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V.

Unser Besuch hatte am Montag begonnen, und wir waren daher am folgenden Sonntag schon ganz im Schlosse eingewohnt. Allein auf solchen Kontrast zwischen den Sonntagen im Schloß Davenant und in Netherby waren wir nicht gefaßt. So ernst auch zu Hause der Sabbath war, so hatte er doch stets etwas Festliches. Der Speisesaal war frisch gekehrt und mit reinem Sande bestreut. Vater und die Tanten, Knechte und Mägde hatten ihre besten Kleider an. Des Morgens wurde dann immer ein Psalm gesungen, und der bloße Klang meiner Stimme, vermischt mit den vollen tiefen Tönen meines Vaters, machte mir Vergnügen. Nach dem Frühstück machten hierauf Roger und ich stets mit ihm einen Spaziergang durch die Felder, wobei er uns auf hundert Dinge in der Natur aufmerksam machte, die wir ohne ihn nie bemerkt hätten. Das eine Mal war es die kleine braune und weiße Feldmaus, welche wir, vorsichtig heranschleichend, mit Hülfe ihres Schwanzes und ihrer Klauen in ihr kleines, rundes, von Grashalmen geflochtenes Nest klettern sahen, das an einem Getreidehalm hing. Ein anderes Mal zeigte er uns das Sommerhaus eines Eichhorns mit seiner Kinderstube voll junger Eichhörnchen, und sein mit Heu gefüttertes Winterhaus eingeklemmt zwischen die Aeste eines alten Baumes, oder eine Colonie Ameisen, die ihre Wohnungen im Walde mit kleinen Zweigen und trockenem Laube deckten. Zuweilen machte er eine Parabel daraus und zeigte uns, wie jedes Geschöpf seine Feinde hat und sich vertheidigen oder untergehen muß. Manchmal beobachtete er mit uns das Ausschlüpfen eines Schmetterlings aus der Larve, oder die Libelle, welche aus ihrer ersten Heimath zwischen dem Schilf in der Bucht zu einem neuen Leben der Freiheit im warmen Sonnenschein entschwebte. Bald zeigte er uns, wie die Feldspinne der Kriegswissenschaft vorgegriffen hat, wie sie ihre Bollwerke aufwirft und jeden schwachen Punkt mit ihren feenhaften Strebepfeilern stützt und stets zwischen den entferntesten Außenwerken und der Citadelle Verbindung unterhält. Bald lehrte er uns den verschiedenen Gesang der Vögel – der Drosseln, der Buchfinken, der Amseln und Nachtigallen – unterscheiden. »Gott,« pflegte er zu sagen, »hat die Wälder mit Schaaren heiliger Sänger, melodischer Troubadours und fröhlicher Minstrels bevölkert, einige davon mit einem einzigen süßen, eintönigen Triller, oder einem glockenähnlichen Laute, einem fröhlichen Zirpen oder Zwitschern begabt, während andere in endlos mannigfaltigem Gesang überströmen, und es wäre grober Undank für ein solches Concert, wenn man sich nicht einmal bemühen wollte, eine Stimme von der andern unterscheiden zu lernen. Zuweilen beobachteten wir mit einander die Krähen in der großen Ulmenallee, hinter dem Hause; wie streng sie auf ihre Eigenthumsrechte hielten, indem die alten Vögel jedes Jahr dasselbe Nest beanspruchten, während die Jungen sich neue Nester bauen mußten. Auch sprach er dann und wann von den verschiedenen Regierungsformen bei den Thieren, wie die Bienen eine erbliche Monarchie haben, aber keine andere Aristokratie anerkennen, als die des Fleißes, und ihre Drohnen vor dem Winter umbringen, damit wer nicht arbeite, auch nicht zu essen brauche; und wie die Krähen einen Reichstag halten.

Ueberall lehrte er uns in der Schöpfung wunderbare Verbindungen der Gegensätze erkennen: wie zum Beispiel die feste Ordnung und die freie selbständige Thätigkeit, Einfälle scherzhafter Fröhlichkeit, frei wie das wildeste Kinderspiel und zugleich eine Unbeugsamkeit des Gesetzes, genauer als die pünktlichsten Berechnungen des Mathematikers; »Knechtschaft, in vollkommener Freiheit;« zarte Schönheit bei einfacher Nützlichkeit; verschwenderischen Ueberfluß bei sorgsamer Sparsamkeit. Und dabei machte er uns fühlbar, daß Gott die Triebfeder dieser Ordnung, die Quelle dieses Ueberflusses, das Lächeln all dieser Heiterkeit, die Seele dieses Gesetzes sei. Daher geschah es oft, daß wir nach solchen Morgenspaziergängen mit ihm in ehrfurchtsvolles Schweigen versanken, daß das heitere Tageslicht uns so feierlich erschien wie die sternbesäte Mitternacht in der erhabenen Gegenwart des Höchsten, und daß wir beim Eintritt in die Kirche eher aus dem Tempel als in denselben zu gehen glaubten; denn so heilig auch der Ort des Gottesdienstes und der Todten uns war, so schien doch die lebendige Welt die wir verließen, nicht minder heilig und erhaben.

Die andere goldene Stunde unseres goldenen Tages (denn dies war der Sonntag stets für uns) war des Abends, wenn Vater mit Roger und mir in seiner Stube die Bibel las. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was er uns darüber sagte. Ich weiß nur, wie er uns Liebe und Ehrfurcht für die heilige Schrift einflößte; für ihre Bruchstücke von Lebensbeschreibungen, wodurch man die Menschen besser kennen lernt als durch ganze Bände voll Geschichten; für ihre Charaktere, welche nicht bloße Darstellungen von Grundsätzen, sondern wirkliche Menschen sind, für ihre Briefe, die nicht blos an einen Einzelnen gerichtete Predigten sind; für ihre Predigten, die nie aus bloßen, auf keine besondere Zeit oder Stelle anwendbaren Dissertationen bestehen, sondern Reden sind, welche eigens auf die Bedürfnisse einer Versammlung und die Umstände eines Ortes gerichtet sind und gerade darum Lehren der Weisheit für Alle enthalten; für ihre Gebete, die nie zu Predigten werden wie von einer Kanzel herab, sondern kurze Hülferufe aus dem Staube sind, oder Flammenströme einer Anbetung, die sich über die Sterne schwingt, oder die demüthige Bitte der Kinder um das tägliche Brod; für ihre Bekenntnisse, welche wie große Blutstropfen sich einem angsterfüllten Herzen entringen; für ihre Lieder, welche emporfliegen in heiliger Begeisterung singend und jubelnd in Preis und freudigem Entzücken.

Gewöhnlich wurde der Sabbath in unserm Hause der Tag des Herrn genannt, wegen der Auferstehung unseres Herrn. An den Werktagen pflegte mein Vater auch andere Bücher mit uns zu lesen; er wußte uns Geschmack ebensowohl an wissenschaftlicher und geschichtlicher als religiöser Lektüre beizubringen, und machte uns mit den Werken unserer großen Dichter Shakespeare, Spenser und den ersten Gedichten von John Milton und, sobald wir sie verstehen konnten, mit dem italienischen Dichter Dante oder Davila und andern berühmten Italienern bekannt, die auf edle Weise über Ordnung und Freiheit gesprochen haben.

Allein an dem Tage des Herrn las er in keinem andern als in den beiden göttlichen Büchern der Natur und der heiligen Schrift.

In der Kirche hörten wir nur zuweilen eine Predigt. Seit den Tagen der Königin Elisabeth hatte das Predigen wenig Aufmunterung gefunden. In unserer Kindheit war hin und wieder einer jener Pfarrgehülfen oder evangelischen Prediger, welche Herr Cromwell und andere fromme Leute auf eigene Kosten anstellten, auf unsere Kanzel gestiegen (da der Pfarrer unseres Kirchspiels, ein sanfter, nachgiebiger Mann, sich nicht widersetzte) und hatte uns Kinder durch ernste Ermahnungen oder Bitten gerührt. Allein bald that Erzbischof Laud dieser Erbauung Einhalt und sandte uns einen Geistlichen nach seinem Vorbilde, welcher Tante Dorothea beständig ärgerte, indem er jedem Ding einen andern Platz oder andere Farbe gab, den Abendmahlstisch aus der Mitte der Kirche, wo er seit der Reformation gestanden hatte, an das östliche Ende bringen ließ, weiß trug wo wir sonst an schwarz gewöhnt waren, und Röcke von bunter Farbe, wo sonst nur weiße zu sehen waren. Nicht minder störte er sie durch sein ganzes seltsames Benehmen in der Kirche. Für uns puritanische, in der Symbolik unerfahrene Kinder war es unbegreiflich, warum er aufstand, wann wir zu sitzen gewohnt waren, und kniete, wo wir zu stehen pflegten, und sich bald nach dieser bald nach jener Richtung hin verneigte, was Roger und mir die Woche hindurch Stoff zu manchen lebhaften Muthmaßungen darbot, da wir nie wissen konnten, welche neue Geberde er auf den nächsten Sonntag erfinden werde.

Tante Dorothea betrachtete diese Neuerungen als eine Gottlosigkeit, die ihr völlig unerträglich gewesen wäre, hätte sie dieselben nicht als ein Zeichen von dem nahen Ende aller Dinge angesehen. Denn was bei Pfarrer Nicholls als die »Anmuth der Heiligkeit«, bei Vater als »Herrn Nicholls Eigenheiten«, und bei Tante Gretchen für einen der »vielen unbegreiflichen englischen Gebräuche« galt, war in Tante Dorotheens Augen das höllische Abzeichen der »Mutter aller Gräuel auf Erden.«

Sie blieb daher fest und entschlossen sitzen oder stehen, wie sie es immer gewohnt gewesen war und ward zur Zielscheibe, welche manch feuriger Pfeil aus Herrn Nicholls Augen traf, und zu einem Anlaß peinlicher Verlegenheit für Tante Gretchen, die noch immer unsere anglikanischen Rubriken nicht behalten konnte und bisher keine andere ceremonielle Regel befolgt hatte, als die, zu thun, was die Andern thaten, nun aber sich gar nicht mehr zu helfen wußte, zwischen den stillen Vorwürfen, die auf Tante Dorotheens zusammengepreßten Lippen zu lesen waren, wenn sie das Eine, und den mißtrauischen Blicken des Pfarrers, wenn sie das Andere that.

Zu Hause angekommen, gab uns Tante Dorothea sehr häufig das sechszehnte und siebenzehnte Kapitel der Offenbarung zu lernen auf. Wir begriffen wohl, daß sie diese beiden Kapitel ansah, als ob dieselben gewissermaßen gegen Herrn Nicholls gerichtet wären. Auf welche Weise aber konnten Roger und ich damals, so oft wir auch darüber nachsannen, nicht herausfinden. Die große gottlose Stadt voll Schiffe, Kaufleute und Handwerker, – voll Pfeifer und Harfner, – schien uns weit eher die Stadt London mit dem königlichen Hofstaat zu bedeuten, als unsere Kirche von Netherby. Wie dem jedoch sein möge, so bin ich doch froh, daß ich diese Kapitel gelernt habe. Oft im spätern Leben wenn die Welt mit ihrer Herrlichkeit mich verblenden, oder mit ihren Sorgen mich bedrücken wollte, und die alte Versuchung des Psalmisten an mich herandrang, indem ich sah, wie es dem Gottlosen so wohl ging, klang die Wehklage über die gerichtete Stadt wie ein Triumphmarsch durch meine Seele, und die ganze flimmernde Pracht und Herrlichkeit der Welt lag unter meinen Füßen durch die Macht jenes feierlichen Grabliedes, wie das Flitterwerk eines Theaters im hellen Tagesschein, während über mir schneeweiß und majestätisch das Gesicht der Braut in feiner Leinwand rein und weiß dastand und die Stadt vom Himmel sich herabsenkte, in welcher die »Herrlichkeit Gottes wohnt.«

Tante Gretchen hingegen suchte nicht selten nach solchen Verlegenheiten ihr aufgeregtes Gemüth zu beruhigen, indem sie sich von Roger und mir das vierzehnte Kapitel des Römerbriefes vorlesen ließ, das mit den Worten endigt: »Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen, und nicht Gefallen an uns selber haben. Es stelle sich aber ein Jeglicher unter uns also, daß er seinem Nächsten gefalle zum Guten, zur Besserung. Denn auch Christus nicht an sich selber Gefallen hatte.« Ein Abschnitt, der uns ins Geheim zwei Schneiden zu haben schien, die eine für Tante Dorothea und die andere für Herrn Nicholls, die aber Tante Gretchen beide auf sich selbst zu beziehen wußte.

»Dies, meine Lieben,« pflegte sie zu sagen, »ist, wie Ihr seht, eine Regel, die mir ganz besonders behagt; weil ich natürlich zu den Schwachen gehöre und es mir sehr wohlthuend wäre, wenn die Starken ein wenig mehr Geduld mit mir hätten. Allein es ist ein Trost zu denken, daß Er, welcher der Stärkste von Allen ist, mich liebevoll erträgt. Denn Er weiß, daß ich nicht an mir selbst Gefallen haben will, und dankbar wäre, wenn ich wüßte, wie ich meinem Nächsten gefallen könnte.« Dabei schien uns aber der Schwache die Gebrechlichkeiten der Starken zu tragen.

Nachdem wir so unsere Bibelstellen gelernt und hergesagt hatten, genossen Roger und ich, während Vater und die Tanten die Armen und Kranken in den benachbarten Hütten und Dörfern besuchten und, so viel sie vermochten, Trost und Hülfe spendeten, ein Paar freie Stündchen, die wir im Sommer gewöhnlich auf dem Apfelbaume im Garten, Winters im Thorstübchen zubrachten, wo die getrockneten Kräuter aufbewahrt wurden. In dieser wöchentlichen Versammlung wurden alle häuslichen, persönlichen, politischen und kirchlichen Angelegenheiten verhandelt, die zu unserer Kenntniß gelangt waren. Placidia war nicht davon ausgeschlossen; allein da sie um vier Jahre älter war als wir, zog sie meistens ihr »Buch« oder die Gesellschaft unserer Tanten vor.

Hierauf kam die schöne Stunde in dem Zimmer unseres Vaters. Nachher versammelten wir uns im Winter häufig um das Feuer in dem großen Speisesaal, wir im Kaminwinkel, und die Knechte und Mägde in einem Kreise um uns her, während Vater Geschichten erzählte von frommen Männern und Jungfrauen, die um des Gewissens willen Schweres erduldet hatten, oder während Dr. Antonius (wenn er bei uns auf Besuch war) uns seine Unterredungen mit solchen Personen mittheilte, die für Wahrheit und Freiheit in verschiedenen Gefängnissen des Landes schmachteten.

So kam die Nacht, wie uns schien, immer früher als an jedem andern Tage. Allein nie hatte ich vor unserm Besuch auf Schloß Davenant den unaussprechlichen Segen erkannt, welcher in diesem wöchentlichen Ausschließen der Zeit und dem Oeffnen aller Fenster der Seele gegen die Ewigkeit liegt; nie gewußt, wie die Versäumniß dieser Pflicht das ganze Wesen herabwürdigt und verkümmert. Für uns war der Tag des Herrn ein paradiesischer Tag; allein ich glaube, der dürftigste Sabbath, der je von dem strengsten Puritanismus mit Verboten umzäunt war, mehr mit dem Blick auf das Gehäge als auf das Innere, mehr auf das, was ausgeschlossen, als auf das, was drinnen angebaut ist – selbst ein solcher Sabbath ist eine Wohlthat und ein Segen im Vergleich zu einem Leben ohne Pausen, ohne ein der Zeit entnommenes, geweihtes Haus für die Seele, ohne Ruhe und Schweigen, worin man der Stimme lauschen kann, die hauptsächlich im Stillen sich vernehmen läßt.

Für viele Cavaliere war es eine Ehrensache und ein Zeichen der Loyalität, thatsächlich gegen die puritanische Sonntagsfeier zu protestiren. Lady Lucia freilich begrüßte mit Freuden diesen heiligen Tag, wie überhaupt Alles, was heilig und himmlisch war. Sie sang ein liebliches Lied zu ihrer Laute zum Preise dieses Tages aus den neuen »Geistlichen Liedern« Georg Herberts, und erzählte mir, daß er vor wenigen Jahren, Anno 1632 dieses Lied auf seinem Todbette gesungen habe.

»Am Sonntag steht der Himmel offen,« sang sie; und ich bin überzeugt, daß er ihr stets offen stand.

Allein die übrigen Familienglieder, so sehr sie ihr frommes, dem Wohlthun geweihtes Leben verehrten, dachten so wenig daran, ihrem Beispiele zu folgen, als wenn sie eine Nonne im Kloster gewesen wäre. In einem gewissen Sinne lebte sie in der That abgeschieden von den Andern, eingeschlossen von einer eigenen heiligen Atmosphäre.

Wenn ihr Gemahl und ihre Söhne zu gefährlichen Unternehmungen auszogen, baten sie Lady Lucia ihrer im Gebet zu gedenken, wie ihre Vorfahren sich der Fürbitte eines Priesters oder canonisirten Heiligen empfohlen haben mochten.

Mehr aus Instinkt als Absicht wurden die schlimmsten Flüche in ihrer Gegenwart unterdrückt, außer bei besonders heftiger Entrüstung, und durch mildere Beschwörungen, wie bei heidnischen Gottheiten, oder bei der Treue eines Geliebten oder bei Cavaliers Ehre ersetzt. Gerne hörten sie ihr zu, wenn sie »geistliche Lieder« zu der Laute sang, und erklärten ihr, sie habe die lieblichste Stimme und die reizendsten Händchen in den drei Königreichen seiner Majestät. Aber nie schien es ihnen einzufallen, daß ihre Frömmigkeit eine Verdammniß oder ein Beispiel für sie sei. In der That hatte sie so viele umständliche Gesetze und Ceremonien, welche, so gut sie ihr auch paßten, schwerlich für ein anderes als das bequeme Leben einer Dame ausführbar gewesen wären.

So hatte sie für neun Uhr, für Mittags, für drei und sechs Uhr Abends besondere Gebete und Lieder. Und als ich einst in der Nacht aufwachte, hörte ich Klänge wie von ihrer Laute aus dem Fenster ihres kleinen Betzimmers neben ihrem Schlafgemache herauf dringen. Sie unterschied, wie mir schien, zahllose Tage und Zeiten, welche sich durch die Speisen, die sie aß oder nicht aß, auszeichneten, und war darin so streng, wie Tante Dorothea in ihren Kleiderverboten. Nur darin war Lady Lucia glücklicher als Tante Dorothea; sie hatte, was Tante sich vergebens wünschte, ein Buch des Leviticus – freilich nicht gerade in dem neuen Testament, aber feierlich geweiht durch Erzbischof Lauds Machtvollkommenheit.

Ein komplizirtes Rahmenwerk, welches sich schwer auf die unendlich mannigfaltigen Verhältnisse und unabweisbaren Bedürfnisse Aller anwenden ließ, das unmöglich für den Reichen so wie für den Armen, für den Höfling wie für den Krieger, noch selbst für jede Frau passen konnte, welche nicht einige Kammerfrauen zu ihrer Bedienung hat.

Lady Lucia selbst sprach in der That zuweilen mit ernsten Blicken und Seufzern von Herrn Farrars »heiliger Anstalt« zu Klein Gidding (unweit von hier) zwischen Huntingdon und Cambridge, wo die Stimme des Gebetes Tag und Nacht nicht verstumme, und wo von den abwechselnden Andächtigen je in vierundzwanzig Stunden der ganze Psalter durchgesungen werde.

Sir Walter und seine Söhne dachten nie daran, sie nachzuahmen. Lady Lucia schwebte, wie sie sich vorstellten, in einer Wolkenregion zwischen Himmel und Erde. Ihre Religion hatte eine angenehme Süßigkeit, eine feierliche Anmuth, welche, wie sie meinten, einer vornehmen Dame ungemein wohl anstehe, allein für Männer, außer allenfalls für Einige Geistliche, sich eben so wenig eigne, wie Erzbischof Lauds priesterliche Gewänder auf die Straße oder das Schlachtfeld.

In unsern puritanischen Familien hatte die Religion ein ganz anderes Gepräge. Was derselben auch an feinem Geschmack und Anmuth abgehen mochte, so war sie doch eine Religion für Männer sowohl als für Frauen, für das Feldlager sowohl als für das Betzimmer. Rauh und streng mochte sie oft sein, aber niemals schwach. Sie hatte nicht zweierlei Regeln der Heiligkeit für die Geistlichen und für die Laien, für Männer und Frauen. Alle Männer und Frauen, lehrte man uns, sind dazu berufen, Gott von ganzem Herzen zu lieben und Ihm zu jeder Zeit zu dienen. Gehorchten wir, so erfüllten wir (in Anbetracht unserer Sündhaftigkeit ) immer weniger als unsere Pflicht. Gehorchten wir nicht, so war dies Empörung gegen den Herrn des Himmels. Es gab keine Neutralität in diesem Kampfe, keinen Vorbehalt bei diesem Gehorsam.

Unglücklicher Weise verzichtete Lady Lucia's Familie, indem sie alle Hoffnung aufgab, je ihre erhabene Frömmigkeit zu erreichen, noch auf weit mehr. Denn es liegt etwas Erniedrigendes darin, beständig ein Bild der Heiligkeit vor Augen zu haben, das wir bewundern, ohne uns die Mühe zu geben, dasselbe nachzuahmen.

Des Morgens versammelten sich die Hausbewohner in der Schloßkapelle (da man die Gemeindekirche vermied, bis jede Gefahr der Ansteckung vorüber war). Am Nachmittage spielten Sir Walter und seine Söhne treulich Ball und Kegel mit den jungen Leuten des Hauses. Und Abends wurde im Saale getanzt, woran Alle Theil nahmen.

Die Fröhlichkeit war sehr laut und drang bis zu Lady Lucia's Zimmer, wo ich mit ihr und Lätitia saß, während sie die Laute spielte.

Allein hin und wieder kam einer der Knaben herein und beklagte sich über Langeweile. Es sei, sagten sie, eine so unangenehme Unterbrechung ihrer gewohnten Beschäftigungen, und gerade in der besten Jahreszeit für die Jagd, wo des Vaters Meute im besten Zustande und so trefflich abgerichtet sei. Ballspiel, sagten sie, schicke sich ganz wohl für Knaben und der Möhrentanz für Mädchen; aber es sei doch eigentlich kein rechtes Vergnügen dabei, als um etwa ein Paar müssige Stunden auszufüllen. Den folgenden Tag werde in Huntingdon eine famose Bärenhetze und Tags darauf im nächsten Dorfe ein Hahnenkampf sein. Und Anfangs der nächsten Woche habe Sir Walter versprochen ihnen einen Stier zum Hetzen zu geben. Und das »Buch ländlicher Spiele« sei ihrer Meinung nach, die Puritaner möchten sagen, was sie wollten, viel zu streng, da es solche alte ächt englische Belustigungen am Sonntag verbiete.

Lady Lucia legte für Sir Walters Stier eine zärtliche, mitleidsvolle Fürbitte ein, welche ihre Söhne ohne die geringste Unehrerbietigkeit, aber auch ohne ihren Sinn im Geringsten zu ändern anhörten, worauf sie ihrer Mutter die Hand küßten und lachend betheuerten, sie sei zu gut und zärtlich für diese Welt, und wenn es auf sie angekommen wäre, hätte sie gewiß Bären und Stiere ganz aus der Schöpfung weggelassen.

Es war sicher ein langer, trauriger Sonntag für Roger und mich. Allein ohne unsern Vater würde er überall für uns lang und traurig gewesen sein.

Ich vermißte die emsige Arbeit der Woche, wodurch im Gegensatz der Sonntag nicht nur zu einem heiligen Tag sondern auch zu einem Feiertag für uns wurde. Mir fehlten Tante Dorotheens Gesetze, die uns unsere Freiheit um so köstlicher erscheinen ließen.

Allein für Roger brachte dieser Tag noch ganz andere Prüfungen.

Am Abend war ich ein Paar Minuten mit Roger allein in der Fensternische des Besuchzimmers.

»Ach Roger,« sagte ich, »es mag wohl nicht Recht sein; aber ich bin so froh, daß der Sonntag vorüber ist!«

»So geht mir's beinahe auch.«

»Hat er Dir auch lang geschienen? Ich hatte doch geglaubt, Deine Stimme den ganzen Nachmittag im Ballhofe zu hören.«

»Die meinige hast Du gewiß nicht gehört,« erwiderte er.

»Du hast es nicht für Recht gehalten?« fragte ich. »Mich wunderte, wie sie es thun konnten.«

»Ich weiß nicht gewiß, ob es für andere Leute Recht oder Unrecht ist,« sagte Roger. »Aber ich war ganz sicher, daß es für mich Unrecht gewesen wäre. Vater hätte es nicht gerne gesehen, und deshalb konnte mir gar nicht der Gedanke kommen, es zu thun, zumal in seiner Abwesenheit.«

»Waren sie böse?« fragte ich.

»Das nicht gerade,« sagte er. »Sie lachten nur.«

»Nur?« rief ich aus. »Ich denke, das war schwerer zu ertragen als alles Andere.«

»Das meine ich auch,« versetzte er.

»Allein Du hast gewiß nicht geschwankt?«

»Nein, sicher nicht, als sie lachten,« sagte er. »Dies brachte natürlich mein Blut in Wallung; denn es ging nicht sowohl über mich als über Vater und uns Alle. Sie sagten, ich sei zu männlich für solch eine Bande.«

»Sie lachten über meinen Vater!« rief ich mit Abscheu.

»Nicht über ihn persönlich, aber über Alles, was er für Recht hält – über die Puritaner oder Rigoristen, wie sie uns nennen.«

»Was fingst Du an, Roger?« fragte ich.

»Ging in den Wald,« antwortete er.

»Warum kamst Du nicht zu uns?«

»Weil sie mir sagten, ich solle zu Euch gehen,« erwiderte er erröthend.

»Wie Schade! wir sangen so süße Lieder.«

»Ich hörte Euch,« sagte er. »Aber ich bedaure es nicht, daß ich nicht zu Euch ging.«

»Was fandest Du denn in dem Walde?«

»Ich wüßte nicht, daß ich etwas gefunden hätte,« sagte er.

»Aber was machtest Du denn, Roger?«

»Ich ging an den Liebfrauenbrunnen und legte mich in das lange Gras neben dem Strome, der von dort bis in den See fließt und Vaters Ländereien von denen Sir Walters trennt, an der Stelle, wo man auf einer Seite Schloß Davenant und auf der andern Netherby von seinen Wäldern umgeben sehen kann. Und ich dachte nach.«

»Woran dachtest Du?« fragte ich.

»Ich dachte, ich möchte lieber ein Tagelöhner sein bei meinem Vater, als hier der Herr,« erwiderte er.

»War das Alles?« fragte ich.

»Ich dachte an unser Gespräch auf dem Apfelbaume, ob wir Puppen oder freie Geschöpfe seien.«

Ich schwieg.

»Und mir schien es, Olivia,« fuhr er fort, »als ob ich aus dem Schlaf erwachte, und mir kam plötzlich der Gedanke, daß Gott keine Puppen hat. Der Teufel hat Puppen. Gott aber hat freie lebendige Geschöpfe, die Ihm freiwillig dienen. Und ich dachte daran, wie herrlich es wäre, Sein freier Diener, Sein Sohn zu sein. Und dann dachte ich an die Worte: ›Du hast uns Gott erkauft durch Dein Blut,‹ um auf ewig Seine freien Diener zu sein, Olivia.«

»Da hattest Du viel zu denken, Roger,« sagte ich. »Ich meine, Du hast wirklich etwas im Walde gefunden.«

»Ich fand, daß ich etwas bedurfte, Olivia,« sagte er sehr ernsthaft; »und ich dachte an etwas, das Herr Cromwell einmal gesagt hat, als man über Sekten und Parteien sprach: ›Ein Sucher gehört nach dem Finder zu der besten Sekte.‹ Damit meinte er natürlich keinen Sucher nach Glück oder Reichthum oder Frieden, sondern nach Gott.«

Wir schauten während dieses Gesprächs über die Wälder hinüber nach dem See, den wir auch von Netherby aus sehen konnten.

Das Wasser war von der untergehenden Sonne geröthet, und drüber hinaus erstreckte sich die Niederung bis in die weite Ferne, ausgenommen wo Reihen von Weiden und Erlen und einige Kühe auf einem Damme wie eine Federzeichnung sich schwarz und deutlich gegen den goldenen Abendhimmel abhoben.

Und was Roger gesagt, ließ mir den Himmel noch höher, die Welt größer erscheinen als zuvor.


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