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36. Das versunkene Kloster. (Tiefenau.).

. In der sumpfigen Niederung rechts an der Strasse nach Sinzheim liegt unterhalb dieses Dorfes der Landsitz Tiefenau. Fruchtbare, üppige Wiesen liegen um denselben her, und ein tiefer Bach fliesst langsam durch die Ebene. Der ganze tiefe Grund soll früher ein grosser See gewesen sein, über dessen Entstehung eine seltsame Sage erzählt wird.

Vor vielen Jahren stand hier ein Frauenkloster. In einer kalten stürmischen Nacht klopfte ein wankender Greis an der Pforte und bat um Obdach für die Nacht. Die hartherzige Pförtnerin wies ihn ab mit barschen Worten; er flehte vergebens. Auch die Priorin und ihre Mitschwestern blieben taub bei seinem kläglichen Bitten; nur eine Jungfrau, welche das Gelübde des Ordens noch nicht abgelegt hatte, und die nur gezwungen und gegen ihren Willen im Kloster war, bat bei den Uebrigen für ihn. Doch diese spotteten ihres Mitleides, und die Pforte blieb dem armen Wanderer verschlossen. Da berührte dieser mit seinem Stabe die Erde, und das Kloster versank plötzlich in ihren Schoos, der sich flammensprühend öffnete; an die Stelle des prächtigen Gebäudes trat ein dunkler See zum warnenden Gedächtniss.

Die Novize aber hatte ein Liebesverständniss mit einem edlen Ritter der Nachbarschaft. Oft wandelte dieser in nächtlicher Stille zum einsamen Kloster, und wenn Alles ringsumher in den Armen des Schlummers lag, sprach er durch das Gitter ihres Fensters stundenlang mit ihr. So kam er auch in dieser schrecklichen Nacht, um mit der Geliebten zu kosen. Statt aller verschwundenen Pracht erschien vor seinen Blicken der schwarze See. Laut klagend erhob der Ritter seine Stimme, rief den Namen der Geliebten, dass er weithin ertönte durch die Stille der Nacht, und rief: »Nur noch ein Mal kehre zurück in meine Arme.« Da vernahm er eine Stimme aus dem See: »Morgen um die elfte Stunde der Nacht kehre wieder zu dieser Stätte; auf der Oberfläche des Wassers gewahrst du dann einen Faden von blutrother Seide, nimm ihn auf und ziehe ihn empor.« Die Stimme verhallte, der Ritter schlich traurig nach Hause, doch um die bestimmte Stunde kam er wieder und that, was ihn die Stimme geheissen. Kaum zog er den Faden empor, so stand die Geliebte vor ihm. »Das unerforschliche Schicksal, das mich schuldlos mit den Schuldigen versenkte, vergönnt mir, dich jeden Tag von der elften bis zur zwölften Stunde der Nacht zu sehen und zu sprechen; nie darf ich die bestimmte Stunde überschreiten, sonst siehst du mich nie wieder, und ausser dir darf keines Mannes Aug' mich erblicken, sonst schneidet eine unsichtbare Hand den Faden meines Lebens entzwei.« Lange setzte der Ritter seine nächtlichen Wanderungen fort, allein Neugierde und Missgunst belauschten seine Schritte. Einst nahte er sich in einer mondhellen Nacht dem See. Doch ach! sein klares Wasser war mit Blut gefärbt; bebend ergriff er den Faden, seine Farbe war verbleicht und derselbe entzwei geschnitten. Da stürzte sich der trostlose Jüngling hinab in den See und versank.

Lange Zeit war der See dort noch zu erblicken. Endlich vertrocknete er nach und nach, ward dann von den Umwohnern vollends ausgefüllt und jetzt ist sein Grund grünes Mattenfeld.

* * *


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