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siehe Bildunterschrift

Felix Mendelssohn-Bartholdy. Nach dem Porträt von C. Jäger
Bildquelle: projekt-gutenberg.org

Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Felix Mendelssohn-Bartholdy. Ein Denkmal für seine Freunde von W. A. Lampadius (Leipzig, 1848). Briefwechsel zwischen Göthe und Zelter in den Jahren 1790 bis 1832 (6 Bde., Berlin, 1833). Garten und Wald. Novellen und vermischte Schriften von L. Rellstab. 4. Theil (Leipzig, 1854). Reisebriefe von Felix Mendelssohn-Bartholdy, herausgegeben von Paul Mendelssohn-Bartholdy (2. Aufl. Leipzig, 1862). Briefe aus den Jahren 1833-47 von Fel. M.-B., herausgeg. von Paul M.-B. und Dr. Karl M.-B. (Leipzig, 1863).


Dieser Meister von echt-deutschem Schrot und Korn, der mit seinem wunderbar reichen Talent den Geist Händels und Bachs und den Genius Beethovens in sich selber wieder lebendig machte, ist ein wahrer Reformator geworden für die neuere Musik, indem er die alten Meister auch in der »gebildeten Gesellschaft« wieder zu Ehren brachte, und dem durch italienische und französische Moden verwöhnten Sinn wieder eine ernstere Richtung und tieferen Gehalt gab.

Selten mag wohl so, wie es bei Mendelssohn der Fall war, das reinste sittliche Streben mit einer so gründlichen klassischen Bildung und einem so großen musikalischen Talent sich vereinigt finden. Ihm waren von Kindesbeinen an die Musen hold, die glücklichsten Umstände vereinigten sich zur Bildung seines Geistes und Gemüthes, und sehr bedeutungsvoll war sein Vorname »Felix«. Felix Mendelssohn erblickte das Licht der Welt am 3. Februar 1809 zu Hamburg. In demselben, auch nach dem großen Brande noch stehen gebliebenen Hause hinter der Michaeliskirche, wurde ein Jahr später sein treuer Freund und Kunstgefährte Ferdinand David geboren.

Sein Vater, ein reicher, angesehener Banquier in Hamburg, Sohn des berühmten Philosophen Mendelssohn, war selber ein feingebildeter und kunstsinniger Mann; seine Mutter, eine geborene Bartholdy, war eine ausgezeichnete Frau, die mit sinniger Hand alle zarten Keime des Guten und Schönen im Gemüthe ihrer Kinder zu entwickeln verstand. Als Felix in's vierte Lebensjahr getreten war (er war das zweitgeborene von vier Geschwistern), zogen seine Eltern von Hamburg nach Berlin, und hier fand das musikalische Talent des Kindes, das sich wunderbar früh entwickelte, die allerbeste Pflege durch zwei hochberühmte Meister: den originellen Maurermeister Zelter, der den Knaben in der musikalischen Theorie, und den trefflichen, genialen Ludwig Berger, der ihn auf dem Pianoforte unterrichtete. Zwei so biedere, deutsche Ehrenmänner, gediegene Charaktere, Feinde alles Halben, Unreifen, Schwankenden mußten von dem heilsamsten Einflusse auf den Bildungsgang eines Knaben sein, der freilich seine Lehrer bald selber überflügelte. Schon in seinem achten Jahre spielte (um einen derben Zelterschen Ausdruck zu gebrauchen) »der Junge Klavier wie Teufel«; wer ihn hörte und nicht den Spieler sah, meinte, es müsse einer der besten Virtuosen sein, so kräftig, sicher, kühn war das Spiel des Knaben. Ebenso früh zeigte sich jener feine Sinn musikalischer Kritik, das Luchsauge, wie Zelter es nennt, mit welchem er »in der Partitur eines prachtvollen Konzerts von Sebastian Bach sechs reine Quinten nacheinander entdeckte, die er (Zelter) vielleicht niemals gefunden hätte,« und jenes wunderbar feine Gehör, das mitten unter den gewaltigsten Tonmassen die Dissonanz eines einzelnen Instruments oder einer Menschenstimme augenblicklich wahrnahm. Er komponirte mit der größten Leichtigkeit, die Gedanken flogen ihm nur so zu. In seinem zehnten Jahre reiste er mit dem Vater nach Paris, ließ sich dort öffentlich hören und erntete großen Beifall.

Zelter konnte nicht genug von den außerordentlichen Fortschritten seines Zöglings an seinen Freund Göthe berichten. Im Herbst des Jahres 1821 kündigte er Göthe seinen und seines zwölfjährigen Schülers Besuch mit den Worten an: »Meiner Doris und meinem besten Schüler will ich gern Dein Angesicht zeigen, ehe ich von der Welt gehe.« L. Rellstab hat uns eine sehr werthvolle Skizze dieses Besuchs geschenkt. Er schreibt (am Schluß des o. a. Werkes): Im Jahr 1821 lebte ich in Weimar. Zelter war es, der mir durch Briefe und Musiksendungen an Göthe den Zutritt zu dem großen Dichter gebahnt und sein Haus eröffnet hatte. Eines Morgens, im November, erhielt ich eine Aufforderung, Frau v. Göthe, die Schwiegertochter des Dichters, welche das Mansarden-Stockwerk des Göthe'schen Hauses bewohnte, noch am nämlichen Vormittag zu besuchen. Sie empfing mich mit den Worten: »Sie werden Bekannte aus Berlin hier finden, deren Wiedersehen Ihnen Freude machen wird!« Ich rieth, ich fragte, doch ohne das Richtige zu treffen, als sich plötzlich die Thür öffnete und Zelters stattliche Gestalt, damals noch in rüstiger Kraft, eintrat. Als wir noch in den ersten Wechselworten und gegenseitigen Begrüßungen begriffen waren, wurde die Thür des Zimmers leise geöffnet und ein Knabe von etwa zwölf Jahren trat ein; es war Felix Mendelssohn, den ich mit Freuden erkannte. Schüchtern näherte er sich und sein schwarzes schönes Auge blickte befangen in dem Kreise (es waren noch einige Herren und Damen zugegen) umher. Er vermuthete wahrscheinlich Göthe selbst unter den Anwesenden, allein dieser war noch in seinem Zimmer. Zelter hatte zuerst Frau von Göthe begrüßt und sein junger Begleiter nun selbst suchen müssen, wohin er sich zu begeben habe, was ihn allerdings in einige Verlegenheit setzen mußte, in dem Hause, das durch den großen hochverehrten Namen des Dichters wohl einem Lebensgeübteren Scheu eingeflößt haben würde. Der Knabe wurde auch eben nicht beachtet, weil man seine außerordentlichen Eigenschaften noch nicht kannte; ich war muthmaßlich der Einzige, außer Zelter, der damit betraut war. In Zelters Grundsatz lag es, gar keine Notiz von ihm zu nehmen, und so mochte denn sein begabter Zögling sich in diesen ersten Minuten ziemlich unbehaglich fühlen. Indessen schwand die Blödigkeit allmählig, und er stellte sich bald auf einen munteren Fuß mit den jungen Damen. Bei seiner Lebhaftigkeit steigerten sich die heiteren Beziehungen schnell zu muthwilligen, und ohne von dem tiefen bewunderungswürdigen musikalischen Talent irgend etwas gezeigt zu haben, war er schon der Liebling Aller geworden, denn die geistige Gewalt, welche sich bei ihm in der Musik auf ihre höchsten Spitzen drängte, leuchtete und flammte auch in jeder anderen Hinsicht schnell auf.

In dem Zimmer stand übrigens nur ein sehr veralteter Flügel; im tieferen Geschoß aber, in dem Gesellschaftszimmer Göthe's, befand sich ein vortrefflicher Streicherscher Flügel, den ihm Rochlitz besorgt hatte. – Dort fanden wir uns am Abend des Tages Alle wieder zusammen, denn Göthe hatte eine größere Gesellschaft geladen, um seine weimarischen Freunde, insbesondere die musikalischen, mit dem staunenswerthen Talente des Kindes, von dem ihm Zelter den Tag über so viel erzählt hatte, bekannt zu machen. Unter den Geladenen befand sich auch der weimarische Regierungsrath Schmidt, der, ein leidenschaftlicher Verehrer Beethovens, dessen Sonaten sämmtlich mit Feuer und Fertigkeit spielte und sie zum Theil auswendig wußte. Außerdem der Musikdirektor Eberwein mit seiner Gattin, einer ausgezeichneten Sängerin, Knebel, Herr von Froriep und Andere. Hummel war an diesem Abend nicht zugegen.

Zelter war, als wir Anderen schon versammelt waren, noch nicht da, wohl aber Felix Mendelssohn, der sich scherzend wie am Morgen mit den Damen des Hauses unterhielt. Zelter wohnte in einem der an den Gesellschaftssaal stoßenden Zimmer. Von dort her trat er ein, in einem Ceremoniell der Kleidung, wie ich ihn in Berlin niemals gesehen, nämlich in kurzen, schwarzen, seidenen Beinkleidern, seidenen Strümpfen und Schuhen mit großen silbernen Schnallen.

Jetzt erst erschien Göthe selbst. Er kam aus seinem Arbeitszimmer. Gewöhnlich pflegte er erst abzuwarten, daß die Gesellschaft versammelt sei, ehe er sich zeigte. So lange verwalteten sein Sohn und dessen Gattin die Pflichten der Wirthe auf die einnehmendste Art. – Eine gewisse Feierlichkeit war von dem Eintreten des Dichters in den Kreis seiner Gäste kaum zu trennen. Denn fast immer befanden sich in demselben Einige, die ihn zum ersten Mal sahen, oder ihm doch nur selten nahe getreten waren, und selbst für die, welche näheren und nächsten Umgang mit ihm pflogen, blieb das Gefühl der Verehrung ihm gegenüber das Vorherrschende. Sein ganzes Wesen prägte sich auch in der äußeren Erscheinung so aus, daß diese Empfindung die erste, die überwiegende, die bleibende sein mußte. Sein ernster langsamer Gang, die kraftvollen Züge, welche vielmehr die Stärke, als die Schwäche des Alters ausdrückten, die hohe Stirn, das weiße, reiche Haar, endlich die tiefe Stimme und die langsame Redeweise, Alles vereinigte sich gerade zu diesem Eindruck. Er stellte sich denn auch an diesem Abend her; eine plötzliche Stille trat ein, als der Dichtergreis die Thür öffnete, jedes Auge wandte sich zu ihm, er wurde mit stummer Verbeugung begrüßt. Sein »guten Abend« richtete sich an Alle, doch vorzugsweise ging er auf Zelter zu und schüttelte ihm vertraulich die Hand. Es ist allbekannt, daß Beide auf dem brüderlichen Fuß des »Du« in der Unterredung standen. Felix Mendelssohn schaute mit blitzenden Augen zu dem schneeigen Haupt des hohen Dichters hinauf; dieser aber nahm ihn mit beiden Händen freundlich beim Kopf und sagte: »Jetzt sollst du uns auch etwas vorspielen!« Zelter nickte sein Ja dazu.

Göthe trat nun zu uns Andern. Eine kurze Unterredung bei der ersten Vorstellung abgerechnet, hatte ich ihn, obgleich ich mich schon über zwei Monate in Weimar befand, noch nicht weiter gesehen. Seine Erscheinung war mir also fast wie eine erste und bewegte das ehrfurchtsvolle jugendliche Herz mit jener Beklemmung, die uns eine so mächtig überlegene Größe um so mehr erzeugt, je tiefer wir deren Bedeutsamkeit empfinden. Nach einigen freundlichen Aeußerungen gegen mich über die Beziehungen, in die ich zu seinem Sohne und seiner Schwiegertochter getreten, in deren Hause ich seither mehrfach ein- und ausgegangen war, und wo namentlich Musik – Frau von Göthe sang sehr angenehm – uns öfter beschäftigt hatte: lenkte der Dichter das Wort auf Felix Mendelssohn: »Mein Freund Zelter hat mir da seinen kleinen Schüler mitgebracht, den Sie gewiß schon kennen.« Ich bejahte es. Göthe fuhr fort: »von seinen musikalischen Anlagen soll er uns erst eine Probe geben; aber auch nach jeder anderen Seite ist er außerordentlich begabt. Man hat die Lehre von den Temperamenten, jeder Mensch trägt alle vier in sich, nur in verschiedenen Mischungsverhältnissen. Bei diesem Knaben würde ich annehmen, daß er vom Phlegma das irgend möglichste Minimum, von dem Gegensatze das Maximum besitze.«

Der Flügel war indeß geöffnet worden, die Lichter auf das Pult gestellt. Felix Mendelssohn sollte spielen. Er fragte Zelter, gegen den er durchaus kindliche Hingebung und Vertrauen zeigte: »Was soll ich spielen?«

»Nun, was du kannst!« antwortete dieser in dem obenhin streifenden Tone, dessen sich Alle erinnern werden, die ihn näher gekannt –: »Was dir nicht zu schwer ist!«

Mir, der ich wußte, was der Knabe leistete, für den schon damals kaum eine Aufgabe vorhanden war, die er nicht spielend gelöst hätte, erschien dieß wie eine unrichtig angebrachte Unterschätzung seiner Fähigkeiten. Es wurde endlich festgesetzt, daß er frei phantasiren sollte, und er bat Zelter um ein Thema.

Dieser setzte sich an den Flügel und spielte mit seinen steifen Händen (er hatte mehrere gelähmte Finger) ein sehr einfaches Lied in G-dur in Triolenbewegung, etwa mit diesem Anfang:

<bild>

Es mochte vielleicht sechzehn Takte haben. Felix spielte es einmal ganz nach und brachte dann, indem er die Triolenfigur in beiden Händen unisono einige Male übte, gewissermaßen seine Finger in das Geleise der Hauptfigur, damit sie sich ganz unwillkürlich darin bewegen möchten. Jetzt begann er, aber sogleich im wildesten Allegro. Aus der sanften Melodie wurde eine aufbrausende Figur, die er bald im Baß, bald in der Oberstimme nahm, sie mit schönen Gegensätzen durchführte, genug, er gab eine im feurigsten Fluß fortströmende Phantasie, in der Weise Hummels. Alles gerieth in das höchste Erstaunen, die kleine Knabenhand arbeitete in den Tonmassen, beherrschte die schwierigsten Kombinationen, die Passagen rollten, perlten, flogen mit ätherischem Hauch, ein Strom von Harmonieen ergoß sich, überraschende kontrapunktische Sätze entwickelten sich dazwischen – nur die Melodie blieb wenig berücksichtigt, und durfte wenig mitsprechen in diesem stürmischen glänzenden Reichstag der Töne.

Mit einem ihm schon damals eignen richtigen Takt dehnte der junge Künstler sein Spiel nicht zu lange aus. Desto größer war der Eindruck gewesen; ein überraschtes gefesseltes Schweigen herrschte, als er die Hände nach einem energisch aufschnellenden Schlußakkord von der Klaviatur nahm und sie nunmehr ruhen ließ.

Zelter war der Erste, der die Stille in seiner schon oben erwähnten fahrlässig-humoristischen Weise unterbrach, indem er laut sagte: »Na, du hast wohl vom Kobold und Drachen geträumt. Das ging ja über Stock und Block!« Göthe war von der wärmsten Freude erfüllt. Er herzte den kleinen Künstler, in dessen kindlichen Zügen sich Glück, Stolz und Verlegenheit zugleich malten, indem er ihm den Kopf zwischen die Hände nahm, ihn freundlich derb streichelte und scherzend sprach: »Aber damit kommst du nicht durch! Du mußt noch mehr spielen, bevor wir dich ganz anerkennen!«

»Aber was soll ich spielen?« fragte Felix. »Herr Professor,« er pflegte Zelter bei diesem Titel zu nennen, »was soll ich noch spielen?«

Göthe war ein großer Freund der Bach'schen Fugen; ein Musiker aus dem Städtchen Berka, zwei Meilen von Weimar, mußte ihm dieselben häufig vorspielen. Es wurde also auch an Felix Mendelssohn die Aufforderung gestellt, eine Fuge des hohen Altmeisters zu spielen. Zelter wählte sie aus dem Notenheft der Bach'schen Fugen, welches herbeigebracht wurde, und der Knabe spielte dieselbe völlig unvorbereitet mit vollendeter Sicherheit. Im Thema kam ein Triller vor, der später, als derselbe zu andern Stimmen im Baß und der Mittelstimme wiederkehrte, zuweilen wegblieb. »Du solltest den Triller nicht weglassen,« bemerkte Zelter; »man erkennt daran das Thema so gut wieder.«

Lebhaft rief Felix: »Es ist nicht möglich, ihn zu machen! Sehen Sie nur, Herr Professor, so liegen die Stimmen, so muß ich greifen.«

»Ja, wenn es nicht möglich ist,« erwiederte Zelter, »dann muß er wohl wegbleiben! – Aber vielleicht doch!« setzte er zweifelnd in summendem Tone hinzu. Felix beharrte mit kecker Sicherheit auf seiner Meinung und hatte zuverlässig Recht, denn wäre es irgend möglich gewesen, die Forderung zu erfüllen, so würde er sie erfüllt haben.

Göthe's Freude wuchs bei dem erstaunenswürdigen Spiel des Knaben. Unter anderem forderte er Felix auf, eine Menuett zu spielen.

»Soll ich Ihnen die schönste, die es in der ganzen Welt gibt, spielen?« fragte er mit hellleuchtenden Augen.

»Nun, und welche wäre das?«

Er spielte die Menuett aus »Don Juan«.

Göthe blieb fortdauernd lauschend am Instrument stehen, die Freude glänzte in seinen Zügen. Er wünschte nach der Menuett auch die Ouvertüre der Oper; doch diese schlug der kleine Spieler rund ab mit der Behauptung, sie lasse sich nicht spielen, wie sie geschrieben stehe, und abändern dürfe man nichts daran. Dagegen erbot er sich, die Ouvertüre zum »Figaro« zu spielen. Er begann sie mit einer Leichtigkeit der Hand, mit einer Sicherheit, Rundung und Klarheit in den Passagen, wie ich sie nie wieder gehört. Dabei gab er die Orchestereffekte so vortrefflich, machte so viele feine Züge in der Instrumentation bemerkbar, durch mitgespielte oder deutlich hervorgehobene Stimmen, daß die Wirkung eine hinreißende war, und ich fast behaupten möchte, mehr Freude daran gehabt zu haben, als jemals an einer Orchesteraufführung.

Göthe wurde immer heiterer, immer freundlicher, ja er trieb Scherz und Neckerei mit dem geist- und lebensvollen Knaben.

»Bis jetzt,« sprach er, »hast du mir nur Stücke gespielt, die du kanntest, jetzt wollen wir einmal sehen, ob du auch etwas spielen kannst, was du noch nicht kennst. Ich werde dich auf die Probe stellen.«

Er ging hinaus und kam nach einigen Minuten zurück mit mehreren Blättern geschriebener Noten in der Hand. »Da habe ich Einiges aus meiner Manuskriptensammlung geholt. Nun wollen wir dich prüfen. Wirst du das hier spielen können?«

Er legte ein Blatt mit klar, aber klein geschriebenen Noten auf das Pult. Es war Mozarts Handschrift. Ob es uns Göthe sagte, oder ob es auf dem Blatte stand, weiß ich nicht mehr; nur daß Felix Mendelssohn freudig erglühete bei dem Namen, und uns Alle ein unnennbares Gefühl durchbebte, was zwischen Begeisterung und Freude, zwischen Bewunderung und Ahnung schwankte, vielleicht von Allem etwas hatte. Göthe, der Greis, der ein Manuskript Mozarts, des seit dreißig Jahren Bestatteten, dem zu reichster Verheißung frisch aufblühenden Knaben Felix Mendelssohn vorlegt, um es vom Blatt zu spielen – wahrlich, diese Konstellation ist eine seltene zu nennen. Die Scene gäbe einen würdigen Gegenstand für einen deutschen Maler.

Der junge Künstler spielte mit vollster Sicherheit, ohne nur den kleinsten Fehler zu machen, das nicht leicht zu lesende Manuskript vom Blatt. Sehr schwer war die Aufgabe allerdings nicht, wenigstens nicht für Mendelssohn, denn es galt nur ein Adagio zu lesen. Aber er hatte viel Zweiunddreißigtheile, Passagen, die genau eingetheilt sein wollen, und ein Manuskript bleibt immer schwerer zu lesen, als ein gestochenes Blatt. Jedenfalls war es eine Schwierigkeit, die Aufgabe so zu lösen, wie es geschah, denn der Vortrag war so, als wisse es der Spieler seit Jahren auswendig, so sicher, so klar, so abgewogen.

Göthe blieb, da Alles Beifall spendete, bei seinem heiteren Tone. »Das ist noch nichts,« rief er, »das können auch Andere lesen. Jetzt will ich dir aber etwas geben, dabei wirst du stecken bleiben! Nun nimm dich in Acht!«

Mit diesem scherzenden Tone langte er ein anderes Blatt hervor und legte es auf's Pult. Das sah in der That sehr seltsam aus. Man wußte kaum, ob es Noten waren, oder nur ein liniirtes, mit Dinte bespritztes, an unzähligen Stellen verwischtes Blatt. Felix lachte verwundert laut auf. »Wie ist das geschrieben! Wie soll man das lesen!« rief er aus.

Doch plötzlich wurde er ernsthaft, denn indem Göthe die Frage aussprach: »Nun rathe einmal, wer das geschrieben!« rief Zelter schon, der hinzugetreten war und dem am Fortepiano sitzenden Knaben über die Achsel schauete: »Das hat ja Beethoven geschrieben! Das kann man auf eine Meile sehen! Der schreibt immer wie mit einem Besenstiel und mit dem Aermel über die frischen Noten gewischt! Ich habe viel Manuskripte von ihm! Die sind leicht zu erkennen.«

Bei diesem Namen war Felix plötzlich ernsthaft geworden, ja mehr als ernsthaft. Ein heiliges Staunen verrieth sich in seinen Zügen; Göthe betrachtete ihn mit forschenden, freudestrahlenden Blicken. Der Knabe hielt das Auge unverwandt auf das Manuskript gespannt und leuchtende Ueberraschung überflog seine Züge, wie sich aus dem Chaos ausgestrichener, frisch verwischter, über- und zwischengeschriebener Noten und Worte ein hoher Gedanke der Schönheit, der tiefen, edlen Erfindung hervorrang.

Das Alles währte aber nur Sekunden. Denn Göthe wollte die Prüfung scharf stellen, dem Spieler keine Zeit zur Vorbereitung lassen. »Siehst du!« rief er, »sagt' ich dir's nicht, du würdest stecken bleiben? Jetzt versuche, zeige, was du kannst!«

Felix begann sofort zu spielen; es war ein einfaches Lied – deutlich geschrieben, eine kinderleichte Aufgabe. So aber gehörte doch dazu, um aus den zehn und zwanzig ausgestrichenen, halb- und ganzverwischten Noten und Stellen die gültigen herauszufinden, eine Schnelligkeit und Sicherheit des Ueberblicks, wie sie Wenige erringen werden. Ich sah verwundert mit in's Blatt und versuchte zu singen, doch manche Takte blieben, was die Worte anlangte, durchaus unlesbar, wie auch der Akkompagnist rücksichtlich der Noten einhalf und oft lachend mit dem Finger die richtige zeigte, die urplötzlich an ganz anderer Stelle gesucht werden mußte. Er aber übersah, so schien es, Alles zugleich.

Einmal spielte er es so durch, im Allgemeinen richtig, aber doch einzeln inne haltend, manchen Fehlgriff unter einem raschen »Nein so!« verbessernd; dann rief er: »Jetzt will ich es Ihnen vorspielen!« Und dieses zweite Mal fehlte auch nicht Eine Note; die Singstimme sang er theils, theils spielte er sie mit. »Das ist Beethoven, diese Stelle!« rief er einmal dazwischen, »daran hätte ich ihn erkannt!«

Mit diesem Probestück ließ es Göthe genug sein. Daß der junge Spieler wiederum das reichste Lob einerntete, welches sich bei Göthe in dem neckenden Scherz versteckte, hier habe er doch gestockt, und sei nicht ganz sicher gewesen, darf ich kaum hinzufügen.

Was ferner an dem Abend geschah, ist mir nicht mehr gegenwärtig, genug, Felix Mendelssohn spielte noch Manches; er begleitete Frau von Göthe zum Gesang; es wurde auch vorgeschlagen, etwas zu vier Händen zu spielen, doch keiner von uns Andern mochte sich dazu verstehen, in der Gewißheit, daß neben dem Alles besiegenden Talent des Knaben jede andere Ausübung doch nur stümperhaft oder gar störend erscheinen mußte, und nichts dabei zu ernten sei, als Beschämung für das anmaßliche Beginnen.

Späterhin veranstaltete Göthe noch mehrere gesellige Versammlungen, zu denen er die weimarischen Freunde einlud, damit sie sich an dem Talent des Knaben erfreuen möchten. Namentlich erinnere ich mich eines Sonntags Vormittags, an welchem Felix besonders glücklich phantasirte, zum Theil über ein Thema von Eberwein (eine Göthe'sche Ballade), die seine Gattin eben zuvor gesungen.

Der Dichtergreis weissagte dem musikalischen Wunderknaben die größte Zukunft. Er sprach mit vollem warmen Glauben davon zu mir, an den er sich in dieser Beziehung öfters wandte. Seine echte künstlerische Freude über die viel verheißende Erscheinung loderte immer wieder in frischen Flammen auf. Entschieden war der Knabe sein Liebling geworden.

Dieses innige Freundschaftsverhältniß zu Göthe war gleichfalls eine der köstlichsten Glücksgaben, welche die Vorsehung dem jungen Künstler bescheerte. Im Jahre 1824 erschienen von seinen vielen Kompositionen die 3 Quartette (C-moll, F-moll, H-moll – das letztere, das trefflichste von den dreien, Göthe gewidmet) im Druck. Im folgenden Jahre reiste Mendelssohns Vater mit dem Sohne nach Paris, um ihn Cherubini vorzustellen und dessen Urtheil einzuholen, ob Felix sich ausschließlich der Musik widmen sollte. Die Antwort fiel natürlich bejahend aus. Auf der Rückreise wurde Göthe besucht, damit dieser das ihm gewidmete Musikstück vom Komponisten selber hören möchte. Dies war wieder ein Festtag für den Dichtergreis, der darüber an Zelter unterm 21. Mai 1825 also schrieb: »Felix produzirt sein neuestes Quartett zum Erstaunen von Jedermann. Diese persönliche hör- und vernehmbare Dedikation hat mir sehr wohlgethan.«

Die öftere Anwesenheit des berühmten Klaviervirtuosen Moscheles in Berlin wirkte höchst anregend auf Felix Mendelssohn, der auch bei diesem Meister noch Lektionen nahm, aber aus einem Schüler bald ein vertrauter Freund des Moscheles wurde. Dabei ließ es Felixens Vater sich stets angelegen sein, daß die wissenschaftliche und selbst die körperliche Ausbildung des Sohnes über den musikalischen Studien nicht zu kurz kommen möchte. Sein Hauslehrer, Professor Heyse, verstand es trefflich, seinen empfänglichen Zögling mit der klassischen Literatur der Griechen und Römer vertraut zu machen; unter seiner Leitung arbeitete Felix die sehr gelungene Uebersetzung der Andria des Terenz, die er Göthe übersandte, der unter dem 11. Okt. 1826 an Zelter schrieb: »dem trefflichen, thätigen Felix schönstens zu danken für das herrliche Exemplar ernster, ästhetischer Studien; seine Arbeit solle den weimarischen Kunstfreunden in den kommenden Winterabenden eine belehrende Unterhaltung sein.« An fleißigen gymnastischen Uebungen im Turnen, Reiten und Schwimmen hatte man es auch nicht fehlen lassen, und so bezog der achtzehnjährige Jüngling im Jahr 1827 wohlvorbereitet die Universität Berlin.

Bei allem Eifer, womit Mendelssohn den Studien oblag, vergaß er doch keinen Augenblick die Musik. So übte er in der berliner Singakademie unter Mitwirkung Zelters Bachs große Passionsmusik ein, und brachte dieses großartige Werk (vielleicht das größte, das im evangelischen Kirchenstyl verfaßt ist) zur Osterfeier 1829 zur Ausführung. Hundert Jahre lang war die herrliche Komposition nicht mehr gehört worden, der junge Mendelssohn rief den Geist des alten Bach wieder zu neuem Leben im deutschen Volke. Diese Aufführung, die er mit der Sicherheit eines geübtesten Kapellmeisters dirigirte, war gleichsam die Abschiedsfeier für den Künstler, der nun selbstständig hinausging in die große Welt, und in drei Wanderjahren England, Frankreich und Italien besuchte.

Moscheles hatte in London das Direktorium der philharmonischen Gesellschaft bereits vorbereitet auf die Ankunft des außerordentlichen Talents, und mit großem Erfolg wurde im philharmonischen Konzert zum ersten Male die »Ouvertüre zum Sommernachtstraum« aufgeführt, die Mendelssohn schon in seinem 17. Jahre komponirt haben soll. Stürmischer Beifall lohnte das Werk, das nun auch in Paris mit entschiedener Anerkennung zur Aufführung kam. La partition du Songe d'une nuit d'été est peut-être ce qu'on a de lui le plus original. Le Scherzo et la Marche – entr'actes peuvent être assimilés aux plus belles productions, des plus grands maîtres. Ces splendides morceaux égalent ce que Beethoven a d'imprévu, d'exubérant, de saisissant pour tous les âges, pour toutes les conditions de la vie. Le souffle shakspearien a passé dans l'ouverture. Une inspiration aussi franche, aussi complète, ne se rencontre guère deux fois dans la vie d'un homme. La musique du Songe d'une nuit d'été est la poëtique effusion des impressions du jeune âge de cette haute intelligence, de cette âme chaleureuse qui s'appelle Felix Mendelssohn-Bartholdy. (Beethoven et ses trois styles p. W. de Lenz.) Die Deutschen mußten erst von den Fremden erfahren, welchen Schatz ihr eigenes Land barg. Die Reise nach Schottland, die Mendelssohn zu seinem Vergnügen unternahm, erzeugte in ihm den Gedanken einer »Ouvertüre zur Fingalshöhle« oder zu den »Hebriden«, und wahrscheinlich schon im folgenden Jahre, wo er in Berlin vorsprach, führte er diese Idee aus. Man erzählt, als seine Schwestern ihn gebeten hätten, doch etwas von den Hebriden zu erzählen, so habe er geantwortet: »Das läßt sich nicht erzählen, sondern nur spielen,« sich an den Flügel gesetzt und jenes geisterhaft-phantastische Thema gespielt, das er nachher zur Ouvertüre ausspann. In der Tonmalerei, welche den Eindruck der Außenwelt wiederum in Tönen gegenständlich macht, war Mendelssohn Meister. Nichts Gesuchtes, Künstliches, in der Musik Unerlaubtes wandte er an, vielmehr wußte er mit den einfachsten Mitteln jene Stimmung im Gemüth des Hörers hervorzurufen, die aus sich selber heraus das Bild erzeugte. Hatte er doch die berühmte und beliebteste Ouvertüre »Meeresstille und glückliche Fahrt« (die er bald nach der Sommernachtstraum-Ouvertüre schrieb), komponirt, ohne das Meer gesehen zu haben, ähnlich wie Schiller in Kraft der Phantasie den Meeresstrudel und die Alpennatur in anschaulichster Wahrheit malte, ohne die Alpen und das Meer gesehen zu haben. Auch als vollendeter Klavierspieler ließ sich Mendelssohn öffentlich hören, aber nicht in der Weise der Virtuosen vom Fach, die ihre Fingerfertigkeit bewundert sehen wollen, sondern um durch den Vortrag gediegener, klassischer Werke den Geschmack der Leute zu bilden und zu veredeln.

Es war im Jahre 1829, als Mendelssohn von seiner Reise nach England sehr befriedigt und voll neuer Eindrücke zurückkehrte, nicht um auf seinen Lorbeeren auszuruhen, sondern gleich im folgenden Jahre zu seiner weiteren Bildung die Reise nach Italien zu unternehmen. Wie Alles in seinem Leben ging auch diese Reise glücklich von Statten; in Rom weilte er am längsten und liebsten und auch das Arbeiten – denn das Komponiren ward auch auf der Reise nicht vergessen – gelang ihm am besten in der alten ewigen Roma. Die Rückreise ging durch die Schweiz nach Frankreich und England, wo er 1832 zum zweiten Mal anlangte und mit wahrem Jubel von den londoner Freunden empfangen wurde. Getreulich und pünktlich schrieb er von dieser Reise Briefe an die Eltern, Geschwister und Freunde, welche unter dem Titel: »Reisebriefe von Felix Mendelssohn-Bartholdy aus den Jahren 1830-32, herausgegeben von Paul Mendelssohn-Bartholdy« erschienen und gleich nach ihrem Erscheinen mit solcher Theilnahme gelesen wurden, daß bald eine zweite Auflage (Leipzig, 1862) nöthig wurde.

Diese Briefe sind klassisch, gleich ausgezeichnet durch ihren Inhalt wie durch ihre Form, die, ohne daß der Verfasser darauf ausgeht, immer treffend, durchsichtig klar und künstlerisch abgerundet ist. In diesen Briefen hat sich der edle hochbegabte Mann in der anspruchlosesten Weise ein schönes Denkmal seines Strebens und Wesens gesetzt, sie zeigen, wie der Herausgeber es bündig und kurz ausdrückt: »wie vollkommen sich Mendelssohns charaktervolle Natur und Kunst gegenseitig durchdrungen und bedingt haben.« Noch ein Jüngling an Jahren, denn als 21jähriger junger Mann trat Mendelssohn diese Reise an, vereint er mit dem Jugendfeuer der Empfindung die besonnene Ruhe des welt- und menschenkundigen Weisen, der mit eindringendem Blick die Dinge betrachtet, sie ganz gegenständlich wie ein Göthe schildert und nirgends durch Voreingenommenheit und augenblicklichen Eindruck sich bestechen läßt.

Mendelssohn reiste über Weimar, um dem alten lieben Göthe einen Besuch abzustatten, von dem er mit innigster Freude empfangen wurde, so daß er Mühe hatte, sich loszureißen. Er mußte dem ehrwürdigen Greise, dessen Liebe zur Musik noch stark war, wie früher, schon Vormittags vorspielen und Abends wurden Gäste geladen und der unermüdliche Künstler spielte dann wieder Stunden lang. Haben wir oben einen Besuch des Knaben Mendelssohn bei Göthe vorgeführt, so mögen hier noch einige Stellen aus dem Berichte des Mannes folgen über die frohen Tage in Weimar.

»Gestern Abend war ich in einer Gesellschaft bei Göthe und spielte den ganzen Abend allein: Konzertstück, Aufforderung, Polonaise in C von Weber, drei Wälsche Stücke, Schottische Sonate. Um 10 Uhr war es aus, ich blieb aber natürlich unter dummem Zeug, Tanzen, Singen u. s. w. bis zwölf, lebe überhaupt ein Heidenleben. Der Alte geht immer um 9 Uhr auf sein Zimmer, und so wie er fort ist, tanzen wir auf den Bänken und sind noch nie vor Mitternacht auseinander gegangen. – Vormittags muß ich ihm ein Stündchen Klavier vorspielen, von allen verschiedenen großen Komponisten, nach der Zeitfolge, und muß ihm erzählen, wie sie die Sache weiter gebracht hätten; und dazu sitzt er in einer dunkeln Ecke, wie ein Jupiter tonans und blitzt mit den alten Augen. An den Beethoven wollte er gar nicht heran. Ich sagte ihm aber, ich könne ihm nicht helfen und spielte ihm nun das erste Stück der C-moll Symphonie vor. Das berührte ihn ganz seltsam. Er sagte erst: ›das bewegt aber gar nichts, das macht nur Staunen; das ist grandios;‹ und dann brummte er so weiter und fing nach einiger Zeit wieder an: ›das ist sehr groß, ganz toll, man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein; und wenn das nun alle die Menschen zusammenspielen!‹ Und bei Tische, mitten in einem anderen Gespräch, fing er wieder davon an. – ›Heute hat er mir eine Menge Schönheiten von Weimar zusammengebeten, weil ich doch auch mit den jungen Leuten leben müsse.‹ Komme ich dann in solcher Gesellschaft an ihn heran, sagt er: ›meine Seele, du mußt zu den Frauen hingehn und da recht schön thun.‹ Ich habe übrigens viel Lebensart und ließ gestern fragen, ob ich nicht doch vielleicht zu oft käme. Da brummte er aber Ottilie an, die es bestellte, und sagte: ›er müsse erst ordentlich anfangen mit mir zu sprechen, denn ich sei über meine Sache so klar und da müsse er ja Vieles von mir lernen.‹«

Dieses Wort ehrt gleich sehr den alten Göthe wie den jungen Mendelssohn, dessen innere Vollendung von jenem richtig erkannt und gewürdigt wurde.

Aus dem reichen Schatz der Reiseschilderungen mögen hier nur einige charakteristische Aeußerungen eine Stelle finden. In dem Briefe aus Rom den 6. Juni 1831 heißt es: »Liebe Eltern! Nun ist's mal wieder Zeit, daß ich Euch einen ordentlichen vernünftigen Brief schreibe; ich glaube, daß alle die aus Neapel eigentlich nichts recht getaugt haben. Es ist, als wolle Einen die Luft da nicht zum Nachdenken kommen lassen; wenigstens ist es mir nur selten gelungen, mich dort zu sammeln. Jetzt bin ich aber kaum ein paar Stunden wieder hier und das alte römische Behagen und die heitere Ernsthaftigkeit, von der ich Euch in meinen ersten Briefen aus Rom schrieb, haben sich schon wieder ganz über mich ausgebreitet. Ich kann nicht sagen, wie ungleich mehr ich Rom liebe, als Neapel. Die Leute sagen, Rom sei monoton, einfarbig, traurig und einsam; es ist auch wahr, daß Neapel mehr wie eine große europäische Stadt ist, lebendiger, verschiedenartiger, kosmopolitischer. Ich sage Euch aber im Vertrauen, daß ich nach und nach auf das Kosmopolitische einen ganz besonderen Haß bekomme; ich mag es nicht, wie ich überhaupt Vielseitigkeit auch nicht mag oder eigentlich nicht recht daran glaube. Was eigenthümlich, was schön, was groß sein soll, das muß einseitig sein; wenn diese eine Seite nur zu größter Vollkommenheit ausgebildet ist – und das kann kein Mensch Rom absprechen. Um als große Stadt eigenthümlich zu sein, dazu scheint mir Neapel zu klein. Das ganze Leben und Treiben beschränkt sich auf zwei große Straßen: den Toledo und die Küste vom Hafen bis zur Chiaja. Die Idee eines Mittelpunkts für ein großes Volk, die mir London so wunderbar schön macht, gibt mir Neapel nicht, und zwar weil eben das Volk fehlt; denn die Fischer und Lazzaroni kann ich kein Volk nennen. Sie sind mehr wie Wilde und ihr Mittelpunkt ist nicht Neapel, sondern das Meer. Die Mittelklassen, die gewerbetreibenden arbeitenden Bürger, die in den andern großen Städten die Grundlage bilden, sind hier ganz untergeordnet. – – –

»Ich kann nicht sagen, daß ich eigentlich unwohl war in dem fortwährenden Scirokko-Wetter, aber es war unangenehmer als eine Unpäßlichkeit, die in ein paar Tagen vorübergeht. Ich fühlte mich schlaff, unlustig zu allem Ernsthaften, kurz unthätig. Wie ich denn nun Tage lang mit mürrischem Gesicht die Straße auf- und abschlenderte und mich am liebsten eigentlich auf die Erde gelegt hätte, ohne irgend etwas zu denken, zu wollen, zu thun – da fiel mir auf einmal ein, daß die Hauptklassen von Neapel am Ende wirklich so leben und daß also der Grund zu meinem Mißbehagen nicht wie ich fürchtete, in mir, sondern im Ganzen, in Luft, Klima u. s. w. liegen möchte. Das Klima ist für einen großen Herrn eingerichtet, der spät aufsteht, nie zu Fuß zu gehen braucht, nichts denkt (weil das erhitzt), Nachmittags seine paar Stunden auf dem Sopha schläft, dann sein Eis ißt und Nachts in's Theater fährt, wo er wieder nichts zu denken findet, sondern da Besuche machen und empfangen kann. Auf der andern Seite ist das Klima wieder ebenso passend für einen Kerl im Hemde, mit nackten Beinen und Armen, der sich ebenfalls nicht zu bewegen braucht, sich ein paar Gran erbettelt, wenn er nichts zu leben hat, Nachmittags sein Schläfchen macht auf der Erde, am Hafen oder auf dem Steinpflaster und dann sein frutti di mare etwa selbst aus dem Meere heraufholt; dann da schläft, wo er Abends zuletzt hinkommt – kurz, der in jedem Augenblick das thut, was ihm gerade gemüthlich ist, wie ein Thier. Das sind denn nun auch die beiden Hauptklassen in Neapel. Bei weitem der größere Theil der Bevölkerung des Toledo besteht aus zierlich geputzten Herren und Damen oder schönen Karossen, in denen sich Mann und Frau einander spazieren fahren, oder aus diesen braunen sans culottes, die mal Fische zum Verkauf tragen und gräßlich dazu brüllen, oder Last tragen, wenn es an Gelde fehlt; Leute aber, die eine fortgesetzte Beschäftigung haben – irgend eine Sache mit Fleiß und Beharrlichkeit verfolgen und ausbilden –, die Arbeit um der Arbeit willen lieben, giebt es wenige, glaube ich. Göthe sagt, das sei der Jammer des Nordens, daß man dort immer etwas thun wolle und immer nach etwas strebe, und gibt einem Italiener Recht, der ihm räth, er solle nicht so viel denken, das mache nur Kopfschmerzen. Es muß aber wohl sein Spaß sein; wenigstens hat er nicht danach gehandelt, sondern eben recht wie ein Nordländer.«

Wie charakterisirt sich in solchen Aeußerungen der edle, gewissenhaft arbeitsame, ununterbrochen thätige, echt deutsche Mendelssohn selber! So sehr er Göthen liebte und verehrte, so gehörte er doch keineswegs zu denen, die jedes Wort des großen Dichters wie einen Orakelspruch betrachten oder die da glauben, den anderen großen Nebenbuhler Schiller herabsetzen zu müssen. Aus Lauterbrunnen schreibt er am 13. August 1831: »Ich komme so eben von einem Spaziergange, gegen den Schmadri-Bach und das Breithorn zu, her. Alles, was man sich von der Größe und dem Schwunge der Berge denkt, ist niedrig gegen die Natur. Daß Göthe aus der Schweiz nichts Andres zu schreiben gewußt hat, als ein paar schwache Gedichte und die noch schwächeren Briefe, ist mir ebenso unbegreiflich wie vieles Andere in der Welt.« Aus Engelberg den 23. August 1831: »Das Herz ist mir so voll, da muß ich es Euch sagen. Eben habe ich mich hier im reizendsten Thale wieder an Schillers Wilhelm Tell gemacht und nur eben die erste halbe Szene gelesen; – es gibt doch keine Kunst, wie unsre deutsche! Weiß Gott, wie es kommt! aber ich denke, daß einen solchen Anfang kein andres Volk verstehen, geschweige gar machen kann. – Das nenne ich ein Gedicht und einen Anfang; erst die klaren hellen Verse, in denen der spiegelglatte See und Alles anklingt, und dann das unbedeutende langsame Schweizergeschwätz, und dann der Baumgarten mitten hinein – es ist gar zu himmlisch schön! Was ist da nicht frisch, nicht kräftig, nicht hinreißend? – In der Musik gibt es aber solch ein Werk noch nicht und doch muß einmal auch darin etwas so Vollkommenes gemacht werden. Dann ist es auch gar zu schön, daß er sich die ganze Schweiz selbst erschaffen hat, und obgleich er sie niemals selbst gesehen, ist doch Alles so treu und so ergreifend wahr: Leben, Leute, Natur und Landschaft.«

Ueber den Bodensee, Lindau, München (wo Mendelssohn in bürgerlichen Kreisen und bei Hofe spielen mußte) ging's dann nach Paris. In einem Briefe an Immermann wird kurz und treffend das französische Vaudeville charakterisirt, in dem sich ja ganz besonders das französische Wesen abspiegelt. Vom Gymnase dramatique heißt es: »die Politik spielt überall eine Hauptrolle und die hätte mir das Theater verleiden können; denn man hat außerdem genug davon; aber es ist eine leichtsinnige spöttische Politik im Gymnase, die alle Vorfälle des Tags und alle Zeitungen benutzt, um lachen und applaudiren zu machen, und da muß man am Ende mitlachen und mitklatschen. Politik und Lüsternheit sind die beiden Hauptinteressen, um die sich Alles dreht, und so viel Stücke ich noch gesehen habe, so fehlt eine Entführungsszene und ein Ausfall auf die Minister nirgends. Schon die ganze Art des Vaudevilles, daß gewisse konventionelle Musik am Ende der Szene eintritt, zu der die Schauspieler einige Couplets mit einer witzigen Pointe halb singen, halb sprechen, ist so sehr französisch; wir werden das nie lernen können und wollen; denn diese Art der Verbindung von stehendem Refrain und neuem Witz fehlt in unserer Konversation und unseren Ideen; es ist so effektvoll und schlagend und so sehr prosaisch, wie ich mir nur etwas denken kann.«

Als der junge Mann zum ersten Male wieder im Saale des Philharmonischen Vereins zu London erschien, war Probe und Mendelssohn hörte in einer Loge zu. Nach der Pastoral-Symphonie von Beethoven ging er in den Saal, um einige Freunde zu begrüßen. Da bemerkt ihn Einer aus dem Orchester und ruft voll Freude: there is Mendelssohn! und darauf fangen Alle dermaßen an zu schreien und zu klatschen, daß der Gefeierte ganz in Verlegenheit gerieth. Wiederum ruft Einer: Welcome to him! und abermals derselbe Freudenlärm. »Ich mußte aufs Orchester klettern – schreibt er – und mich bedanken. Seht, das werde ich nicht vergessen; denn es war mir lieber als jede Auszeichnung; es zeigte, daß die Musiker mich lieb hatten.«

Nachdem er von seinen Reisen nach Berlin zurückgekehrt war, gab er daselbst eine Reihe von Konzerten, deren Ertrag er zu wohlthätigen Zwecken bestimmte. Er fand Anerkennung, aber keine Anstellung, keinen bestimmten Wirkungskreis. So folgte er gern einem Rufe nach Düsseldorf, wo er in Gemeinschaft mit dem Dichter Immermann sich der Aufgabe unterzog, ein Theater in's Leben zu rufen, das auf die reinsten Kunstgrundsätze sich stützen sollte. Doch die beiden Dirigenten konnten sich nicht einigen, und das ganze Unternehmen ging bald wieder ein. Desto unbedingter gründete Mendelssohn sein musikalisches Ansehen in Düsseldorf, und seine Meisterschaft in der Leitung großer Konzerte ward immer allgemeiner anerkannt. Er ward öfters nach England berufen, und stets feierte er große Triumphe. In Düsseldorf knüpfte er manches Freundschaftsband mit berühmten Malern (er selber war nicht ohne Talent im Entwerfen charakteristischer Skizzen); das Wichtigste war aber die Komposition seines Hauptwerks, des Oratoriums Paulus, das er zum größten Theil in Düsseldorf vollendete. In diesem Oratorium lebt und webt der freudige Glaube, der sinnige, tiefe Ernst, die Demuth und Gottergebenheit des evangelischen Christen. Wie Viele haben sich schon daran erbaut und emporgerichtet, und wie reinigend hat diese geistliche Oper auf den musikalischen Geschmack in ganz Deutschland gewirkt! Die Gesangvereine wetteiferten, den »Paulus« in würdiger Weise zur Darstellung zu bringen.

Im Jahre 1835 verließ Mendelssohn Düsseldorf, um die Stelle als Musikdirektor in Leipzig anzunehmen und die Abonnements-Konzerte im Gewandhause zu leiten. In dem kunstsinnigen Leipzig, wo ein reges musikalisches Leben war, fand der geniale Direktor den rechten Boden; es bildete sich eine musikalische Gemeinde, die ihrem Meister mit tiefster Verehrung und Liebe anhing und der wahrhaft gediegenen Musik eine sichere Stätte bereitete. Der Ruf Mendelssohns zog auch manche andere berühmte Künstler nach Leipzig, und die Gewandhaus-Konzerte waren so einzig in ihrer Art, daß sich kein anderes Institut in Deutschland damit messen konnte. Beethovens D-moll-Symphonie (die neunte und letzte) war ihrer enormen Schwierigkeit willen von den Dirigenten wie vom Orchester gefürchtet worden; der Ausdauer und Gewandtheit Mendelssohns gelang es, auch dieses riesige Werk zu vollendeter Aufführung zu bringen und das Verständniß desselben beim Publikum anzubahnen. Die ersten Heroen deutscher Tonkunst, Bach, Händel, Haydn, Mozart, Beethoven bildeten den Kern jener Konzerte; aber auch mit seinen eigenen Gaben wirkte Mendelssohn höchst wohlthätig auf die Bildung des musikalischen Sinnes und Veredlung des musikalischen Geschmacks. Als zum ersten Mal das wundervolle Lied von Eichendorff: »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben,« gesungen wurde, da empfanden es alle Herzen, wie durch des Meisters Töne das schöne Gedicht erst die rechte Weihe empfangen hatte. In dem einfachsten Liede wurde des Tondichters Größe offenbar. Wer kennt nicht das Volkslied: »Es ist bestimmt in Gottes Rath,« das Mendelssohn so unübertrefflich einfach komponirt hat!

In Betracht seiner hohen Verdienste hatte ihm die philosophische Fakultät zu Leipzig schon 1836 das Ehrendiplom als »Doktor« überreicht, und selten möchte ein Musiker den Doktortitel mehr verdient haben, als der gelehrte Mendelssohn. Im Jahre 1841 ernannte ihn der König von Sachsen zu seinem Kapellmeister. Aber Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, welcher seit seiner Thronbesteigung trachtete, alle großen Talente der Gegenwart in seine nächste Umgebung zu ziehen, hatte sein Auge gleichfalls auf den ehemaligen Insassen seiner Hauptstadt gerichtet, ihn fast gleichzeitig und zwar mit einem glänzenden Gehalt zu seinem Kapellmeister ernannt und in seine Nähe berufen. Mendelssohn konnte kaum anders, als diesem ehrenvollen Rufe gehorchen, und seine Stellung zum Könige blieb auch immer die beste. Der geistreiche Fürst regte den Meister an, die griechische Tragödie »Antigone« mit Musik in Szene zu setzen. Mendelssohn, der noch fertig die Antigone im Urtext las, machte sich willig an's Werk, und schrieb während seines Sommeraufenthalts in Berlin die Ouvertüre, Chöre und Melodramen zu Sophokles' Antigone in der Uebersetzung von Donner. Mit Ludwig Tiecks Hülfe wurde das Stück zuerst auf der Potsdamer Hofbühne nach allen Regeln der Alterthumskunde in Szene gesetzt, und nebst Mendelssohns Musik zuerst am 15. Oktober, als des Königs Geburtstag, vor einem auserwählten Kreise gegeben. Dann kam sie in Berlin und Leipzig zur Aufführung. Die deutschen Philologen beschlossen bei ihrer Zusammenkunft in Kassel im Herbst des folgenden Jahres, Mendelssohn ein Dankschreiben zuzusenden, »weil er durch seine Musik zur Antigone wesentlich zur Wiederbelebung des Interesses an der griechischen Tragödie beigetragen habe.«

Die Leitung der Gewandhaus-Konzerte hatte in Abwesenheit Mendelssohns dessen Freund David übernommen; übrigens fand sich der Meister schon im Winter 1841-1842 wieder in Leipzig ein, wo er seine eigentliche Heimath und den liebsten Wirkungskreis gefunden hatte, dem er nicht untreu werden wollte. Daß er öfters von Leipzig abwesend sein und die großen Musikfeste nah und fern dirigiren mußte, verstand sich ohnehin. Die leipziger Konzerte beehrte der König von Sachsen wiederholt mit seiner Gegenwart. Mendelssohn benutzte diese Anwesenheit, um eine Lieblingsidee zu verwirklichen, die er schon lange mit sich herumgetragen hatte: die Errichtung eines Konservatoriums der Musik, in welchem talentvolle Schüler eine vollständige Ausbildung ihrer musikalischen Anlagen finden sollten. Dieses nicht bloß für Leipzig, sondern für das ganze musikalische Deutschland höchst wichtige Institut kam unter dem Beistande des Königs glücklich zu Stande, und Mendelssohn war unermüdlich im Unterricht (er hatte Uebungen im Sologesang, Instrumentenspiel und in der Komposition), in den Prüfungen und in der Anregung zum frischen Fortschritt. Vom Könige von Preußen hatte der Meister den Titel eines Generalmusikdirektors erhalten, und als solcher mußte er die Oberleitung aller geistlichen und kirchlichen Musik in Preußen übernehmen. Auch die Engländer riefen ihn wiederholt nach London; so war jeder Augenblick Mendelssohns mit Thätigkeit erfüllt. In Berlin richtete er die Symphonien-Soiréen ein, die er selber leitete. »Mendelssohn,« so schrieb ein berliner Korrespondent (in den Signalen für die musikalische Welt), »behandelt das Orchester, als wenn er Ein Instrument unter den Händen hätte. Er spielt dieses Rieseninstrument mit einer Präcision, einem Feuer, das nichts zu wünschen übrig läßt. Von der glänzendsten Kraft bis zum zartesten Verschweben der Töne tritt Alles klar, innig und seelenvoll hervor.« Die hohe Meisterschaft, mit welcher er den Taktstab handhabte, verführte ihn freilich auch zu einer Beschleunigung der Tempo's, die mitunter in ein übertriebenes Rennen und Jagen ausartete. Bei der angestrengtesten praktischen Thätigkeit fand er dennoch Kraft und Zeit, ein zweites großes Oratorium, den »Elias« zu komponiren, der vielen anderen Werke für Kammermusik, Gesang, Piano ganz zu geschweigen.

Dieses Oratorium, 1846 vollendet, erfüllt von prophetischer Kraft und Weihe, machte ganz besonders in England Glück, und hatte Mendelssohn schon früher dort viele Freunde gehabt, so gewann ihm das neue Werk glühende Verehrer. Nach der ersten Aufführung des »Elias« in London schrieb Prinz Albert die nachstehenden Worte in das Textbuch des Oratoriums, dessen er sich bedient hatte, und schickte es als Ausdruck seines Dankes und seiner Verehrung dem Tonmeister zu:

 

»Dem edlen Künstler, der, umgeben von dem Baalsdienste einer falschen Kunst, durch Genius und Studium vermocht hat, den Dienst der wahren Kunst wie ein anderer Elias treu zu bewahren und unser Ohr aus dem Taumel eines gedankenlosen Töne-Getändels wieder an den reinen Ton nachahmender Empfindung und gesetzmäßiger Harmonie zu gewöhnen, dem großen Meister, der alles sanfte Gesäusel, wie allen mächtigen Sturm der Elemente an dem ruhigen Faden seines Gedankens vor uns aufrollt – zur dankbaren Erinnerung geschrieben von

Buckingham-Palace. Albert.«

 

Mendelssohn hatte sich im Jahre 1836 mit der jüngsten Tochter eines reformirten Pfarrers, Jeanrenaud, vermählt, und eine höchst glückliche Wahl getroffen. Aber wer hätte geahnt, daß der Tod dieses zarte Band so früh lösen sollte! Die allzusehr in Anspruch genommenen Nerven des Künstlers konnten auf die Dauer nicht mehr den Dienst leisten. Als er am 18. September 1846 wieder in Leipzig anlangte, äußerte er: »es drücke ihn die leipziger Luft«; im folgenden Monat ward er von einem ohnmachtähnlichen Schwindel überfallen – es war der Vorbote eines Nervenschlags, der dem theuren Leben am 4. November ein Ende machte.

Die Trauer über den Verlust des geliebten Mannes war im Anfang grenzenlos. Es schien, als habe die Stadt ein allgemeines Unglück betroffen. Hunderte von Leidtragenden drängten sich nach der Wohnung, um die geliebten Züge noch einmal zu sehen und Palmenzweige und Lorbeerkränze in seine letzte Schlummerstätte mitzugeben. Die Todtenfeier fand am 7. November Nachmittags 4 Uhr in der erleuchteten Paulinerkirche statt. Vier schwarzverhüllte Rosse zogen den reichgeschmückten Sarg; die Enden des Bahrtuchs trugen seine Freunde und Kunstgenossen Robert Schumann, David, Gade, Hauptmann, Rietz und Moscheles. Vor dem Sarge gingen die männlichen Zöglinge des Konservatoriums; unmittelbar hinter ihm die nächsten Verwandten, dann die Geistlichen, die Regierungsbehörden und ein unabsehbarer Zug der Freunde und Verehrer des Verewigten, unter dem Klange der Stadt- und Militärmusik. Moscheles hatte dazu das Lied ohne Worte in E-moll aus Mendelssohns fünftem Hefte für Blechinstrumente gesetzt. In der Kirche angekommen, wurde der Sarg auf einen schwarz verhüllten Katafalk gestellt, während auf der Orgel ein Präludium aus Antigone – die Stelle, wo Kreon den Leichnam seines Sohnes Hämon hereinträgt – ertönte. Ein Zögling des Konservatoriums legte einen silbernen Lorbeerkranz zu des Meisters Füßen nieder, und der Chor sang das Lied: »Erkenne mich, mein Guter«, in welches die ganze Versammlung einfiel. Dann folgte der von Mendelssohn selbst so herrlich gesetzte Choral aus Paulus: »Dir, Herr, dir will ich mich ergeben«, worauf Prediger Howard dem Entschlafenen eine schlichte, aber würdige Gedächtnißrede hielt, und mit einem erhebenden Gebete schloß. Nun erklang wieder vom Chor herab unter Instrumentalbegleitung einer der schönsten Chöre aus Paulus, nämlich der, welcher nach dem Begräbniß des Stephanus eintritt: »Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben«, und nachdem der Segen über die entschlafene Hülle gesprochen war, ertönte der Schlußchor aus der Passionsmusik: »Wir setzen uns mit Thränen nieder und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanfte, sanfte ruh.«

Als die ganze Versammlung die Kirche verlassen hatte, trat noch eine edle Gestalt in tiefer Trauer ein, kniete am Sarge nieder und betete. Sie war es, die dem Gatten das letzte Opfer der Liebe brachte. – Der Sarg aber mit seinem kostbaren Inhalt wurde noch in derselben Nacht mit einem Extrazug nach Berlin abgeführt.


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