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XIII.

Anfänglich schien es mir wirklich, als sollte an Roger eher Placidia's Evangelium in Erfüllung gehen, als seine eigenen traurigen Ahnungen.

Seine unüberlegte That schien mehr gute als schlimme Folgen zu haben.

Die Heftigkeit seiner Gefühle, die er, sonst so zurückhaltend, Sir Launcelot gegenüber bewiesen hatte, zeigte ihn der Lady Lucia in einem ganz neuen Lichte.

»Ich muß gestehen, ich hatte ihn für kalt gehalten,« sagte sie; »aber nun sehe ich wohl, daß es nur ein wenig von Euerm puritanischen Eis war, wenn ich so sagen darf, ohne Euch zu beleidigen, und daß ein Meer von Gefühl darunter verborgen liegt. Meine Liebe, nun da Alles glücklich abgelaufen ist, sollte er es sich wirklich nicht so sehr zu Herzen nehmen. Er ist gar zu ernst geworden. Man kann an junge Männer, die so viele Versuchungen und so heftige Leidenschaften haben, nicht denselben Maßstab anlegen, wie an sanfte, unschuldige Mädchen, die mit weichern Gemüthern begabt und im Schooße der Familie liebevoll behütet sind. Ich werde immer mich bemühen, streng gegen mich selbst zu sein. Aber junge Leute – ach, mein Kind! der König ist ein guter Mann; aber wenn Du nur ein klein wenig von unserm Hofe gesehen hättest, würdest Du Roger gewiß für einen Engel halten.«

Im Vergleiche mit Sir Launcelot hielt ich ihn freilich für einen solchen. Aber dieser doppelte Maßstab war in unserer puritanischen Familie unbekannt. Wir kannten nur ein gemeinsames Gesetz der Rechtschaffenheit, Reinheit und Frömmigkeit für Männer und Frauen. Und hierin erschien mir Tante Dorotheens finsterste Strenge erbarmungsvoller als Lady Lucia's Mitleid. Ich habe durchaus nicht die Absicht, hier das zu erörtern, was mir als Lady Lucia's Irrthümer in Betreff irgend einer Sekte oder Glaubenslehre erschien. In der Theorie stimmen alle christlichen Sekten, was die Moral betrifft, mit einander überein. Aber im Grunde meines Herzens bin ich überzeugt, daß die hohe moralische Richtschnur, welche in jener Zeit hauptsächlich (nicht einzig) in unseren puritanischen Familien aufgestellt wurde, Englands Rettung sein wird, wenn je einmal das verpestete Haus, sonst der Hof genannt, gereinigt und England gerettet werden soll.

Lady Lucia's Religion bestand in zarten, frommen Rührungen, genau vorgeschriebenen Gebräuchen und einem prachtvollen Ritual. Durch christliche Grundsätze unterstützt, war dieselbe unaussprechlich schön und anziehend. Die puritanische Religion dagegen war eine Religion der Grundsätze und Glaubenslehren. Von göttlicher Liebe durchdrungen, war sie wunderbar tief und kräftig.

In der Meinung Sir Walters und seiner Söhne war Roger durch sein muthiges Benehmen augenscheinlich in hohem Grade gestiegen. Sie gaben zu, daß Sir Launcelots Scherze zuweilen sehr beißend waren, und daß ihm eine Zurechtweisung – wenn gleich keine so strenge – gebührt habe.

Sir Launcelot selbst nahm überdies Roger gegenüber ein ganz anderes Verhalten an. »Heilige von solch feuriger Gemüthsart,« pflegte er zu sagen, »seien möglicherweise gefährlich, aber ganz gewiß nie gering zu schätzen.«

Und was Lätitia betraf, deren Moralgesetz mehr ritterlich als schriftgemäß war, der die Großmuth für eine weit bewundernswürdigere Tugend galt, als die Gerechtigkeit, und Ehre für herrlicher als Pflicht, so gestand sie aufrichtig, sie freue sich, daß Roger einmal zornig geworden sei und Allen gezeigt habe, wie viel Herz und Muth er besitze.

»Wir Beide kannten ihn wohl, Olivia,« sagte sie; »aber ich wünschte immer, Jedermann möchte wissen, wie muthig er ist.«

Und doch war ein Verlust dabei. Allmälig lernte ich es erkennen und fühlen.

Zuerst in Bezug auf Rogers Verhältniß zu Sir Launcelot. Handlungen der Heftigkeit stellen denjenigen, welcher sie ausübt, moralisch unter denjenigen, der darunter leidet. Sir Launcelots frühere Spöttereien waren für Roger eine wahre Ehre gewesen, und es lag eine Entehrung für Roger darin, daß er ihn nun als seines Gleichen behandelte. Auch fühlte sich Roger durch seine strenge Selbstanklage des Rechts der Erwiderung beraubt.

Zweitens (und zwar hauptsächlich) wegen Lätitia's veränderter Gesinnung gegen Sir Launcelot. Roger sprach nie von ihm. Aber nun, da er wieder hergestellt war, konnte ich, das fühlte ich wohl, nie vergessen, wie er, nach Lätitia's eigener Aussage, den Schlag herausgefordert hatte, und ich vermochte nicht einzusehen, wie sein Charakter durch den Schlag, zu welchem er selbst meinen Bruder gereizt hatte, völlig umgewandelt sein sollte. Wir hatten manchen Streit über diesen Gegenstand; denn wir sahen uns öfters in diesem Winter und in den ersten Wochen des Frühlings, während die ganze Nation mit großer Spannung auf Lord Straffords Untersuchung wartete und unter dem jährlichen Dreschen und Säen der Feldfrüchte die traurige Ernte dessen beobachtete, was jener Günstling gesät hatte. Besonders ein solcher Streit ist mir wegen seines Ausgangs noch lebhaft in Erinnerung.

Es war Donnerstag den 13. Mai 1641. Wir hatten uns im Walde am Liebfrauenquell getroffen. Eine wunderbare Melodie klang an jenem Tage in dem Gemurmel des kleinen Quells, während er in den steinernen Trog rieselte und von dem steinernen Dache der kleinen Zelle wiederhallte, welche die Mönche vor siebenhundert Jahren liebevoll darüber gebaut hatten. Noch war die Inschrift an der Vorderseite deutlich zu erkennen:

» Ut jucundas cervus undas
Aestuans desiderat,
Sic ad rivum Dei vivum
Mens fidelis properat.
«

Zu deutsch: »Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so schreiet meine Seele, Gott, zu Dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.«

 

Lätitia und ich knieten nieder und lauschten.

»Ist es nicht, als ob alle Glöckchen im Zauberlande ertönten?« sagte sie endlich leise. »Horch nur, wie die sanften Klänge entstehen und schwinden, kommen und gehen, wie ein Ton in den andern fällt und sich damit verbindet, dann zerfließt und wieder zurückkommt und dem nächsten begegnet, bis man sie gar nicht mehr zu unterscheiden vermag.«

»Dann muß es im Zauberlande sicher auch Chorgesänge und Kirchenglocken geben,« erwiderte ich; »denn die Klänge sind ernst und feierlich. Sie klingen mir wie jene unter dem Meere begrabenen Glocken, von welchen die Legenden erzählen, die aus den düsteren Fluthen der Vergangenheit zu uns heraufläuten.«

Hierauf band Lätitia ihr langes Haar zurück, beugte sich nieder und schlürfte von dem kristallklaren Wasser, in dem sie ihr Gesicht dabei badete.

»Jene israelitischen Krieger verstanden sich auf den wahren Genuß des Wassers,« sagte sie aufstehend. »So ist es köstlich!«

Denn wir waren müde und durstig geworden vom Pflücken der blauen Glockenblumen, welche den Wald erfüllten.

Während sie so mit nassen, halb geöffneten Lippen, glühenden Wangen und freudestrahlenden Augen, die Arme voller Blumen, dastand, sagte sie:

»Ich kann mich gar nicht satt sehen an der herrlichen, schönen Welt, Olivia! Ich möchte noch einen neuen Sinn dafür haben. Ich möchte davon trinken, wie von dieser Quelle; ich möchte sie an mein Herz drücken, wie diese Blumen. Ich glaube, darum pflücke ich sie auch noch immer so gern wie in meiner Kindheit. Begreifst Du das?«

Ich bejahte es; allein ich gedachte der Inschrift der Liebfrauenquelle und sagte:

»Ich glaube, es verlangt uns, näher zu kommen, Lätitia. Wir sehnen uns, aus dem Urquell zu trinken, an dem Vaterherzen Gottes zu ruhen.«

»Glaubst Du wirklich, daß dies jenes seltsame unbefriedigte Sehnen bedeutet, das mich bei jeder großen Freude, bei dem Anblick alles wahrhaft Schönen ergreift?«

Sie schwieg einen Augenblick; dann sagte sie:

»Welches Leben rings umher! Alles scheint von Freude überzuströmen – die Vögel im Gesang, die Felder in den Blumen und die Bäume, selbst die ältesten und grauesten in den Blättern. Und mir geht es gerade so, Olivia. An einem solchen Morgen muß man alle Dinge und Menschen lieb haben, gleichviel, ob sie liebenswerth sind oder nicht, nur um des Liebens willen. Olivia,« setzte sie mit der ihr eigentümlichen raschen Gedankenwendung hinzu, »heute mußt Du Sir Launcelot ein für alle Mal von Grund Deines Herzens verzeihen!«

»Ach, Lätitia,« entgegnete ich, »gewiß vergebe ich ihm von Herzen. Ich glaube, ich that es schon längst; wenigstens Alles, bis auf die gnädige Weise, wie er Roger verzeiht, als ob Roger ihm nichts zu vergeben hätte. Ich habe ihm verziehen; aber ich kann ihn nicht für tugendhaft halten.«

»Wie ungroßmüthig!« rief sie halb im Scherz, halb im Ernst. »An einem solchen Morgen solltest Du Jedermann für tugendhaft halten. Ueberdies spricht Sir Launcelot stets so freundlich und achtungsvoll von Dir; er sagt, Du seist die Tugend selbst.«

»Was nicht wahr ist, kann ich nicht eben nur deßwegen glauben, weil die Sonne scheint und die Vögel singen,« sagte ich; »und ich kann doch unmöglich Jemand für tugendhaft halten, nur weil er mich tugendhaft oder die Tugend selbst nennt. Wie kann ich das, Lätitia? Wie kann ich etwas glauben, nur weil ich es glauben möchte?«

»Wahrheit, Wahrheit!« rief sie ein wenig heftig; »Wahrheit und Pflicht, Recht und Unrecht! Wenn nur diese kalten Worte nicht so oft auf Deinen Lippen wären! Es gibt andere, viel wärmere, schönere Worte: Edelsinn, Großmuth, Ergebenheit, Treue. Dies sind Tugenden nach meinem Herzen. Du liebst die Tageshelle, Olivia! Ich liebe den Sonnenschein, der wie mit Rubinen und Opalen den Morgen und den Abend durchglüht und mit seinem herrlichen Dunste am Mittag die Fernsicht verschleiert. Es ist mir immer zuwider, Alles genau so zu sehen, wie es ist, sogar das Schöne; und häßliche Dinge will ich gar nicht sehen, wenn ich es vermeiden kann.«

»Ich sehe gern Alles genau so, wie es ist,« erwiderte ich, »und ich bitte Gott, es mich stets so sehen zu lassen. Und ich glaube, daß dies am Ende gerade das Mittel ist, um von Allem in der Welt die wahre Schönheit zu sehen. Denn Gott, nicht der Teufel, hat sie geschaffen. Darum brauchen wir uns nicht zu scheuen, auf das Innere der Dinge zu schauen. Und ich werde stets Wahrheit und Pflicht für die schönsten Worte halten.«

»Sehr schön!« sagte sie böse;, »und unter all diesen schönen Worten verbirgst Du die Thatsache, daß Du dem armen Sir Launcelot niemals vergeben willst.«

»Ich habe ihm längst verziehen,« sagte ich; »aber ich kann ihn nicht für tugendhaft halten, so lange er es nicht ist, wenn ich mir noch so viele Mühe gebe. Ich kann die arme Cäcilie Gammer, Grindle's Enkelin, die jetzt in London umherirrt, nicht vergessen.«

»Still, Olivia, still!« rief sie leidenschaftlich; »das ist nicht großmüthig und nicht liebevoll. Ich mag keine Dorfklatschereien hören. Mamma sagt, wir müssen diejenigen nicht hart beurtheilen, deren Versuchungen wir nicht kennen. Allein sie hat sich vorgenommen, wenn wir nach London kommen, ihr Möglichstes zu thun, um der armen Cäcilia zu helfen.«

»Ach, Lätitia,« sagte ich, »es handelt sich hier nicht um mehr oder weniger Mitleid, sondern darum, wer dessen am meisten bedarf.«

»Ihr seid doch Eins wie das Andere,« versetzte sie; »aber ich habe Euch Alle lieb, und ich liebe Dich von Grund meines Herzens, Olivia! Ohne Eure puritanische Erziehung wäret Ihr Beide, Du und Roger, die besten und liebenswürdigsten Menschen auf der Welt. Aber wie Mamma sagt, alle diese strengen Lehren von Gesetz und Gerechtigkeit und Gewissen machen die Leute hart in ihren Urtheilen über Andere und unversöhnlich bei erlittenem Unrecht.«

Nun vermochte ich nichts mehr zu erwidern. Sie hatte sich hinter Rogers unüberlegte That geflüchtet, und der Streit war zu Ende.

Als wir Schloß Davenant erreichten, fanden wir vor dem Hauptthore eine ungewöhnliche, stille und aufmerksame Menge um einen Reiter versammelt, dessen Pferd durch die Eile, wozu es angespornt worden, mit Schaum bedeckt war. Der Reiter war Harry Davenant. Er brachte die Nachricht, daß Lord Strafford am vorigen Morgen auf Tower Hill enthauptet worden war, Angesichts von Hunderttausenden, welche gekommen waren, seiner Hinrichtung beizuwohnen, jedoch ohne einen Seufzer des Mitleids oder einen Laut des Triumphes vernehmen zu lassen.

Stillschweigend entfernte sich die Dienerschaft. Harry's Pferd wurde in den Stall geführt, und wir gingen mit Lady Lucia, ihrem Gatten und Sohn und Sir Launcelot in das Schloß.

»Das haben sie in London gethan, während wir hier die blauen Glöckchen pflückten!« rief Lätitia und warf ihre Blumen auf den steinernen Boden. »Ich will nie wieder Blumen sammeln!«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und brach in Thränen aus. »Wie schrecklich grausam von dem König und der Königin, ihn hinrichten zu lassen!«

»Das Parlament war es, das ihn zu Tode gehetzt hat,« versetzte Harry mit Bitterkeit. »Der König versuchte ihn zu retten.«

»Das Parlament ist gottlos; es haßte ihn, und ich kümmere mich nicht darum, was es that,« sagte Lätitia, mit geröthetem Gesichte aufschauend; »aber der König! Ach, Mutter! Du sagtest, der König werde es nie zugeben, daß man Lord Strafford tödte. – Was hilft es, ein König sein, wenn man nur, wie andere Leute, blos versuchen kann, etwas zu thun? Ich glaubte, Könige könnten das thun, was sie für Recht halten. Er war dem Könige treu, nicht wahr, Mutter?«

»Ein treu ergebener Diener des Königs war Lord Strafford ganz gewiß,« versetzte Lady Lucia; »ob ein guter Rathgeber oder nicht, das lasse ich dahin gestellt sein. Ich hätte nie gedacht, daß der König ihn aufgeben würde. Hat denn Niemand ihn vertheidigt?«

»Er vertheidigte sich selbst mit wunderbarer Beredtsamkeit,« sagte Harry Davenant, »daß er fast seine erbittertsten Feinde umgestimmt hätte und die Herzen aller Zuhörer gewann.«

»Aber der König bemühte sich wirklich, ihn zu retten?« fragte Lady Lucia, an diesem Punkte festhaltend.

»Der König berief letzten Sonntag seinen Geheimen Rath zusammen,« bemerkte Harry Davenant, »als das Ober- und Unterhaus Lord Strafford für ›Schuldig‹ erklärt hatte; er sagte, es mache ihm Skrupel, darein zu willigen, und fragte sie um ihren Rath. Dr. Juxon, der Bischof von London, rieth ihm, nicht zuzugeben, daß seiner Meinung nach unschuldiges Blut vergossen werde. Aber die übrigen Mitglieder des Rathes redeten ihm zu, nachzugeben. – Und der König gab nach.«

»Einige Leute denken,« fuhr er fort, »der König sei durch einen Brief, den der Graf ihm den Dienstag zuvor schrieb, gerechtfertigt, worin Lord Strafford dem Könige sein Leben mit aller Freudigkeit zum Opfer darbot, ja ihm sogar rieth, ihn zu opfern, um sein Volk zu versöhnen, indem er sagte: ›Einem willigen Manne geschieht kein Leid!‹«

»Ach, Harry!« sagte Lätitia, »wie konnte der König ihn nach diesem Briefe aufgeben?«

»Man sagt, der Graf habe es kaum glauben können, als er es hörte, und die Hand auf's Herz legend, soll er ausgerufen haben: ›Es ist gut, sich nicht verlassen auf Fürsten!‹«

»Und er hat Recht gehabt!« rief Lätitia, deren Thränen durch das Feuer ihrer Entrüstung getrocknet waren.

»Stille, Kind, stille!« sagte Lady Lucia.

»Der König machte noch einen Versuch, ihn zu retten,« fuhr Harry fort; »er schrieb an die Lords und schlug lebenslängliche Gefangenschaft statt der Todesstrafe vor. Am Schlusse des Briefes setzte er noch in einem Postscriptum hinzu: »Wenn er sterben muß, so wäre es Barmherzigkeit, seine Haft bis Sonnabend zu erleichtern.«

»Eine kalte, elende Bitte!« rief Lätitia heftig; »noch grausamer als das Todesurtheil.«

»Von seinem Vater hätte ich dergleichen erwartet; aber nicht von ihm,« murmelte Sir Walter. Dann das Gespräch von dem traurigen Gegenstande ablenkend, sagte er: »Der Graf starb ohne Zweifel muthig.«

»Als er an dem Fenster des Zimmers vorbei kam, wo Erzbischof Laud saß, verneigte er sich, um seinen Segen zu empfangen, und sagte: »Lebt wohl, mein Lord, Gott schütze Eure Unschuld!« Er ging nach dem Tower-Hügel, mehr wie ein General an der Spitze seiner Armee, als wie ein Verurtheilter nach dem Schaffot. Am Thore des Towers angekommen, schlug ihm der Statthalter, der die Wuth des Pöbels fürchtete, vor, in einen Wagen zu steigen; aber der Graf weigerte sich, indem er sprach: »Ich habe den Muth, dem Tode und hoffentlich auch dem Volke ins Angesicht zu schauen. Sorgen Sie, daß ich nicht entrinne; mir ist es gleichviel, ob ich durch die Hand des Nachrichters oder des wüthenden Pöbels sterbe. Wenn ihn das mehr befriedigt – mir ist es ganz einerlei.« Und nachdem er seine Unschuld betheuert und versichert hatte, daß er Allen verzeihe, ließ er seiner Frau und seinen vier Kindern einige Worte der Liebe sagen und legte dann das Haupt auf den Block. Kein gemeiner Jubel wurde unter der Menge laut; das muß ich ihnen zum Ruhme nachsagen. Sie benahmen sich als ächte Engländer. Des Grafen Haupt sank in tiefer Stille. Aber am Abend schrie der thierische Pöbel jubelnd: »Sein Kopf ist herunter! sein Kopf ist herunter!« und die ganze Stadt strahlte von Freudenfeuern. Der Hof glaubt die Nachgiebigkeit aufs Aeußerste getrieben und für die Zukunft den Frieden erkauft zu haben. Gebe der Himmel, daß der König und der Hof Recht haben; allein es ist schwer zu glauben.«

 

Die Dämmerung war eingebrochen, ehe dieses Gespräch zu Ende war, und ich machte mich auf den Heimweg. Harry Davenant bestand darauf, mich durch die Felder nach Netherby zu geleiten, bis wir an die Landstraße kamen, nahe bei unserm Hause.

Hier nahm er Abschied.

»Mein Vater würde sich sehr freuen, Sie zu sehen,« sagte ich.

»Herr Drayton würde gegen seinen Todfeind höflich sein,« erwiderte er.

»Wir sind doch nicht Feinde?« entgegnete ich etwas verletzt.

»Behüte uns der Himmel davor,« versetzte er; »allein es ist besser, daß ich heute nicht komme, heute nicht. Der Fall des Grafen hat in Ihrem Hause eine andere Bedeutung als in dem unsrigen.«

»Niemand in Netherby wird so niedrig gesinnt sein, über Lord Straffords Tod zu triumphiren,« sagte ich etwas unwillig.

»Sicher wird man von einem Glied der Familie Drayton nie ein gemeines, unedles Wort vernehmen,« sagte er mit Wärme. »Aber es ist besser, wenn ich Herrn Drayton heute Abend nicht mehr besuche.«

Mit diesen Worten schwenkte er seinen Federhut und sprang über den Zaun. Ich mußte ihm im Stillen Recht geben. Als ich bei einer Wendung des Weges, die gerade auf unser Haus zuführte, mich umwandte, bemerkte ich, daß er vom Felde aus mir nachschaute. Allein indem ich um die Ecke bog und die Giebel des alten Herrenhauses erblickte, überfiel mich eine Ahnung bevorstehender Prüfungen und Trennungen; die Ahnung daß einige Kieselsteine oder Binsen zwei kleinen rieselnden Quellen in den Weg kommen und ihren Lauf fast unmerklich trennen können, so daß ihre Gewässer von da an in getrennten Betten dahin fließen und in verschiedene Meere sich ergießen, die entgegengesetzte Welttheile bespülen. Aber von Lätitia dachte ich, – nein, von Lätitia sollte die ganze Welt uns nicht zu trennen vermögen! Und alle politischen oder kirchlichen Streitigkeiten der Welt sollten unsere Liebe und Verehrung für Alles, was wahr und muthig, was gerecht und gut und fromm ist, nicht hindern oder erkälten. Denn die Politik – selbst kirchliche – ist vorübergehend; aber Wahrheit und Muth, Gerechtigkeit, Güte und Frömmigkeit stammen von Gott und sind ewig.


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