch beliebte »Chef Crocker« zufällig aus Europa, das er aus einem Grunde, den er selbst am besten kennen dürfte, zu seinem ständigen Sitz erwählt hat, zurückkehrte. Er wurde natürlich von vielen Reportern begrüßt und er gab ihnen einen Edelstein von einem Gedanken hin, den ich seither nicht vergessen habe. Er danke Gott, sagte er, daß er wieder in die Stadt zurückgekehrt sei, die auf moderne und fortschrittliche Art verwaltet werde.

Freilich kann Herr Crocker die Stadtverwaltung besser beurteilen, als ich je hoffen dürfte, es zu können. Ich habe mir sagen lassen, daß er sein Leben, seine Intelligenz und sein großes Vermögen freigebig dazu verwendet habe, die Reinheit zu fördern und Beutelschneiderei und ähnliche Mißstände aus dem Stadtverwaltungsleben zu beseitigen. Es war deshalb meine Absieht, ihn als den typischen amerikanischen Bürger hinzustellen, doch ein anderer amerikanischer Bürger, der mein sehr guter Freund ist, drohte mir, mich umzubringen, wenn ich etwas Derartiges täte.

Als Fernstehender kann ich nicht sagen, inwiefern Herr Crocker recht hat. Ich will deshalb nur behaupten, daß ich zwar mit dem antieuropäischen Wink, den sein von mir zitierter großer Gedanke enthält, nicht einverstanden bin, daß ich aber durchaus damit übereinstimme, was Herr Crocker im übrigen sagte: daß nämlich New York weit mehr als alle andern Städte ein Beispiel sei für den Fortschritt der Demokratie. Insofern es Absicht und Ziel der Demokratie ist, die Menge über das Individuum zu stellen, kann New York sicherlich Glasgow etwas vorgeben; Manchester folgt in weitem Abstand und London kann überhaupt nicht mitreden.

Ich bin durchaus kein Anhänger der Demokratie. Wenn ich etwas in eine Regierung dreinzureden hätte, was Gott sei Dank nicht der Fall ist, so wäre mir ein wohlwollender Despotismus am liebsten. Ich glaube, es liegt nicht viel am Untergang von zehntausend Ziffern, wenn dadurch ein Mann zu seiner höchsten Vollendung gebracht wird. Doch ich weiß, das ist eine sehr unfromme Meinung, für die ich in der andern Welt noch bitter zu büßen haben werde. Sei dem wie immer: New York ist für mich die interessanteste aller modernen Städte, mit denen ich je persönliche Bekanntschaft gemacht habe. Mehr als jede andere Hauptstadt verkörpert sie jene Seite der Demokratie, deren Leitsatz es ist: Nicht alle für einen, sondern einer für alle.

Wir lachen in London laut, in New York etwas versteckter – mit »wir« meine ich die Leute, die davon leben, daß sie dem Publikum schmeicheln – über den Kautschukmenschen, den Mann, dessen Nacken durch die fortwährende Anstrengung über die Köpfe der Menge zu hinwegzusehen, elastisch geworden ist. Doch er ist ein Typus für die ganze demokratische Gemeinschaft der Zukunft. Ich kann mit Autorität davon sprechen, denn ich war eine Zeitlang eines der Objekte seiner ernstesten Beachtung. Das heißt, daß ich, nachdem ich meinen Posten als Abteilungs-Stellvertreter-Expreß-Aufzugs-Redakteur aufgegeben, drei Wochen lang in einem Schaufenster auf dem Broadway saß, als Illustration der Vorzüge eines Rasiermesserabziehapparats. Es war das tatsächlich ein sehr guter Abziehapparat, obwohl ich nach einiger Zeit ein Vorurteil gegen ihn bekam. Doch hauptsächlich figuriert er jetzt in meiner Erinnerung als etwas, was von unzähligen runden roten Dingen umgeben ist, die wie Anemonen in einem Aquarium aussehen, die alle gegen die Scheibe gepreßt sind, und unzählige ernste Augen, die mich kuhhaft anglotzten. Sie pflegten mich so sehr zu faszinieren, daß ich ganz vergaß, daß ich mit den Rasiermessern, die ich geschliffen hatte, Holzsplitter abschneiden solle, und einfach zurückstarrte. Nicht, daß das die Menge verringert hätte. Nachdem sie einmal dabei waren, so hätten sie nicht zu starren aufgehört, und wenn man einen schwarzen Vorhang vor das Schaufenster gezogen hätte. Ich gewann einmal einen Dollar von einem naiven New Yorker durch einen Trick, der in London sehr alt, in New York freilich neu ist. Ich wettete mit ihm, ich könne eine Menge von tausend Menschen in zehn Minuten zusammenbekommen, einfach dadurch, daß ich ruhig dastünde. Das gelang mir auch und in weniger Zeit, indem ich auf die Ecke einer Schneiderauslage starrte. Ich weiß nicht mehr, ob die Polizei drei oder vier Leute mit ihren Knüppeln totschlagen mußte, bevor sie den Gehsteig säubern konnte. Ich glaube, es waren vier. Wenn ein Schneider in London für die hohe Qualität seiner Ware Reklame machen will, behauptet er, sie seien nur für wenige Auserwählte. In New York faßt er es etwa folgendermaßen ab: »Sieben Millionen eleganter junger Herren tragen unsere Zehn-Dollar-Konfektionsanzüge. Gehen Sie mit der Menge!« Und das tun sie auch. Kein echter New Yorker würde daran denken, ein paar Hosen zu tragen, wenn er nicht wüßte, daß wenigstens eine Million anderer Leute die gleichen tragen. In meinem Schaufenster, gerade über meinen Kopf, war eine große Tafel, auf der angegeben war, wieviel Millionen von meinen Rasierapparaten schon verkauft seien. Zu meinem Dienst gehörte es, daß mir jede halbe Stunde ein Telegramm überreicht wurde, das ich mit einem Ausdruck der Verwunderung öffnen mußte, um danach eine weitere halbe Million zu der Summe über meinem Haupte hinzuzufügen. Ich erinnere mich, wir begannen mit eineinviertel Millionen und ich machte da einen Vorschlag, der keinen Beifall fand.

Es war das ein neuer Artikel, der eben an diesem Morgen auf den Markt gekommen war, und ich meinte nun, man könnte ebensogut mit einer wirklich eindrucksvollen Zahl beginnen – zehn oder zwanzig Millionen. Der Geschäftsführer war darüber sehr ungehalten. Er sagte, der Besitzer sei das Haupt der, ich weiß nicht mehr welchen, religiösen Gemeinschaft und habe sein Leben lang Geschäftskniffe und Übertreibungen bekämpft. Und wenn ich das Publikum betrügen wolle, sollte ich lieber anderswo hingehen. Das machte ich auch nach einiger Zeit, denn es war da ein anderer Laden, ein paar Häuser weiter, wo sie einen Mann brauchten, der in einem neu erfundenen Stuhl zurückgelehnt dasitzen mußte, und nichts zu tun hatte, als einen Roman zu lesen, während ein kleiner Negerjunge für ihn die immer größer werdenden Ziffern des Absatzes auf die Tafel schrieb, und das gefiel mir viel besser, und ich glaubte, daß es meinen Fähigkeiten besser entspreche. Ich mußte allerdings ziemlich lange auf den Posten warten, denn es bewarben sich sehr viele darum, und inzwischen bekam ich vom vielen Rasiermesserschleifen Schwielen an den Händen. Dennoch tat es mir später leid, als ich erkannte, man erwarte von mir, daß ich immer wieder denselben Roman lesen solle, um Abnützung zu vermeiden. Das Buch war von Frau Humphry Ward, der englischen Courths-Mahler, und ich lernte es auswendig und sagte es mir selbst in der Nacht auf, und ich glaube, ich wäre verrückt geworden, hätte ich nicht eine glänzende Idee gehabt. Ich machte dem Geschäftsführer den Vorschlag, es würde beim religiösen Publikum guten Anklang finden, wenn ich etwas vorlese, was eine bessernde Tendenz hätte. Dieser Gedanke gefiel ihm, und er verschaffte mir eine billige antiquarische Auflage vom Alten Testament, das, wie er sagte, Juden und Christen gleichermaßen gefallen würde, und ich lernte auch das auswendig; was mir später sehr zustatten kam, als ich eine Berufung als Geistlicher bekam – aber das gehört nicht hierher.

Die Ähnlichkeit der demokratischen Menge ging mir zum ersten Male lebhaft auf, als ich eines Tages bemerkte, daß alle Anzüge der Männer, die mich anstaunten, genau von demselben Schnitt und derselben Farbe, daß ihre Lippen in genau derselben Linie gekrümmt waren, die Haare hinter den Ohren in genau derselben Breite rasiert, und daß ihre Hüte in genau demselben Winkel saßen, und daß sie ihre Köpfe immer über die linke Schulter neigten, niemals über die rechte – alles in genau derselben Art. Darnach studierte ich die Sache genauer, und es war niemals anders. Wenn ein Mann einen Überrock trug, machten es alle so, und wenn ein Mann eine besondere Art Zigarre rauchte, machten es alle so – und ganz dasselbe war es bei den Frauen. Zuerst kam mir das rätselhaft vor, denn ich konnte nicht erkennen, wie sie so genau diese Veränderungen bemerken konnten. Schließlich fand ich heraus, es sei durch das Zeitunglesen. Es war das ein wirklich fürchterlicher Frühlingstag, als ich sah, daß die Hälfte der Männer Strohhüte und die andere Hälfte schwarze steife Hüte trugen. Es war ein schrecklicher Ausdruck der Unsicherheit in ihren Gesichtern und sie sahen auf dem Gehsteig fortwährend einander an, und ich hatte Angst, es könne da eine Revolution oder Gott weiß was ausbrechen. Der Grund dafür war, daß das »Evening-Journal« und der »Telegraph« nicht gleicher Meinung gewesen waren, ob der Strohhuttag auf den Mittwoch falle oder auf den Donnerstag. Es hatte etwas mit dem Gregorianischen Kalender zu tun, und mit der Tag- und Nachtgleiche. Doch das Resultat war ganz fürchterlich. Ich weiß nicht mehr, wie viele Selbstmorde auf diese Unstimmigkeit zurückzuführen sind, und am Donnerstag, als beide Autoritäten gleicher Meinung waren, daß der Tag nun da sei, an dem Strohhüte »de rigeur« wären, ging ein Seufzen der Erleichterung durch die Stadt – und wahrscheinlich auch durch den Staat –, daß der Broadway wie das Innere eines Vulkans brauste.

Der wahre Grund für all das ist der heftige Wunsch, als Vollamerikaner zu gelten. Wenn man sich daran erinnert, daß nach dem offiziellen Bericht von der ganzen Bevölkerung in New York nur drei Individuen in Amerika geboren sind, wovon zwei in zarter Kindheit starben und der dritte auf dem elektrischen Stuhl, so wird man einsehen, daß dieses Ideal nicht so leicht zu erreichen ist, wie es scheint, oder überhaupt unerreichbar wäre, gäbe es nicht die Zeitungen und die Schneider mit ihren Annoncen. Dank ihnen wird jeder ein geborener New Yorker, so wie er aus Krakau, Odessa oder Kaposvar angekommen. Kaum daß er gelandet ist, wird er von seinen Verwandten in Beschlag genommen oder, wenn er keine hat, von den Einwanderungsbeamten und mit der vorschriftsmäßigen Kleidung, dem vorschriftsmäßigen Hut, Lächeln, Schritt, der Art, die im Augenblick gerade am meisten amerikanisch ist, versehen, und so geht er sofort in der ununterscheidbaren Menge auf. Binnen drei Wochen hat er gelernt, genau so wie seine übrigen Mitbürger zu denken; binnen einem Monat, so zu sprechen; nach einem Jahr ist er schon in Yersey-City geboren, und sein Ururgroßvater ist von England herübergekommen. Das ist der Grund, weshalb, wenn man in Amerika Erfolg hat, es ein wirklich großer Erfolg ist. Wenn ein Mensch ein Buch bewundert, ein Theaterstück, einen Shimmy, eine neue Sorte Frankfurter Würstchen oder Religion, es die ganze Bevölkerung einmütig nachtut – und ebenso beim Gegenteil. Dasselbe ist es in der Politik, im Patriotismus und in der Moral. »Geh mit der Menge,« sagt der eingeborene New Yorker, »und du kannst nicht fehlgehn.«

Als treuer Untertan eines Monarchen mit einer Aristokratie und einem Katechismus, der mich an die Pflichten gegen meine Oberen erinnert, könnte ich darüber lächeln, wäre es nicht auch heute in England soweit gekommen, daß der Demos einen Sitz unter den Göttern beansprucht. Wenn wir bereit sind, zuzugeben – ich tue es nicht –, daß der Diener ebensogut oder besser ist als der Herr, dann hat Herr Crocker ohne Zweifel recht. Wir alle gehen denselben Weg, New York nur ein bißchen rascher als London, und, wenn die Berichte wahr sind, Peking schneller als beide. Laßt uns denn alle nach Kräften zusammenwirken, daß allüberall in der Welt die Zeit komme, wo wir einstimmig am Strohhuttag unsere Pelzmütze gegen den Strohhut austauschen.


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